# taz.de -- Mordprozess im Fall Lübcke: Gegen den Hass | |
> Vor gut einem Jahr wurde CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet, am | |
> Dienstag beginnt der Prozess. Der Versuch einer Rekonstruktion. | |
Am Dienstag werden sie sich gegenübersitzen. Im Saal 165 des | |
Oberlandesgerichts Frankfurt am Main. Auf der einen Seite Irmgard | |
Braun-Lübcke, Christoph und Jan-Hendrik Lübcke und Ahmad E. Auf der anderen | |
Seite: Stephan Ernst und Markus H. Es wird eine erste direkte Begegnung. | |
Und für die Lübckes und Ahmad E. eine wohl kaum erträgliche. | |
Denn Stephan Ernst, ein 46-jähriger Rechtsextremist, soll vor gut einem | |
Jahr Walter Lübcke erschossen haben. Den Ehemann von Irmgard Braun-Lübcke, | |
den Vater von Christoph und Jan-Hendrik Lübcke, den Kasseler | |
Regierungspräsidenten und CDU-Politiker. Die Tat geschah vor dessen Haus im | |
hessischen Wolfhagen-Istha, einem 850-Einwohner-Dorf, in der Nacht zum 2. | |
Juni 2019. Markus H. soll ihn in seinem Mordplan bestärkt haben. | |
Der Mord war ein Fanal: Erstmals im Nachkriegsdeutschland wurde ein | |
Politiker offenbar von einem Rechtsextremisten erschossen. Bereits Monate | |
zuvor soll Ernst zudem Ahmad E., einen irakischen Asylsuchenden, | |
niedergestochen haben. E. wurde dabei schwer verletzt. | |
„Wir wollen den angeklagten mutmaßlichen Tätern in die Augen sehen, auch | |
wenn wir wissen, dass dies sicher mit schweren emotionalen Belastungen | |
einhergeht“, erklärte die Lübcke-Familie vor dem Prozess öffentlich. „Au… | |
das sind wir meinem Ehemann und unserem Vater schuldig, den wir aufs | |
Schmerzlichste vermissen.“ | |
Dies war eine der raren Stellungnahmen der Lübckes. Nach dem Mord zog sich | |
die Familie aus der Öffentlichkeit zurück, bat Medien um Abstand. Die | |
Söhne, Anfang dreißig, gehen ihrer Arbeit als Geschäftsführer einer | |
Solarenergiefirma nach. Irmgard Braun-Lübcke ist pensionierte | |
Abteilungsleiterin einer Berufsfachschule. Bis heute steht vor ihrem Haus | |
regelmäßig ein Polizeiwagen zum Schutz. Nichts könne den Schmerz über den | |
Tod ihres Mannes und Vaters nehmen, schreibt die Familie. „Die Wunde wird | |
sicher nie wirklich vernarben.“ | |
## Ein politischer Kampf | |
Aber so zurückgezogen, wie es scheint, ist die Familie nicht. Denn auch sie | |
führt inzwischen einen politischen Kampf. Einen gegen den Hass. Einen, der | |
das Engagement ihres Ehemanns und Vaters fortführt. | |
Vor knapp zwei Wochen standen Irmgard Braun-Lübcke, Christoph und | |
Jan-Hendrik Lübcke vor einem schlichten hellen Holzkreuz auf dem Friedhof | |
in Istha, am Grab von Walter Lübcke. Es war der erste Jahrestag der | |
Ermordung, das Dorf hatte eine Gedenkfeier organisiert, nur für sich, ohne | |
Medien. Vereinsmitglieder waren gekommen, Ortsbeiräte, der Posaunenchor, | |
rund 50 Menschen. Pfarrer Wolfgang Hanske hielt eine Ansprache, die Sonne | |
schien. Am Nachmittag kam auch Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier zu | |
dem Grab. | |
Hanske, im Ort seit gut 30 Jahren evangelischer Pfarrer, berichtet, wie | |
„absolut präsent“ der Mord an Walter Lübcke weiter in Istha ist. Der | |
65-Jährige sei „sehr nahbar“ gewesen, immer zu einem Plausch aufgelegt, nie | |
abgehoben. Freunde beschreiben Lübcke als Mann mit klaren Grundsätzen, | |
festem Glauben und Witz. Einer, der die Menschen mochte. Der sich bis | |
zuletzt „der Junge vom Dorf“ nannte. Obwohl er auch promovierter Ökonom | |
war, zehn Jahre Landtagsabgeordneter, danach Regierungspräsident. | |
Hanske betreut die Lübckes bis heute als Seelsorger, sie sind fester Teil | |
seiner Gemeinde. Über diese Arbeit spricht der Pfarrer nicht. Wenn man | |
seine Sinne zusammennimmt, sagt er, könne man sich aber ausmalen, wie es | |
einer Familie gehe, deren Ehemann und Vater nicht eine Krankheit oder das | |
Alter aus dem Leben riss, sondern der Hass eines Fremden. | |
Die Familie Lübcke selbst äußerte sich an dem Gedenktag nicht öffentlich. | |
Anders als noch vor einem Jahr. Wenige Tage nach dem Mord, beim | |
Trauergottesdienst in der Kasseler Martinskirche, trat überraschend | |
Christoph Lübcke nach vorn. Im Protokoll war dies nicht notiert. Der ältere | |
der Söhne sprach direkt neben dem Sarg, die Tat war damals noch | |
unaufgeklärt, ganz still war es da in der Kirche. | |
## „Lieber Papa“ | |
„Lieber Papa“, sagte Christoph Lübcke mit brüchiger Stimme. Man habe doch | |
noch so viele gemeinsame Pläne gehabt. „Deine Enkel wirst du nicht, wie | |
uns, zur Schule fahren. Und nicht dein Leibgericht, deine berühmte | |
Schweinepampe, für sie kochen.“ Christoph Lübcke dankte seinem Vater für | |
die „große Liebe“ und die Ideale, die er ihnen vermittelt habe. „Wir wer… | |
deinen Enkeln von ihrem Opa immer wieder erzählen.“ | |
Es gab noch einen zweiten Auftritt, ein halbes Jahr später, im Wiesbadener | |
Kurhaus. Dort wurde Walter Lübcke posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille | |
verliehen, die höchste Ehrung Hessens. Nun sprach Jan-Hendrik Lübcke. Er | |
war es, der seinen Vater damals erschossen im Gartenstuhl auf der Terrasse | |
fand. | |
Immer wieder stockte ihm die Stimme, aber unter die Trauer mischte sich | |
auch ein politischer Appell. Denn der Sohn erinnerte an die christlichen | |
Werte seines Vaters, dessen freiheitliche Überzeugung und daran, dass er | |
„ein Mann des klaren Wortes“ war. So auch im Oktober 2015, als Walter | |
Lübcke auf einer Bürgerversammlung in Kassel-Lohfelden für die | |
Unterbringung von Geflüchteten warb. Ein Einsatz, der ihn das Leben | |
kostete. „Ein feiger, hinterhältiger Mord“, sagte Jan-Hendrik Lübcke. | |
Umso schwerer falle es seiner Familie zu sehen, „wie der Extremismus wieder | |
Raum in Deutschland findet und die Extremisten ihr verirrtes Denken | |
ungeschönt in die Öffentlichkeit grölen“, fuhr der Sohn fort. „Im Sinne | |
unseres Vaters ist es unser aller Auftrag, diesem schrecklichen Ungeist | |
entgegenzuwirken. Die Unkultur der Hetze und Diffamierung darf sich nicht | |
verfestigen.“ Im Saal brandete Applaus auf. | |
Es ist dieser Ungeist, über den ab Dienstag nun vor dem Oberlandesgericht | |
Frankfurt am Main verhandelt wird. Es wird ein Großprozess mit | |
internationaler Beachtung. Sechzig Medienplätze hält das Gericht vor. Im | |
Saal werden Richter, Anwälte und Zuschauer wegen der Coronapandemie mit | |
Plexiglasscheiben voneinander getrennt. Um hineinzukommen, werden sich | |
BesucherInnen schon sehr früh vor dem Eingangsportal anstellen müssen, | |
unterhalb der Inschrift „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. | |
## Verteidiger mit Krawallpotenzial | |
Wie würdevoll es drinnen zugehen wird, ist unklar. Die Verteidiger | |
jedenfalls haben Krawallpotenzial. Frank Hannig, der Anwalt von Stephan | |
Ernst, ist einschlägig bekannt: Der Dresdner gilt als pegidanah, trat dort | |
mal als Redner auf. Schon vor dem Prozess suchte er die Öffentlichkeit, lud | |
zu einer Pressekonferenz, veröffentlicht regelmäßig Videostatements zum | |
Fall. „Die Wahrheit ist vielleicht deutlich komplizierter“, raunt Hannig | |
dort. „Es wird ein langer Prozess.“ | |
An die Seite geholt hat er sich ausgerechnet den NSU-Nebenklageanwalt | |
Mustafa Kaplan. Jeder Angeklagte habe Anspruch auf eine bestmögliche | |
Verteidigung, sagt Kaplan dazu. „Wäre es nicht heuchlerisch, | |
rechtsstaatliche Verfahren nur für Angeklagte einzufordern, denen man sich | |
vielleicht politisch nahe fühlt?“ Und Kaplan kündigt an, dass sich Ernst im | |
Prozess – anders als noch vor den Ermittlern – „zunächst schweigend | |
verteidigen wird“. | |
Die Verteidiger von Markus H. kommen dagegen direkt aus der rechten Szene. | |
Der Düsseldorfer Björn Clemens war früher bei den Republikanern aktiv. Die | |
Baden-Württembergerin Nicole Schneiders war bei der NPD und vertrat zuletzt | |
den NSU-Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben. Clemens sagt, für eine | |
Tatbeteiligung seines Mandanten gebe es keine Beweise, das Verfahren sei | |
politisch aufgeladen. Nach bisheriger Aktenlage könne es nur einen | |
Freispruch geben. | |
Der Frankfurter Holger Matt, der Anwalt der Lübckes, die als Nebenkläger am | |
Prozess teilnehmen, sagt, er sei auf alles vorbereitet. Es gehe der Familie | |
Lübcke in dem Prozess um die Aufklärung des Verbrechens und die | |
Verurteilung der schuldigen Täter und Beteiligten. Matt spricht von einem | |
„kaltblütig geplanten, heimtückisch begangenen Mord“. Und er nennt auch e… | |
symbolisches Ziel der Nebenklage: ein „aufrechtes Eintreten für den | |
Rechtsstaat“. So, wie es Walter Lübcke getan habe. | |
## Die Tat schien aufgeklärt | |
Zwei Wochen hatte es im Juni 2019 gedauert, bis die Ermittler auf Stephan | |
Ernst stießen – sie hatten zwei DNA-Spuren von ihm auf dem Hemd des | |
getöteten Walter Lübcke gefunden. Dann ging alles ganz schnell. Ernst, | |
gelernter Industriemechaniker und seit Jugendtagen Rechtsextremist, gestand | |
die Tat und führte die Ermittler zu der Tatwaffe, einem Rossi-Revolver, den | |
er mit sechs weiteren Pistolen und Gewehren sowie 1.402 Schuss Munition in | |
einem Erddepot bei seinem Arbeitgeber, einem Kasseler | |
Bahntechnikhersteller, vergraben hatte. | |
Und er benannte zwei Helfer: den Verkäufer des Rossi-Revolvers, ein | |
Trödelhändler aus NRW, und seinen Freund Markus H., ein Zeitarbeiter, | |
ebenfalls Rechtsextremist aus Kassel, 44 Jahre. Die Tat schien aufgeklärt. | |
Auch ein Motiv nannte Ernst den Ermittlern in seinem vierstündigen | |
Geständnis: der Auftritt von Walter Lübcke auf der Bürgerversammlung in | |
Lohfelden. Für den CDU-Mann war es eine Versammlung von vielen. Tausende | |
Geflüchtete kamen damals täglich nach Deutschland, als Regierungspräsident | |
ließ Lübcke im Raum Kassel 24 Aufnahmeeinrichtungen errichten, teils gegen | |
Proteste. Er schickte keine Mitarbeiter vor, er informierte selbst. | |
In Lohfelden aber waren Rechte auf Stunk aus. Anhänger des Kasseler | |
Pegida-Ablegers störten mit Zwischenrufen. Ganz hinten saß auch Stephan | |
Ernst, der in Lohfelden wohnt, neben ihm Markus H., der mit seinem Handy | |
filmte. Irgendwann reichte es Walter Lübcke. „Es lohnt sich, in unserem | |
Land zu leben“, rief der CDU-Mann. „Und da muss man für Werte eintreten, | |
und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land | |
verlassen.“ Buhrufe ertönten im Saal. „Ich glaub’s nicht!“, schrie Ste… | |
Ernst. „Verschwinde!“ | |
## Ein Hang zur Gewalt | |
Er sei damals außer sich gewesen, erzählte Ernst den Ermittlern. Seiner | |
Mutter schrieb er eine Nachricht über die Versammlung, ätzte über „diesen | |
Abschaum von Volksverrätern“. Auch Markus H. soll laut seiner damaligen | |
Freundin gesagt haben, man müsse Lübcke erhängen. Dann stellte er unter dem | |
Pseudonym „Professor Moriatti“ die Videosequenz von Lübckes Ausspruch auf | |
Youtube. Das Video verbreitete sich in der rechten Szene, eine erste Welle | |
von Hass erreichte Lübcke. Und Stephan Ernst verstieg sich offenbar in | |
seinen Mordplan. | |
Ernst hat einen Hang zur Gewalt. Schon 1989, als 16-Jähriger, versuchte er | |
ein von Migranten bewohntes Haus in Hessen in Brand zu setzen. Später stach | |
er in einer öffentlichen Toilette mit einem Messer einen Migranten nieder, | |
der ihn „angeekelt“ habe. Ein Jahr darauf zündete er eine Rohrbombe in | |
einem Auto vor einer Asylunterkunft. Noch in Haft attackiert er einen | |
Migranten mit einem eisernen Stuhlbein. Die Sicherheitsbehörden führten | |
Ernst damals als „extrem gewalttätig“. | |
Und Ernst blieb auch nach einer sechsjährigen Haftstrafe der Szene treu. | |
Anfang der 2000er Jahre wird er Teil der NPD und der Kasseler | |
Kameradschaftsszene – und trifft hier auf Markus H. Auch er ist bereits | |
seit den Neunzigern in der Szene aktiv, im Umfeld der rechtsextremen | |
Kleinpartei FAP. Über Jahre besuchen beide Männer Szeneaufmärsche. Im Jahr | |
2009 fahren sie auch nach Dortmund. Dort greifen Neonazis eine | |
DGB-Kundgebung an, auch Ernst soll einen Stein auf einen Polizisten | |
geworfen haben, er wird zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Und nun zieht | |
er sich, scheinbar, zurück. | |
Ernst ist inzwischen verheiratet, hat zwei kleine Kinder, wohnt in | |
Lohfelden in einem kleinen Haus mit Spitzgiebel. Den heutigen Ermittlern | |
nannte er für seinen Rückzug auch als Grund, dass ein Kamerad auf der | |
Demofahrt nach Dortmund seine Ehefrau beleidigt habe. Tatsächlich verliert | |
der Verfassungsschutz Ernst damals aus dem Blick. Aber dessen Gedankengut | |
bleibt. Noch 2011 nimmt er an einer rechten Sonnenwendfeier in Thüringen | |
teil. Im selben Jahr kommt in seine Firma ein neuer Zeitarbeiter und alter | |
Bekannter: Markus H. Eine Freundschaft entsteht – und eine erneute | |
Radikalisierung. | |
Laut Ermittlern sollen beide Männer über einen Bürgerkrieg fabuliert haben, | |
über eine „Ausrottung der Deutschen“. Tonangebend sei Markus H. gewesen. | |
Dieser verkauft Ernst schließlich eine Schrotflinte, nimmt ihn mit zu | |
Schießübungen in den Wald und in zwei Schützenvereine. Die Männer besuchen | |
ab 2016 auch wieder rechte Aufmärsche, diesmal von der AfD, von Björn Höcke | |
in Thüringen oder in Chemnitz. Einen Ausstieg aus der Szene? Hat es nicht | |
gegeben. | |
Ernst erzählt den Ermittlern, dass „Schlüsselereignisse“ seinen Hass immer | |
weiter befeuert hätten. Die Kölner Silvesternacht, der islamistische | |
Anschlag von Nizza, die Ermordung zweier Rucksacktouristinnen in Marokko. | |
Für all das habe er auch Lübcke und dessen Politik verantwortlich gemacht. | |
Unter dem Alias „Game over“ schrieb Ernst im Internet: „Schluss mit reden! | |
Es gibt tausend Gründe zu handeln und nur noch einen, ‚nichts‘ zu tun, | |
Feigheit.“ | |
## Ein nachträglicher Schock | |
Zu dieser Zeit kommt Stephan Ernst der Lübcke-Familie schon einmal ganz | |
nahe – ohne dass diese es weiß. Denn bereits ab 2016 soll der | |
Rechtsextremist das Haus der Lübckes an Wochenenden ausgespäht haben. Mit | |
einer Dashcam in seinem Auto filmte er das Grundstück, später auch mit | |
einer Wärmebildkamera. Für die Familie dürfte dies ein nachträglicher | |
Schock sein. Ihr Anwalt Holger Matt sagt dazu nur: „Jede neue Nachricht, | |
die zur Mordtat bekannt wird, wühlt die Familie auf und belastet sie.“ | |
Auch während der Weizenkirmes im Mai 2017, dem alljährlichen Dorffest, | |
mitorganisiert von den Lübcke-Söhnen, soll Ernst mit seinem Rossi-Revolver | |
zum Haus gefahren sein, ebenso im Folgejahr. Schon damals, so gestand er, | |
sei er nur drei Meter von Walter Lübcke entfernt versteckt gewesen, habe es | |
aber noch nicht vollbracht, abzudrücken. Dass die Dorfbewohner feierten, | |
während überall Leute sterben, habe ihn zusätzlich aufgeregt, schilderte | |
Ernst den Ermittlern seine Gedanken. Er habe gewollt, dass der Terror zu | |
ihnen kommt. | |
Dies geschah in der Nacht zum 2. Juni 2019. Wieder war Weizenkirmes in | |
Istha, wieder fuhr Ernst laut Geständnis zum Lübcke-Haus. Zwanzig Minuten | |
habe er im Dunkeln auf der benachbarten Pferdekoppel gehockt und bereits | |
wieder umkehren wollen, als er gegen 23.20 Uhr plötzlich das leuchtende | |
Display von Lübckes Tablet auf der Terrasse gesehen haben – der 65-Jährige | |
hatte sich zum Rauchen auf den Gartenstuhl gesetzt. | |
Ernst sei nun durch einen Weidezaun gestiegen, habe sich aufs Grundstück | |
geschlichen und aus gut einem Meter Entfernung Lübcke mit einem Kopfschuss | |
getötet. Der Regierungspräsident habe noch seinen Schatten gesehen, aber | |
nicht mehr reagieren können, sagte Ernst den Ermittlern. Nach dem Schuss | |
soll er Lübcke angetippt haben und geflüchtet sein. | |
Noch am Folgetag ging Ernst mit seinem Sohn wie immer zum Bogenschießen. Am | |
Abend löschte er zahlreiche Dateien auf seinem Computer, auch seine | |
Threema-Chats mit Markus H., rund 250 Nachrichten. Gleiches tat der | |
Neonazi-Freund. Dann ging Ernst zur Nachtschicht, vergrub dort seine | |
Waffen, soll die Tatkleidung in einen Müllcontainer geworfen haben. Einen | |
Kollegen bat Ernst noch um ein falsches Alibi, weil er „Scheiße gebaut“ | |
habe. Es half nichts: Die Ermittler fanden später seine DNA-Spur am Tatort. | |
## Feindeslisten und Vorsichtsregeln | |
Für die Bundesanwaltschaft ist der Lübcke-Mord das blutige Finale einer | |
langen Radikalisierung von Stephan Ernst. Denn schon in den Jahren 2001 bis | |
2007 legte er Feindeslisten mit gut 60 Personen und Objekten im Raum Kassel | |
an. Lübcke war nicht dabei, dafür aber andere Lokalpolitiker, Journalisten | |
oder die jüdische Synagoge. „Antideutsche Kräfte“, wie Ernst schrieb. Er | |
notierte sich auch „Vorsichtsregeln“, etwa: eine „lange Kontrolle und | |
Beobachtung des Tatorts vor der Tatausführung“. Für die Ermittler sind | |
diese ersten Ausspähungen eine „Blaupause“ für den Lübcke-Mord. | |
Allerdings: Im Juli 2019 widerrief Ernst sein Geständnis. Später | |
bezichtigte er Markus H. des Mordes an Walter Lübcke. Gemeinsam sei man | |
damals zu dem CDU-Politiker gefahren, um ihn „einzuschüchtern“. Markus H. | |
habe dabei die Waffe getragen und Lübcke „versehentlich“ erschossen, als | |
dieser sie verscheuchen wollte. | |
Die Ankläger aber glauben dieser Variante nicht: Die neuen Angaben seien | |
widersprüchlich und entlang der Ermittlungsergebnisse konstruiert. Auch sei | |
keine DNA von Markus H. am Tatort oder am Tatrevolver gefunden worden. Ihm | |
wird indes eine psychische Beihilfe zum Mord vorgeworfen – weil er Ernst | |
mit den Schießübungen und der Teilnahme an Demos in dessen Tatplan bestärkt | |
habe. | |
Und es ist nicht die einzige Tat, über die nun das Oberlandesgericht | |
verhandelt. Denn Stephan Ernst soll auch versucht haben, Ahmad E. zu töten, | |
einen 26-jährigen Iraker, einst Schauspieler, 2015 geflohen vor dem | |
„Islamischen Staat“ (IS). Die Tat geschah am 6. Januar 2016, an einem Tag, | |
an dem Medien damals groß über die Kölner Silvesternacht berichteten. | |
Stephan Ernst brachte auch diese Nachricht in Rage. In seinem Geständnis | |
berichtete er, wie er an diesem Tag in Lohfelden Plakate der Grünen und SPD | |
runtergerissen und einem Migranten zugerufen habe, man müsse ihm den Hals | |
aufschneiden. | |
## „Ein totales Drama“ | |
Am Abend, gegen 21.30 Uhr, soll Ernst dann mit einem Fahrrad an ebenjener | |
Geflüchtetenunterkunft vorbeigeradelt sein, über die Walter Lübcke ein | |
Vierteljahr zuvor unterrichtet hatte. Ahmad E. kam dort gerade vom | |
Zigarettenholen von einer Tankstelle zurück, als Ernst ihm etwas mit | |
„Deutschland“ zugerufen und unvermittelt von hinten mit dem Messer in den | |
Rücken gestochen haben soll. | |
Der Iraker erlitt eine mehrere Zentimeter tiefe Stichwunde, sein Rückenmark | |
wurde verletzt, zwei Nervenstränge durchtrennt. Er schleppte sich noch auf | |
die Straße, bis ein Autofahrer anhielt und ihm half. Zwei Monate lag er im | |
Krankenhaus. | |
Auch hier blieb die Fahndung nach dem Täter zunächst erfolglos. Obwohl | |
Ermittler damals sogar bei Stephan Ernst vorstellig wurden und sich sein | |
Fahrrad zeigen ließen. Beweise aber fanden sie nicht, ebenso wenig | |
anderswo. Ahmad E. jedoch vermutete früh eine rassistische Tat, wandte sich | |
an Response, eine hessische Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt, gab | |
dem Hessischen Rundfunk ein Interview. „Ich bin vor dem Tod geflüchtet und | |
wäre hier beinah getötet worden“, sagte der Iraker dort. | |
Olivia Sarma, Leiterin von Response, erinnert sich: „Sein Eindruck war, | |
dass die Ermittler ein rassistisches Motiv nicht ernst nahmen.“ Auch für | |
Alexander Hoffmann, den Anwalt von Ahmad E., wurde nach rechts „nicht | |
ernsthaft“ ermittelt, dafür umso intensiver in der Geflüchtetenunterkunft. | |
Die Ermittlungen versandeten. | |
Erst als Stephan Ernst festgenommen wird und in seinem Geständnis über den | |
6. Januar 2016 spricht, wird die Polizei wieder hellhörig. Dann schreibt | |
auch Response einen Brief an die Ermittler und benennt Ernst als möglichen | |
Täter für den Angriff auf Ahmad E. Der Iraker bitte, dies zu prüfen. Die | |
Polizei durchsucht darauf Ende Juli 2019 tatsächlich noch einmal das Haus | |
von Stephan Ernst – und findet nun in einem Kellerregal ein Messer mit | |
DNA-Spuren von Ahmad E. Ernst bestreitet die Messerattacke dennoch bis | |
heute. | |
Wie die Lübckes redet auch Ahmad E. derzeit nicht mit Medien. „Er leidet | |
bis heute unter den Verletzungen“, sagt sein Anwalt Hoffmann. Ahmad E. sei | |
arbeitsunfähig, werde wohl nie wieder vollständig gesund. „Ein totales | |
Drama.“ Olivia Sarma von Response sagt, es helfe Gewaltopfern, zumindest zu | |
wissen, dass ein Täter nicht mehr frei herumlaufe – und ebenso sein Motiv | |
zu kennen, um ihr Trauma verarbeiten zu können. | |
Für Hoffmann wäre eine Verurteilung von Ernst auch für die Messerattacke | |
eine „Genugtuung“ für seinen Mandanten. „Endlich wäre das rassistische | |
Tatmotiv anerkannt.“ Zudem will Hoffmann aufklären, in welche | |
Neonazi-Netzwerke Ernst eingebunden war. „Hier sind noch einige Fragen | |
offen.“ | |
## Gerechte Strafe | |
So ist tatsächlich ungeklärt, warum Walter Lübcke bereits auf einer | |
Adressliste des NSU mit rund 10.000 Einträgen auftauchte, mit seiner | |
Adresse und früheren Funktion als Landtagsabgeordneter. Auch sind noch | |
Verbindungen zu Combat 18 zu klären, zu deren späterem Deutschlandchef | |
Ernst Kontakt hatte. Oder zu den Identitären, denen Ernst bis 2019 mehrfach | |
Spenden überwiesen haben soll. | |
Und auch zu Markus H. bleiben Fragen. Warum hatte er ein internes Papier | |
der hessischen Polizeihochschule auf seinem Handy, zu Fahndungen bei | |
„terroristischer Gewaltkriminalität von bundesweiter Bedeutung“? Und warum | |
gab der hessische Verfassungsschutz Informationen über den Neonazi nicht an | |
die Waffenbehörde Kassel weiter? Markus H. erlaubte dies 2015 | |
Waffenbesitzkarte – und damit die Grundlage, die Schießübungen mit Stephan | |
Ernst durchzuführen. | |
Die Lübckes erklären vor dem Prozess, ihnen gehe es dort um eine „gerechte | |
Strafe“ für „denjenigen, der meinen Ehemann, unseren Vater auf dem Gewissen | |
hat, und diejenigen, die ihn womöglich dabei unterstützt haben“. Es gehe | |
aber auch um das politische Erbe von Walter Lübcke. „Hass und Ausgrenzung | |
waren ihm fremd, und in diesem Geist wollen auch wir dafür eintreten, dass | |
Hass und Gewalt keinen Platz in unserer Gesellschaft haben sollen“, | |
schreibt die Familie. „Wir alle, die wir für unsere freiheitliche | |
Demokratie eintreten, dürfen nicht verstummen, sondern müssen klar Position | |
beziehen.“ | |
Es ist jener Appell, den Jan-Hendrik Lübcke auch bei seiner Rede im | |
Wiesbadener Kurhaus aussprach. Aber auch nach dem Attentat auf Walter | |
Lübcke erfolgten Bedrohungen von PolitikerInnen, Schüsse auf einen Eritreer | |
in Hessen, der Anschlag auf die Synagoge in Halle. Jan-Hendrik Lübcke war | |
das nicht entgangen. Ganz am Ende seiner Rede blickte er damals in den | |
Saal, dann zitierte er den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier: „Mehr | |
noch als der Lärm von manchen besorgt mich das Schweigen von vielen | |
anderen.“ | |
15 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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