# taz.de -- Verurteilung von Kirill Serebrennikow: Der Auftrag, Angst zu säen | |
> Der Regisseur Kirill Serebrennikov wird zu drei Jahren auf Bewährung | |
> verurteilt, in Moskau interpretiert man das als Drohung. Unterstützer | |
> protestieren. | |
Bild: Kirill Serebrennikow machte zu Beginn der Gerichtsverhandlung eine Zen-Ge… | |
„Ich wurde in einer Zeit geboren, in der man in unserem Land Künstler wie | |
den großen Theatermacher Wsewolod Meyerhold zum Tode verurteilte“, | |
berichtet Lija Achedschakowa, 81, in ihrem Solidaritätsvideo für den | |
Intendanten des [1][Moskauer Gogol-Centers Kirill Serebrennikow.] Sie ist | |
nicht die Einzige, die im Gerichtsverfahren gegen Serebrennikow Parallelen | |
zu den Schauprozessen der Stalin-Zeit entdeckt. Die berühmte Schauspielerin | |
fragt: „Was geht im Justizapparat vor?“ | |
Seit drei Jahren wird dem Regisseur und drei weiteren an dem | |
interdisziplinären Kunstprojekt „Platforma“ Beteiligten der Prozess | |
gemacht. Von 2011 bis 2014 wurden für „Platforma“ 216 Millionen Rubel (2,7 | |
Mio. Euro) staatlicher Fördergelder bewilligt. Den vier Angeklagten wird | |
nun die Veruntreuung von 129 Millionen Rubel (1,6 Mio. Euro) vorgeworfen: | |
Sofja Apfelbaum war in diesem Zeitraum als Mitarbeiterin des | |
Kulturministeriums zuständig für die Vertragsmodalitäten mit der | |
gemeinnützigen Organisation „Siebtes Studio“, die „Platforma“ organisi… | |
Alexej Malobrodski und Juri Itin hatten Leitungspositionen im „Siebten | |
Studio“. Serebrennikow fungierte als künstlerischer Leiter von „Platforma�… | |
Serebrennikow stand seit dem 23. 8. 2017 immer wieder unter Hausarrest, hat | |
[2][von dort aus aber weiter an Inszenierungen] gearbeitet. Die | |
Gerichtsverhandlungen begannen im Oktober 2018 am Meschanski-Amtsgericht in | |
Moskau. Das Gericht fand heraus, dass in den drei Jahren der Existenz von | |
„Platforma“ 340 Veranstaltungen stattgefunden haben. Es wurde auch | |
bewiesen, dass die Buchhaltung schlampig geführt wurde und Künstlergagen | |
oft bar ausgezahlt wurden. | |
Im Zuge des Prozesses forderte das Gericht dreimal Expertenmeinungen an: | |
Die erste untermauerte die Anklage. Nachdem ihre Richtigkeit von den | |
Verteidigern angezweifelt wurde, forderte das Gericht eine zweite | |
Expertise. Nun weitete sich der Prozess aus, es ging nicht mehr allein um | |
Unterschlagung von Steuergeldern, sondern um den künstlerischen Wert des | |
Projekts an sich. | |
## Richterin benannte eigenmächtig „Experten“ | |
Im Herbst 2019 bezeugten zwei renommierte Fachleute „Platforma“ und seinem | |
künstlerischen Leiter eine ausgezeichnete Arbeit. Im Januar 2020 wurde | |
diese Expertise vom Gericht verworfen. Sie wird nicht einmal in den Akten | |
des „Theatergalls“ (so wird der Prozess in der Öffentlichkeit genannt) | |
vermerkt. Die Richterin forderte nun eine dritte Expertenmeinung an und | |
benannte die „Experten“ selbst. Anfang Juni 2020 lag dem Gericht ein | |
Dossier vor, das „Platforma“ künstlerische Beliebigkeit und aus diesem | |
Grund Veruntreuung von Subventionen vorwirft. | |
Im Laufe des Prozesses sind besonders vonseiten der Anklage, dem | |
Kulturministerium der Russischen Föderation, viele Zeugen vernommen worden. | |
Nicht wenige von ihnen berichteten vor Gericht über massive | |
Einschüchterungen während ihrer Zeugenaussage im Vorfeld der | |
Gerichtsverhandlung. Oft geben die dortigen Protokolle ihre Aussagen nicht | |
wahrheitsgetreu wieder. | |
## Sechs Jahre Haft gefordert | |
Am 22. Juni forderte der Staatsanwalt für Kirill Serebrennikow 6 Jahre | |
Haft, Geldstrafe: 800.000 Rubel (ca. 10.000 Euro) und drei Jahre | |
Berufsverbot. Der Schauspieler Benjamin Smechow kommentiert: „Der Auftrag, | |
Angst zu säen unter den Kulturschaffenden, wird ausgeführt.“ Am selben Tag | |
unterschrieben über 3.000 russische Theaterschaffende einen offenen Brief, | |
der für alle vier Angeklagten den Freispruch fordert. Hier wird einem | |
Künstler wegen seiner Kunst der Prozess gemacht, sind sich die | |
UnterzeichnerInnen einig und auch die, die am letzten Gerichtstag vor dem | |
Haus protestierten. | |
Die Härte der beantragten Strafe löste Entsetzen aus, auch international. | |
Das richte sich gegen das ganze kulturelle Leben Russlands, bringt es der | |
Regisseur Lew Dodin auf den Punkt. Am Freitag hat das Gericht Kirill | |
Serebrennikow schuldig gesprochen und als Kopf einer „kriminellen | |
Vereinigung“ bezeichnet. Das Strafmaß wurde einige Stunden später | |
verkündet, drei Jahre auf Bewährung. Außerdem verhängte das Gericht ein | |
Verbot gegen ihn, weiter als Theaterdirektor zu arbeiten. | |
Nachtrag: Das Gericht stellte am Freitagabend klar, dass Serebrennikow | |
weiter als Direktor des Zentrums arbeiten dürfe. Ein Verbot von | |
administrativen und organisatorischen Funktionen in Kultureinrichtungen sei | |
nicht ausgesprochen worden, hieß es. | |
26 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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