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# taz.de -- Bob Dylans neues Album: Korridor mit tausend Türen
> Die Sphinx spricht: Bob Dylan findet auf seinem neuen Album, „Rough and
> Rowdy Ways“, zur Misere der USA interessante historische Analogien.
Bild: „Was weißt du über das Sand-Creek-Massaker von 1864?“ Dylan auf ein…
Mit „Rough and Rowdy Ways“ veröffentlichte Bob Dylan sein 39. Studioalbum,
das erste mit eigenen Songs [1][seit „Tempest“ vor acht Jahren]. Es
erscheint eine Unmenge an Rezensionen – und wie immer: Die Schreibenden
versuchen, das neue Werk zu durchdringen, zu ergründen, was der Künstler
sagen will. Aber auch diese Schatzkiste mit ihrem funkelnden Inhalt nur
kognitiv erfassen zu wollen geht an Dylans Kunst vorbei. Weit vorbei.
Meine Freundin Christl gehört wie Bob Dylan zur unmittelbaren
Nachkriegsgeneration. Sie lebt seit mehr als 70 Jahren in der
ostbayerischen Oberpfalz, spricht kein Englisch und ist einer der größten
Dylan-Fans (dort sagt man „Dülln“), die ich kenne. Als ich mit neun Jahren
mit dem Radio unter der Bettdecke Dylan-Fan wurde, verstand auch ich noch
kein Englisch. Aber ich verstand Dylan.
Denn es gibt kein gutes Lied mit einem schlechten Text. „I can’t sing a
song that I don’t understand“, heißt es in dem neuen Song „Goodbye Jimmy
Reed“. 12Bar Blues, großartige Performance von Bob und seiner Touringband.
Aber warum ausgerechnet Jimmy Reed? Natürlich, Reed spielte Gitarre und
Mundharmonika gleichzeitig. Die Harmonika festgezurrt an einem Gestell um
seinen Hals. Ja, klar. Soll das ein Selbstgespräch sein? Und vor allem
warum jetzt im Jahr 2020? Aber lassen wir das.
„I can’t sing a song that I don’t understand.“
Dass Dylan den Song versteht, merkt man definitiv beim fantastischen „Key
West“. Eine gesangliche Meisterleistung, mit der seine Fans vor jedem
Gericht der Welt beweisen können, dass er nicht nur der größte Songwriter,
sondern eben auch der größte Sänger der letzten hundert Jahre ist.
## Jubelnd durchdrehen
Seit 39 Jahren besuche ich [2][Konzerte von Bob Dylan]. Ich höre die neuen
Lieder und stelle sie mir in Liveversionen vor. Auf welche Songs freue ich
mich, vor welchen hab ich Angst? Bei „Key West“ wird Christl strahlen, ich
werde jubelnd durchdrehen – bei „Crossing the Rubicon“ eher das Bier holen
gehen.
Das neue Album ist Dylans lohnendstes Werk mindestens seit „Love and Theft“
von 2001. Dazwischen gab es insgesamt sieben Alben, drei mit
Originalmaterial, aber auch die hundert Folgen der „Theme Time Radio Hour“.
Diese Radiosendungen (immer noch nachzuhören im Internet) waren wie Dylans
Musik ein Korridor mit tausend Türen.
„Was weißt du über das Sand-Creek-Massaker von 1864?“, fragte Dylan zum
Beispiel einen Interviewer. Die Thematik ist sowohl mir als auch dem
Interviewer Douglas Brinkley entfernt geläufig. Damals wurden Hunderte
Cheyenne und Arapahoe-Indianer von US-Truppen in Colorado abgeschlachtet.
Mit Dylan geht man auf Erkundungstour. In Büchern, im Internet, in Filmen,
aber auch in seinen Songs.
## Interview in der New York Times
Und es ist bestimmt kein Zufall, dass im Zusammenhang mit „Rough and Rowdy
Ways“ die Rede gerade auf dieses Massaker kommt. Das Album atmet tiefe
Endzeitstimmung. Aber, ich möchte fast sagen, auf eine beruhigende Weise.
Irre, oder?
Anlässlich des neuen Albums hat Dylan der New York Times, genauer gesagt
jenem Douglas Brinkley, letztes Wochenende ein Interview gegeben. Die
Sphinx spricht. Das ist schon mal an sich bemerkenswert – und Dylans sehr
direkte Antworten auf Brinkleys Fragen setzen die Songs des Albums dann
auch in einen Kontext zum Zeitgeschehen. Eigentlich unglaublich, wenn man
sich seine jahrzehntelangen Katz-und-Maus-Spiele mit den
Musikjournalist*innen, die bestens dokumentiert sind, vor Augen hält.
„Something is happening, but you don’t know what it is, do you, Mr. Jones?�…
Dabei wäre es so einfach: Einen Schritt zurücktreten bitte, sagt er im
Interview, und wie bei einem Gemälde das Ganze ins Blickfeld nehmen.
## Der falsche Prophet
„I ain’t no false prophet“, heißt es auf dem neuen Album. Ist das Zufall
oder Absicht? Da fällt mir doch gleich wieder die Oberpfalz ein: Der
ehemalige Regensburger Theologieprofessor Josef Ratzinger – der spätere
Papst Benedikt – erklärte in seinem Buch „Johannes Paul II. – Mein
geliebter Vorgänger“, dass er 1997 vergeblich versucht habe, den Auftritt
von Dylan beim Kirchentag in Bologna zu verhindern, und nannte den Sänger
einen falschen Propheten. Würde mich wundern, wenn das Mr. Bob nicht
bekannt wäre.
Bob Dylan ist Akteur und Chronist zugleich. Einer der Chronisten freilich,
die alles durcheinanderwerfen, um es neu zusammenzusetzen. Zeitgeschichte
ist Pop-Historie, und in „Murder Most Foul“, dem Zehnten, dem Finale des
neuen Albums, spürt man in jeder gesungenen Zeile die ungebrochene Freude
an der eigenen Schaffenskraft des 79-jährigen Rockstars. Vor zwei Monaten
hat er das Lied vorab mitten in die Pandemie platzen lassen: die Geschichte
der 1960er Jahre – von Präsident Kennedys Ermordung bis zum
Woodstock-Festival. „Murder Most Foul“ dauert 17 Minuten, und doch ist es
der Song, der bei jedem Hören zu schnell vorbeigeht und einen die
Repeat-Taste drücken lässt.
Im Times-Interview spricht er über den Ozean am Point Dume, über die
Pandemie, über die eingeengte Weltsicht seiner eigenen Generation und über
George Floyd: „Lasst uns hoffen, dass die Familie von George Floyd und
unsere ganze Nation so schnell wie möglich Gerechtigkeit erfahren wird.“
Der Meister der Andeutung äußert sich sehr deutlich.
## Nur nicht festnageln lassen
Sonst spricht und textet er immer noch getreu dem Credo: Nur nicht
festnageln lassen. Ja, das hat ihn rückblickend vor manchen Peinlichkeiten
bewahrt und hat so viele seiner Kompositionen gerade deshalb zu Liedern für
die Ewigkeit gemacht. Das einzige Thema, bei dem Dylan auch in seinen Songs
immer glasklar formulierte, egal ob es um „Medgar Evers“, „The Ballad of
Emmett Till“, „The Lonesome Death of Hattie Carroll“, „George Jackson�…
in seinem grandiosen Südstaaten-Epos von 1983 um „Blind Willie McTell“
ging, das war der Rassismus der Weißen gegenüber den Schwarzen in den USA.
„And he’s taught how to walk in a pack / Shoot in the back with his fist in
a clinch. / To hang and to lynch. / With his head ’neath his hood. / To
kill with no pain. / Like dog on a chain. / He ain’t got no name / He’s
only a pawn in their game.“
Diese Zeilen schrieb einst der 22-jährige Dylan und lieferte damit die bis
heute grausam und präzise gültige Beschreibung der rassistischen
Sozialisation in einem rassistischen System.
## Polizei- und Justizwillkür
Und 1975 zuckten auch die Leiber der deutschen Jugendlichen in den
Dorfdiscos achteinhalb Minuten lang zu Dylans Kreuzweggeschichte über den
schwarzen Mittelgewichtsboxer [3][Rubin „Hurricane“ Carter.] Polizei- und
Justizwillkür, Vorurteile und Vorverurteilung. Daran hat sich nichts
geändert. Goddamn!
„Es hat mich ohne Ende krank gemacht, zu sehen, wie George zu Tode gequält
wurde“, gestand Dylan in seinem Interview mit der New York Times. „The
Lonesome Death of George P. Floyd“, ich denke, wir werden noch so ungefähr
sieben, acht Jahre auf diesen neuen Dylan-Song warten müssen. Aber er wird
beeindruckend sein.
PS: Innen im Klappcover findet sich ein Foto von Jimmie Rodgers und der
Carter Family aus den 1930er Jahren. Und Sara Carter ist es auch, die nach
meiner Meinung die Einzige wäre, die Dylan die Position als „greatest
Singer of the last 100 years“ streitig machen könnte. Soll das ein Zufall
sein?
Erhard Grundl ist kulturpolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion.
19 Jun 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Erhard Grundl
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