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# taz.de -- Geberkonferenz für Hilfe: Ist Syrien schon zu helfen?
> Das Land ist zerstört und eine Wirtschaftskrise sorgt für Hunger. Eine
> Geberkonferenz soll Abhilfe schaffen.
Bild: Wird ihr Land wieder aufgebaut? Eine syrische Geflüchtete in einem Camp …
Berlin taz | Omar war zehn Monate alt, als er fast alles verlor. Ein
Luftangriff auf die damals von Rebellen gehaltene syrische Stadt Chan
Scheichun riss seinen Vater in den Tod, verletzte die Mutter schwer und
kostete ihn selbst das linke Bein. Vier Jahre später hat Omar laufen
gelernt – auf zwei Beinen. In einem Physiotherapiezentrum nahe der Türkei
nahm man seine Maße für eine Prothese, erinnert sich sein Opa. Heute würde
er sogar Ball spielen mit den Nachbarskindern, erzählt Omar.
Diese Erfolgsgeschichte wurde per Kurzvideo im Rahmen einer virtuellen
Geberkonferenz [1][präsentiert], zu der EU und UNO für Dienstag geladen
hatten, um humanitäre Hilfe für die Menschen in Syrien und syrische
Flüchtlinge in Nachbarländern zu mobilisieren. Die EU sagte für dieses und
kommendes Jahr 2,3 Milliarden Euro zu, Deutschland rund 1,6 Milliarden.
Ohne europäisches Geld wäre Omar vermutlich noch heute einbeinig. Doch das
Positivbeispiel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa in Syrien
gescheitert ist. Die EU konnte den Krieg nicht in ihrem Sinne beeinflussen,
geschweige denn beenden. Jeglichen Einfluss in dem Mittelmeerland hat die
EU verspielt und stattdessen Türkei, Iran und Russland das Feld überlassen.
Was bleibt, ist humanitäre Hilfe, um zumindest das allergrößte Leid zu
lindern.
Die Nothilfe, die über internationale Hilfswerke fließt, ist aktuell so
notwendig wie kaum je zuvor. Im zehnten Jahr des Syrienkonflikts ist das
Land zerstört, Krankenhäuser und Schulen sind zerbombt – und neuerdings
sorgt auch noch eine schwere Wirtschaftskrise für Hunger. Das
UN-Welternährungsprogramm (WFP) [2][schätzt], dass mittlerweile 9,3
Millionen SyrerInnen nicht mehr genug zu essen haben – eine Zunahme um fast
eineinhalb Millionen seit Jahresbeginn.
## Lebensmittelpreise gehen durch die Decke
„Wir stehen vor einem großen Wirtschaftskollaps“, sagt ein syrischer
Nahrungsmittelgroßhändler in Damaskus, der aus Angst vor Repressalien
seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Die taz sprach mit ihm über
Telegram. Auch er habe aufgrund der Wirtschaftskrise erhebliche
wirtschaftliche Einbußen erfahren, sagt er.
Das syrische Pfund hat jüngst massiv an Wert verloren. Auf dem Schwarzmarkt
ist es im Juni auf ein Rekordtief von 3.500 Pfund pro US-Dollar gefallen.
Noch zu Jahresbeginn hatte der Wechselkurs bei 700 Pfund gelegen, in
Vorkriegszeiten bei nur 47 Pfund. Der Krieg hat Syrien zerstört, die
[3][Coronapandemie] und neue US-Sanktionen verschärfen die Lage noch. Auch
die Bankenkrise im benachbarten Libanon zieht Syriens Wirtschaft mit ins
Verderben, da syrische Unternehmen bislang libanesische Banken als sicheren
Hafen für ihre Gelder nutzten.
Für die Menschen in Syrien bedeutet die Krise vor allem, dass Lebensmittel
immer teurer werden. Fleisch sei für viele nicht mehr selbstverständlich,
erzählt der Großhändler aus Damaskus. Eine Apothekerin aus Damaskus
berichtet der taz über WhatsApp, dass sich auch die Preise für Medikamente
innerhalb eines halben Jahres verfünffacht hätten. Viele könnten sich
Medikamente schlicht nicht mehr leisten.
Die angespannte Wirtschaftslage hat zuletzt sogar zu einem öffentlich
ausgetragenen Streit innerhalb des Regimes von Machthaber Baschar al-Assad
geführt. Die syrischen Behörden hatten das Guthaben des milliardenschweren
Unternehmers Rami Machluf beschlagnahmt, eines Cousins Assads, der sich
daraufhin auf Facebook zur Wehr setzte und den Präsidenten öffentlich
angriff. Im Süden des Landes führte die Lage sogar zu offenen Protesten.
Wie zu Beginn des Konflikts im Jahr 2011 waren wieder Slogans zu hören wie:
„Wir wollen Würde“ oder „Dieses Land gehört uns, nicht Assad“.
## Thinktanks fordern Umdenken in Europa
„Wir brauchen dringend eine politische Lösung, um die wirtschaftliche Not
zu lindern“, sagt der Lebensmittelgroßhändler. Doch die ist nicht in Sicht:
Auch wenn das Regime rund zwei Drittel des Staatsgebiets zurückerobert hat,
ist Syrien von einer gesellschaftlichen Aussöhnung weit entfernt. Zudem
hält die Türkei große Gebiete im Norden besetzt; im Nordosten haben
kurdische Kräfte eine Selbstverwaltung aufgebaut.
Während die politische Zukunft zwischen Ankara, Moskau und Damaskus
ausgehandelt wird, ist die EU zum Zaungast geworden. Vor diesem Hintergrund
werden in Europa Stimmen laut, die ein Umdenken fordern. Europa müsse sich
endlich „eingestehen, dass die Europäer [...] nicht herbeiführen können,
was Damaskus und seine Verbündeten militärisch abgeschmettert haben“,
[4][heißt es in einer Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik
(SWP)], die die Bundesregierung berät. Will heißen: Der Krieg ist mit der
Waffe entschieden, die erhoffte verhandelte Konfliktlösung bleibt ein
Wunschtraum.
Ähnlich [5][äußerte] sich Julien Barnes-Dacey von European Council on
Foreign Relations: Europa müsse anfangen, „eine konstruktive Agenda zu
gestalten“, schreibt er, „weg von einer kontraproduktiven Kampagne, die
darauf abzielt, das Regime in die Knie zu zwingen, und hin zu einer, die
anerkennt, dass ein politischer Übergang nicht in Sicht ist“. Die SWP
stellt einen begrenzten Einstieg in den Wiederaufbau zur Debatte, etwa bei
der Instandsetzung von Krankenhäusern, Schulen, Wasser- oder
Elektrizitätswerken.
Doch was kann Europa in solchen Bereichen tun, ohne dabei mit Syriens Staat
zu kooperieren und damit das Assad-Regime zu stützen? Eine Wiederannäherung
an Assad-Syrien scheint jedoch vor allem für Osteuropa nicht mehr gänzlich
ausgeschlossen. Ungarn erwägt sogar, die Botschaft in Damaskus
wiederzueröffnen.
Offizielle EU-Linie aber bleibt: kein Wiederaufbau, nur humanitäre Hilfe.
Mit den am Dienstag zugesagten Geldern sollen deshalb Geflüchtete in
Syriens Nachbarländern unterstützt werden. In Syrien selbst können weiter
Nahrungsmittel, Kochsets, Decken und Kleidung bereitgestellt werden. Auch
der Bedarf an Beinprothesen wird nicht abreißen: Rund 86.000 Menschen haben
in dem Krieg ein Bein verloren, ein Drittel davon Kinder wie Omar.
30 Jun 2020
## LINKS
[1] https://webcast.ec.europa.eu/immediate-needs-in-the-response-to-the-humanit…
[2] https://www.wfp.org/countries/syrian-arab-republic
[3] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
[4] /Politologin-ueber-syrische-Regierung/!5692056
[5] https://www.tagesspiegel.de/politik/wandel-in-syrien-warum-europa-nicht-der…
## AUTOREN
Rama Aldarwish
Jannis Hagmann
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