| # taz.de -- Mordprozess im Fall Lübcke: Gegen den Hass | |
| > Vor gut einem Jahr wurde CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet, am | |
| > Dienstag beginnt der Prozess. Der Versuch einer Rekonstruktion. | |
| Am Dienstag werden sie sich gegenübersitzen. Im Saal 165 des | |
| Oberlandesgerichts Frankfurt am Main. Auf der einen Seite Irmgard | |
| Braun-Lübcke, Christoph und Jan-Hendrik Lübcke und Ahmad E. Auf der anderen | |
| Seite: Stephan Ernst und Markus H. Es wird eine erste direkte Begegnung. | |
| Und für die Lübckes und Ahmad E. eine wohl kaum erträgliche. | |
| Denn Stephan Ernst, ein 46-jähriger Rechtsextremist, soll vor gut einem | |
| Jahr Walter Lübcke erschossen haben. Den Ehemann von Irmgard Braun-Lübcke, | |
| den Vater von Christoph und Jan-Hendrik Lübcke, den Kasseler | |
| Regierungspräsidenten und CDU-Politiker. Die Tat geschah vor dessen Haus im | |
| hessischen Wolfhagen-Istha, einem 850-Einwohner-Dorf, in der Nacht zum 2. | |
| Juni 2019. Markus H. soll ihn in seinem Mordplan bestärkt haben. | |
| Der Mord war ein Fanal: Erstmals im Nachkriegsdeutschland wurde ein | |
| Politiker offenbar von einem Rechtsextremisten erschossen. Bereits Monate | |
| zuvor soll Ernst zudem Ahmad E., einen irakischen Asylsuchenden, | |
| niedergestochen haben. E. wurde dabei schwer verletzt. | |
| „Wir wollen den angeklagten mutmaßlichen Tätern in die Augen sehen, auch | |
| wenn wir wissen, dass dies sicher mit schweren emotionalen Belastungen | |
| einhergeht“, erklärte die Lübcke-Familie vor dem Prozess öffentlich. „Au… | |
| das sind wir meinem Ehemann und unserem Vater schuldig, den wir aufs | |
| Schmerzlichste vermissen.“ | |
| Dies war eine der raren Stellungnahmen der Lübckes. Nach dem Mord zog sich | |
| die Familie aus der Öffentlichkeit zurück, bat Medien um Abstand. Die | |
| Söhne, Anfang dreißig, gehen ihrer Arbeit als Geschäftsführer einer | |
| Solarenergiefirma nach. Irmgard Braun-Lübcke ist pensionierte | |
| Abteilungsleiterin einer Berufsfachschule. Bis heute steht vor ihrem Haus | |
| regelmäßig ein Polizeiwagen zum Schutz. Nichts könne den Schmerz über den | |
| Tod ihres Mannes und Vaters nehmen, schreibt die Familie. „Die Wunde wird | |
| sicher nie wirklich vernarben.“ | |
| ## Ein politischer Kampf | |
| Aber so zurückgezogen, wie es scheint, ist die Familie nicht. Denn auch sie | |
| führt inzwischen einen politischen Kampf. Einen gegen den Hass. Einen, der | |
| das Engagement ihres Ehemanns und Vaters fortführt. | |
| Vor knapp zwei Wochen standen Irmgard Braun-Lübcke, Christoph und | |
| Jan-Hendrik Lübcke vor einem schlichten hellen Holzkreuz auf dem Friedhof | |
| in Istha, am Grab von Walter Lübcke. Es war der erste Jahrestag der | |
| Ermordung, das Dorf hatte eine Gedenkfeier organisiert, nur für sich, ohne | |
| Medien. Vereinsmitglieder waren gekommen, Ortsbeiräte, der Posaunenchor, | |
| rund 50 Menschen. Pfarrer Wolfgang Hanske hielt eine Ansprache, die Sonne | |
| schien. Am Nachmittag kam auch Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier zu | |
| dem Grab. | |
| Hanske, im Ort seit gut 30 Jahren evangelischer Pfarrer, berichtet, wie | |
| „absolut präsent“ der Mord an Walter Lübcke weiter in Istha ist. Der | |
| 65-Jährige sei „sehr nahbar“ gewesen, immer zu einem Plausch aufgelegt, nie | |
| abgehoben. Freunde beschreiben Lübcke als Mann mit klaren Grundsätzen, | |
| festem Glauben und Witz. Einer, der die Menschen mochte. Der sich bis | |
| zuletzt „der Junge vom Dorf“ nannte. Obwohl er auch promovierter Ökonom | |
| war, zehn Jahre Landtagsabgeordneter, danach Regierungspräsident. | |
| Hanske betreut die Lübckes bis heute als Seelsorger, sie sind fester Teil | |
| seiner Gemeinde. Über diese Arbeit spricht der Pfarrer nicht. Wenn man | |
| seine Sinne zusammennimmt, sagt er, könne man sich aber ausmalen, wie es | |
| einer Familie gehe, deren Ehemann und Vater nicht eine Krankheit oder das | |
| Alter aus dem Leben riss, sondern der Hass eines Fremden. | |
| Die Familie Lübcke selbst äußerte sich an dem Gedenktag nicht öffentlich. | |
| Anders als noch vor einem Jahr. Wenige Tage nach dem Mord, beim | |
| Trauergottesdienst in der Kasseler Martinskirche, trat überraschend | |
| Christoph Lübcke nach vorn. Im Protokoll war dies nicht notiert. Der ältere | |
| der Söhne sprach direkt neben dem Sarg, die Tat war damals noch | |
| unaufgeklärt, ganz still war es da in der Kirche. | |
| ## „Lieber Papa“ | |
| „Lieber Papa“, sagte Christoph Lübcke mit brüchiger Stimme. Man habe doch | |
| noch so viele gemeinsame Pläne gehabt. „Deine Enkel wirst du nicht, wie | |
| uns, zur Schule fahren. Und nicht dein Leibgericht, deine berühmte | |
| Schweinepampe, für sie kochen.“ Christoph Lübcke dankte seinem Vater für | |
| die „große Liebe“ und die Ideale, die er ihnen vermittelt habe. „Wir wer… | |
| deinen Enkeln von ihrem Opa immer wieder erzählen.“ | |
| Es gab noch einen zweiten Auftritt, ein halbes Jahr später, im Wiesbadener | |
| Kurhaus. Dort wurde Walter Lübcke posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille | |
| verliehen, die höchste Ehrung Hessens. Nun sprach Jan-Hendrik Lübcke. Er | |
| war es, der seinen Vater damals erschossen im Gartenstuhl auf der Terrasse | |
| fand. | |
| Immer wieder stockte ihm die Stimme, aber unter die Trauer mischte sich | |
| auch ein politischer Appell. Denn der Sohn erinnerte an die christlichen | |
| Werte seines Vaters, dessen freiheitliche Überzeugung und daran, dass er | |
| „ein Mann des klaren Wortes“ war. So auch im Oktober 2015, als Walter | |
| Lübcke auf einer Bürgerversammlung in Kassel-Lohfelden für die | |
| Unterbringung von Geflüchteten warb. Ein Einsatz, der ihn das Leben | |
| kostete. „Ein feiger, hinterhältiger Mord“, sagte Jan-Hendrik Lübcke. | |
| Umso schwerer falle es seiner Familie zu sehen, „wie der Extremismus wieder | |
| Raum in Deutschland findet und die Extremisten ihr verirrtes Denken | |
| ungeschönt in die Öffentlichkeit grölen“, fuhr der Sohn fort. „Im Sinne | |
| unseres Vaters ist es unser aller Auftrag, diesem schrecklichen Ungeist | |
| entgegenzuwirken. Die Unkultur der Hetze und Diffamierung darf sich nicht | |
| verfestigen.“ Im Saal brandete Applaus auf. | |
| Es ist dieser Ungeist, über den ab Dienstag nun vor dem Oberlandesgericht | |
| Frankfurt am Main verhandelt wird. Es wird ein Großprozess mit | |
| internationaler Beachtung. Sechzig Medienplätze hält das Gericht vor. Im | |
| Saal werden Richter, Anwälte und Zuschauer wegen der Coronapandemie mit | |
| Plexiglasscheiben voneinander getrennt. Um hineinzukommen, werden sich | |
| BesucherInnen schon sehr früh vor dem Eingangsportal anstellen müssen, | |
| unterhalb der Inschrift „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. | |
| ## Verteidiger mit Krawallpotenzial | |
| Wie würdevoll es drinnen zugehen wird, ist unklar. Die Verteidiger | |
| jedenfalls haben Krawallpotenzial. Frank Hannig, der Anwalt von Stephan | |
| Ernst, ist einschlägig bekannt: Der Dresdner gilt als pegidanah, trat dort | |
| mal als Redner auf. Schon vor dem Prozess suchte er die Öffentlichkeit, lud | |
| zu einer Pressekonferenz, veröffentlicht regelmäßig Videostatements zum | |
| Fall. „Die Wahrheit ist vielleicht deutlich komplizierter“, raunt Hannig | |
| dort. „Es wird ein langer Prozess.“ | |
| An die Seite geholt hat er sich ausgerechnet den NSU-Nebenklageanwalt | |
| Mustafa Kaplan. Jeder Angeklagte habe Anspruch auf eine bestmögliche | |
| Verteidigung, sagt Kaplan dazu. „Wäre es nicht heuchlerisch, | |
| rechtsstaatliche Verfahren nur für Angeklagte einzufordern, denen man sich | |
| vielleicht politisch nahe fühlt?“ Und Kaplan kündigt an, dass sich Ernst im | |
| Prozess – anders als noch vor den Ermittlern – „zunächst schweigend | |
| verteidigen wird“. | |
| Die Verteidiger von Markus H. kommen dagegen direkt aus der rechten Szene. | |
| Der Düsseldorfer Björn Clemens war früher bei den Republikanern aktiv. Die | |
| Baden-Württembergerin Nicole Schneiders war bei der NPD und vertrat zuletzt | |
| den NSU-Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben. Clemens sagt, für eine | |
| Tatbeteiligung seines Mandanten gebe es keine Beweise, das Verfahren sei | |
| politisch aufgeladen. Nach bisheriger Aktenlage könne es nur einen | |
| Freispruch geben. | |
| Der Frankfurter Holger Matt, der Anwalt der Lübckes, die als Nebenkläger am | |
| Prozess teilnehmen, sagt, er sei auf alles vorbereitet. Es gehe der Familie | |
| Lübcke in dem Prozess um die Aufklärung des Verbrechens und die | |
| Verurteilung der schuldigen Täter und Beteiligten. Matt spricht von einem | |
| „kaltblütig geplanten, heimtückisch begangenen Mord“. Und er nennt auch e… | |
| symbolisches Ziel der Nebenklage: ein „aufrechtes Eintreten für den | |
| Rechtsstaat“. So, wie es Walter Lübcke getan habe. | |
| ## Die Tat schien aufgeklärt | |
| Zwei Wochen hatte es im Juni 2019 gedauert, bis die Ermittler auf Stephan | |
| Ernst stießen – sie hatten zwei DNA-Spuren von ihm auf dem Hemd des | |
| getöteten Walter Lübcke gefunden. Dann ging alles ganz schnell. Ernst, | |
| gelernter Industriemechaniker und seit Jugendtagen Rechtsextremist, gestand | |
| die Tat und führte die Ermittler zu der Tatwaffe, einem Rossi-Revolver, den | |
| er mit sechs weiteren Pistolen und Gewehren sowie 1.402 Schuss Munition in | |
| einem Erddepot bei seinem Arbeitgeber, einem Kasseler | |
| Bahntechnikhersteller, vergraben hatte. | |
| Und er benannte zwei Helfer: den Verkäufer des Rossi-Revolvers, ein | |
| Trödelhändler aus NRW, und seinen Freund Markus H., ein Zeitarbeiter, | |
| ebenfalls Rechtsextremist aus Kassel, 44 Jahre. Die Tat schien aufgeklärt. | |
| Auch ein Motiv nannte Ernst den Ermittlern in seinem vierstündigen | |
| Geständnis: der Auftritt von Walter Lübcke auf der Bürgerversammlung in | |
| Lohfelden. Für den CDU-Mann war es eine Versammlung von vielen. Tausende | |
| Geflüchtete kamen damals täglich nach Deutschland, als Regierungspräsident | |
| ließ Lübcke im Raum Kassel 24 Aufnahmeeinrichtungen errichten, teils gegen | |
| Proteste. Er schickte keine Mitarbeiter vor, er informierte selbst. | |
| In Lohfelden aber waren Rechte auf Stunk aus. Anhänger des Kasseler | |
| Pegida-Ablegers störten mit Zwischenrufen. Ganz hinten saß auch Stephan | |
| Ernst, der in Lohfelden wohnt, neben ihm Markus H., der mit seinem Handy | |
| filmte. Irgendwann reichte es Walter Lübcke. „Es lohnt sich, in unserem | |
| Land zu leben“, rief der CDU-Mann. „Und da muss man für Werte eintreten, | |
| und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land | |
| verlassen.“ Buhrufe ertönten im Saal. „Ich glaub’s nicht!“, schrie Ste… | |
| Ernst. „Verschwinde!“ | |
| ## Ein Hang zur Gewalt | |
| Er sei damals außer sich gewesen, erzählte Ernst den Ermittlern. Seiner | |
| Mutter schrieb er eine Nachricht über die Versammlung, ätzte über „diesen | |
| Abschaum von Volksverrätern“. Auch Markus H. soll laut seiner damaligen | |
| Freundin gesagt haben, man müsse Lübcke erhängen. Dann stellte er unter dem | |
| Pseudonym „Professor Moriatti“ die Videosequenz von Lübckes Ausspruch auf | |
| Youtube. Das Video verbreitete sich in der rechten Szene, eine erste Welle | |
| von Hass erreichte Lübcke. Und Stephan Ernst verstieg sich offenbar in | |
| seinen Mordplan. | |
| Ernst hat einen Hang zur Gewalt. Schon 1989, als 16-Jähriger, versuchte er | |
| ein von Migranten bewohntes Haus in Hessen in Brand zu setzen. Später stach | |
| er in einer öffentlichen Toilette mit einem Messer einen Migranten nieder, | |
| der ihn „angeekelt“ habe. Ein Jahr darauf zündete er eine Rohrbombe in | |
| einem Auto vor einer Asylunterkunft. Noch in Haft attackiert er einen | |
| Migranten mit einem eisernen Stuhlbein. Die Sicherheitsbehörden führten | |
| Ernst damals als „extrem gewalttätig“. | |
| Und Ernst blieb auch nach einer sechsjährigen Haftstrafe der Szene treu. | |
| Anfang der 2000er Jahre wird er Teil der NPD und der Kasseler | |
| Kameradschaftsszene – und trifft hier auf Markus H. Auch er ist bereits | |
| seit den Neunzigern in der Szene aktiv, im Umfeld der rechtsextremen | |
| Kleinpartei FAP. Über Jahre besuchen beide Männer Szeneaufmärsche. Im Jahr | |
| 2009 fahren sie auch nach Dortmund. Dort greifen Neonazis eine | |
| DGB-Kundgebung an, auch Ernst soll einen Stein auf einen Polizisten | |
| geworfen haben, er wird zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Und nun zieht | |
| er sich, scheinbar, zurück. | |
| Ernst ist inzwischen verheiratet, hat zwei kleine Kinder, wohnt in | |
| Lohfelden in einem kleinen Haus mit Spitzgiebel. Den heutigen Ermittlern | |
| nannte er für seinen Rückzug auch als Grund, dass ein Kamerad auf der | |
| Demofahrt nach Dortmund seine Ehefrau beleidigt habe. Tatsächlich verliert | |
| der Verfassungsschutz Ernst damals aus dem Blick. Aber dessen Gedankengut | |
| bleibt. Noch 2011 nimmt er an einer rechten Sonnenwendfeier in Thüringen | |
| teil. Im selben Jahr kommt in seine Firma ein neuer Zeitarbeiter und alter | |
| Bekannter: Markus H. Eine Freundschaft entsteht – und eine erneute | |
| Radikalisierung. | |
| Laut Ermittlern sollen beide Männer über einen Bürgerkrieg fabuliert haben, | |
| über eine „Ausrottung der Deutschen“. Tonangebend sei Markus H. gewesen. | |
| Dieser verkauft Ernst schließlich eine Schrotflinte, nimmt ihn mit zu | |
| Schießübungen in den Wald und in zwei Schützenvereine. Die Männer besuchen | |
| ab 2016 auch wieder rechte Aufmärsche, diesmal von der AfD, von Björn Höcke | |
| in Thüringen oder in Chemnitz. Einen Ausstieg aus der Szene? Hat es nicht | |
| gegeben. | |
| Ernst erzählt den Ermittlern, dass „Schlüsselereignisse“ seinen Hass immer | |
| weiter befeuert hätten. Die Kölner Silvesternacht, der islamistische | |
| Anschlag von Nizza, die Ermordung zweier Rucksacktouristinnen in Marokko. | |
| Für all das habe er auch Lübcke und dessen Politik verantwortlich gemacht. | |
| Unter dem Alias „Game over“ schrieb Ernst im Internet: „Schluss mit reden! | |
| Es gibt tausend Gründe zu handeln und nur noch einen, ‚nichts‘ zu tun, | |
| Feigheit.“ | |
| ## Ein nachträglicher Schock | |
| Zu dieser Zeit kommt Stephan Ernst der Lübcke-Familie schon einmal ganz | |
| nahe – ohne dass diese es weiß. Denn bereits ab 2016 soll der | |
| Rechtsextremist das Haus der Lübckes an Wochenenden ausgespäht haben. Mit | |
| einer Dashcam in seinem Auto filmte er das Grundstück, später auch mit | |
| einer Wärmebildkamera. Für die Familie dürfte dies ein nachträglicher | |
| Schock sein. Ihr Anwalt Holger Matt sagt dazu nur: „Jede neue Nachricht, | |
| die zur Mordtat bekannt wird, wühlt die Familie auf und belastet sie.“ | |
| Auch während der Weizenkirmes im Mai 2017, dem alljährlichen Dorffest, | |
| mitorganisiert von den Lübcke-Söhnen, soll Ernst mit seinem Rossi-Revolver | |
| zum Haus gefahren sein, ebenso im Folgejahr. Schon damals, so gestand er, | |
| sei er nur drei Meter von Walter Lübcke entfernt versteckt gewesen, habe es | |
| aber noch nicht vollbracht, abzudrücken. Dass die Dorfbewohner feierten, | |
| während überall Leute sterben, habe ihn zusätzlich aufgeregt, schilderte | |
| Ernst den Ermittlern seine Gedanken. Er habe gewollt, dass der Terror zu | |
| ihnen kommt. | |
| Dies geschah in der Nacht zum 2. Juni 2019. Wieder war Weizenkirmes in | |
| Istha, wieder fuhr Ernst laut Geständnis zum Lübcke-Haus. Zwanzig Minuten | |
| habe er im Dunkeln auf der benachbarten Pferdekoppel gehockt und bereits | |
| wieder umkehren wollen, als er gegen 23.20 Uhr plötzlich das leuchtende | |
| Display von Lübckes Tablet auf der Terrasse gesehen haben – der 65-Jährige | |
| hatte sich zum Rauchen auf den Gartenstuhl gesetzt. | |
| Ernst sei nun durch einen Weidezaun gestiegen, habe sich aufs Grundstück | |
| geschlichen und aus gut einem Meter Entfernung Lübcke mit einem Kopfschuss | |
| getötet. Der Regierungspräsident habe noch seinen Schatten gesehen, aber | |
| nicht mehr reagieren können, sagte Ernst den Ermittlern. Nach dem Schuss | |
| soll er Lübcke angetippt haben und geflüchtet sein. | |
| Noch am Folgetag ging Ernst mit seinem Sohn wie immer zum Bogenschießen. Am | |
| Abend löschte er zahlreiche Dateien auf seinem Computer, auch seine | |
| Threema-Chats mit Markus H., rund 250 Nachrichten. Gleiches tat der | |
| Neonazi-Freund. Dann ging Ernst zur Nachtschicht, vergrub dort seine | |
| Waffen, soll die Tatkleidung in einen Müllcontainer geworfen haben. Einen | |
| Kollegen bat Ernst noch um ein falsches Alibi, weil er „Scheiße gebaut“ | |
| habe. Es half nichts: Die Ermittler fanden später seine DNA-Spur am Tatort. | |
| ## Feindeslisten und Vorsichtsregeln | |
| Für die Bundesanwaltschaft ist der Lübcke-Mord das blutige Finale einer | |
| langen Radikalisierung von Stephan Ernst. Denn schon in den Jahren 2001 bis | |
| 2007 legte er Feindeslisten mit gut 60 Personen und Objekten im Raum Kassel | |
| an. Lübcke war nicht dabei, dafür aber andere Lokalpolitiker, Journalisten | |
| oder die jüdische Synagoge. „Antideutsche Kräfte“, wie Ernst schrieb. Er | |
| notierte sich auch „Vorsichtsregeln“, etwa: eine „lange Kontrolle und | |
| Beobachtung des Tatorts vor der Tatausführung“. Für die Ermittler sind | |
| diese ersten Ausspähungen eine „Blaupause“ für den Lübcke-Mord. | |
| Allerdings: Im Juli 2019 widerrief Ernst sein Geständnis. Später | |
| bezichtigte er Markus H. des Mordes an Walter Lübcke. Gemeinsam sei man | |
| damals zu dem CDU-Politiker gefahren, um ihn „einzuschüchtern“. Markus H. | |
| habe dabei die Waffe getragen und Lübcke „versehentlich“ erschossen, als | |
| dieser sie verscheuchen wollte. | |
| Die Ankläger aber glauben dieser Variante nicht: Die neuen Angaben seien | |
| widersprüchlich und entlang der Ermittlungsergebnisse konstruiert. Auch sei | |
| keine DNA von Markus H. am Tatort oder am Tatrevolver gefunden worden. Ihm | |
| wird indes eine psychische Beihilfe zum Mord vorgeworfen – weil er Ernst | |
| mit den Schießübungen und der Teilnahme an Demos in dessen Tatplan bestärkt | |
| habe. | |
| Und es ist nicht die einzige Tat, über die nun das Oberlandesgericht | |
| verhandelt. Denn Stephan Ernst soll auch versucht haben, Ahmad E. zu töten, | |
| einen 26-jährigen Iraker, einst Schauspieler, 2015 geflohen vor dem | |
| „Islamischen Staat“ (IS). Die Tat geschah am 6. Januar 2016, an einem Tag, | |
| an dem Medien damals groß über die Kölner Silvesternacht berichteten. | |
| Stephan Ernst brachte auch diese Nachricht in Rage. In seinem Geständnis | |
| berichtete er, wie er an diesem Tag in Lohfelden Plakate der Grünen und SPD | |
| runtergerissen und einem Migranten zugerufen habe, man müsse ihm den Hals | |
| aufschneiden. | |
| ## „Ein totales Drama“ | |
| Am Abend, gegen 21.30 Uhr, soll Ernst dann mit einem Fahrrad an ebenjener | |
| Geflüchtetenunterkunft vorbeigeradelt sein, über die Walter Lübcke ein | |
| Vierteljahr zuvor unterrichtet hatte. Ahmad E. kam dort gerade vom | |
| Zigarettenholen von einer Tankstelle zurück, als Ernst ihm etwas mit | |
| „Deutschland“ zugerufen und unvermittelt von hinten mit dem Messer in den | |
| Rücken gestochen haben soll. | |
| Der Iraker erlitt eine mehrere Zentimeter tiefe Stichwunde, sein Rückenmark | |
| wurde verletzt, zwei Nervenstränge durchtrennt. Er schleppte sich noch auf | |
| die Straße, bis ein Autofahrer anhielt und ihm half. Zwei Monate lag er im | |
| Krankenhaus. | |
| Auch hier blieb die Fahndung nach dem Täter zunächst erfolglos. Obwohl | |
| Ermittler damals sogar bei Stephan Ernst vorstellig wurden und sich sein | |
| Fahrrad zeigen ließen. Beweise aber fanden sie nicht, ebenso wenig | |
| anderswo. Ahmad E. jedoch vermutete früh eine rassistische Tat, wandte sich | |
| an Response, eine hessische Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt, gab | |
| dem Hessischen Rundfunk ein Interview. „Ich bin vor dem Tod geflüchtet und | |
| wäre hier beinah getötet worden“, sagte der Iraker dort. | |
| Olivia Sarma, Leiterin von Response, erinnert sich: „Sein Eindruck war, | |
| dass die Ermittler ein rassistisches Motiv nicht ernst nahmen.“ Auch für | |
| Alexander Hoffmann, den Anwalt von Ahmad E., wurde nach rechts „nicht | |
| ernsthaft“ ermittelt, dafür umso intensiver in der Geflüchtetenunterkunft. | |
| Die Ermittlungen versandeten. | |
| Erst als Stephan Ernst festgenommen wird und in seinem Geständnis über den | |
| 6. Januar 2016 spricht, wird die Polizei wieder hellhörig. Dann schreibt | |
| auch Response einen Brief an die Ermittler und benennt Ernst als möglichen | |
| Täter für den Angriff auf Ahmad E. Der Iraker bitte, dies zu prüfen. Die | |
| Polizei durchsucht darauf Ende Juli 2019 tatsächlich noch einmal das Haus | |
| von Stephan Ernst – und findet nun in einem Kellerregal ein Messer mit | |
| DNA-Spuren von Ahmad E. Ernst bestreitet die Messerattacke dennoch bis | |
| heute. | |
| Wie die Lübckes redet auch Ahmad E. derzeit nicht mit Medien. „Er leidet | |
| bis heute unter den Verletzungen“, sagt sein Anwalt Hoffmann. Ahmad E. sei | |
| arbeitsunfähig, werde wohl nie wieder vollständig gesund. „Ein totales | |
| Drama.“ Olivia Sarma von Response sagt, es helfe Gewaltopfern, zumindest zu | |
| wissen, dass ein Täter nicht mehr frei herumlaufe – und ebenso sein Motiv | |
| zu kennen, um ihr Trauma verarbeiten zu können. | |
| Für Hoffmann wäre eine Verurteilung von Ernst auch für die Messerattacke | |
| eine „Genugtuung“ für seinen Mandanten. „Endlich wäre das rassistische | |
| Tatmotiv anerkannt.“ Zudem will Hoffmann aufklären, in welche | |
| Neonazi-Netzwerke Ernst eingebunden war. „Hier sind noch einige Fragen | |
| offen.“ | |
| ## Gerechte Strafe | |
| So ist tatsächlich ungeklärt, warum Walter Lübcke bereits auf einer | |
| Adressliste des NSU mit rund 10.000 Einträgen auftauchte, mit seiner | |
| Adresse und früheren Funktion als Landtagsabgeordneter. Auch sind noch | |
| Verbindungen zu Combat 18 zu klären, zu deren späterem Deutschlandchef | |
| Ernst Kontakt hatte. Oder zu den Identitären, denen Ernst bis 2019 mehrfach | |
| Spenden überwiesen haben soll. | |
| Und auch zu Markus H. bleiben Fragen. Warum hatte er ein internes Papier | |
| der hessischen Polizeihochschule auf seinem Handy, zu Fahndungen bei | |
| „terroristischer Gewaltkriminalität von bundesweiter Bedeutung“? Und warum | |
| gab der hessische Verfassungsschutz Informationen über den Neonazi nicht an | |
| die Waffenbehörde Kassel weiter? Markus H. erlaubte dies 2015 | |
| Waffenbesitzkarte – und damit die Grundlage, die Schießübungen mit Stephan | |
| Ernst durchzuführen. | |
| Die Lübckes erklären vor dem Prozess, ihnen gehe es dort um eine „gerechte | |
| Strafe“ für „denjenigen, der meinen Ehemann, unseren Vater auf dem Gewissen | |
| hat, und diejenigen, die ihn womöglich dabei unterstützt haben“. Es gehe | |
| aber auch um das politische Erbe von Walter Lübcke. „Hass und Ausgrenzung | |
| waren ihm fremd, und in diesem Geist wollen auch wir dafür eintreten, dass | |
| Hass und Gewalt keinen Platz in unserer Gesellschaft haben sollen“, | |
| schreibt die Familie. „Wir alle, die wir für unsere freiheitliche | |
| Demokratie eintreten, dürfen nicht verstummen, sondern müssen klar Position | |
| beziehen.“ | |
| Es ist jener Appell, den Jan-Hendrik Lübcke auch bei seiner Rede im | |
| Wiesbadener Kurhaus aussprach. Aber auch nach dem Attentat auf Walter | |
| Lübcke erfolgten Bedrohungen von PolitikerInnen, Schüsse auf einen Eritreer | |
| in Hessen, der Anschlag auf die Synagoge in Halle. Jan-Hendrik Lübcke war | |
| das nicht entgangen. Ganz am Ende seiner Rede blickte er damals in den | |
| Saal, dann zitierte er den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier: „Mehr | |
| noch als der Lärm von manchen besorgt mich das Schweigen von vielen | |
| anderen.“ | |
| 15 Jun 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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