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# taz.de -- Struktureller Rassismus bei der Polizei: Wessen Freund und Helfer?
> Unter „Defund the Police“ fordert die Black-Lives-Matter-Bewegung die
> Streichung von Polizeigeldern. Ein Blick in die Geschichte gibt ihnen
> Recht.
Bild: Berliner Polizist gibt einem Touristen eine Auskunft (Aufnahme um 1930)
Unter dem Eindruck der jüngsten massiven Proteste [1][nach dem Tod George
Floyds] hat eine große Mehrheit des Stadtrats von Minneapolis erklärt, das
dortige Police Department abschaffen und alternative Methoden des community
policing erproben zu wollen. In Los Angeles wird eine geplante Erhöhung des
Polizeibudgets um 150 Millionen Dollar nicht nur ausgesetzt, der
Haushaltposten wird sogar um etwa dieselbe Summe gekürzt.
Auch in anderen Städten nutzen antirassistische und bürgerrechtliche
Initiativen die Chance, ihre politischen Forderungen nach einer
Polizeireform unter dem Slogan „Defund the Police“ hörbar zu machen. Nicht
einmal [2][die Parteiprominenz der Demokraten kann sich gänzlich vor der
Bewegung wegducken], auch wenn man sich, wie Präsidentschaftskandidat
Biden, von der angesichts der unhaltbaren Zustände mit ihrem hohen Blutzoll
doch recht höflichen „Defund“-Forderung distanziert.
In Deutschland hat die Kritik an der Polizei als Institution derzeit nicht
dieselbe Wucht. Jedoch ist bei Kundgebungen in den vergangenen Tagen
deutlich geworden, dass es auch hier ein wachsendes Bewusstsein für
rassistische Diskriminierung durch die Polizei gibt. Die ganz allgemein
kritische Bewertung der Ordnungsmacht ist dabei nicht völlig neu und hat im
Laufe der Zeit einige überraschende Wendungen genommen.
Nicht erst seit [3][am 1. Mai 1987 der Bolle-Supermarkt am Görlitzer
Bahnhof in Flammen aufging] und die Polizei daraufhin alljährlich darum
kämpfen musste, am Maifeiertag die Kontrolle über den Stadtbezirk zu
erringen, ist Berlin-Kreuzberg ein polizeigeschichtlich interessanter Ort.
Bereits gut hundert Jahre zuvor erging hier ein Gerichtsurteil, das
gelegentlich als Geburtsstunde der modernen Polizei in Preußen und
Deutschland angesehen wird. [4][Das sogenannte Kreuzbergerkenntnis vom Juni
1882] nämlich schränkte die bis dato allmächtig agierende Truppe in ihren
Befugnissen erheblich ein und ebnete einer in ihren Verantwortlichkeiten
stark ausdifferenzierten Verwaltung den Weg.
Der Blick auf das zur Erinnerung an die gegen Napoleon geführten
Befreiungskriege auf dem Kreuzberg errichtete Siegesdenkmal sollte laut
einer polizeilichen Verordnung nicht verbaut werden dürfen, wogegen ein
Grundstückseigentümer klagte. Der Mann bekam recht, und zwar unter anderem
mit der Begründung, dass es auf der Hand liege, dass es der Polizei nicht
zustehe, stadtplanerische Regeln zu erlassen. Das war neuartig, weil diese
Beschränkung mit der absolutistischen Tradition willkürlich und
selbstherrlich agierender Polizeibehörden brach.
## Schützen und dienen
Im wachsenden modernen Staat waren die Aufgaben der Verwaltungen bereits so
weit aufgeschlüsselt, dass es des Vogts als lokaler Verkörperung der
absoluten Macht des Monarchen nicht mehr bedurfte. Verschiedene Probleme
wurden von verschiedenen Ämtern bearbeitet – so ist es im Wesentlichen bis
heute geblieben.
Aufgabe der Polizei in diesem Mosaik staatlicher Zuständigkeiten ist es,
Rechtsbrüche zu verfolgen und allgemein für Sicherheit zu sorgen. So
entwickelte sich bis in die 1920er Jahre das Idealbild des Polizisten als
„dein Freund und Helfer“. In den USA dauerte es bis in die 1960er Jahre,
bis mit dem legendären Wahlspruch der Polizei von Los Angeles, „To protect
and to serve“ („zu schützen und zu dienen“), ein ähnlich griffiges Motto
gefunden war.
Während in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts angeregt über die
Kompetenzen der Polizei gestritten wurde, sah die Situation in den USA ganz
anders aus. Bis dahin gab es in den meisten Landesteilen praktisch keine
vergleichbare zivile Exekutivbehörde. Ein aus dem Pioniergeist und der
unkontrollierten Expansion des Landes gewachsenes ultraliberales
Staatsverständnis übersetzte sich in der Realität oft genug in ein Gesetz
des Stärkeren.
Zur selben Zeit, als Bismarck angesichts politischer und sozialer Konflikte
und der aufbegehrenden Sozialdemokratie Wohlfahrts- und Polizeistaat
synchronisierte, also die Politik von Zuckerbrot und Peitsche betrieb,
setzte sich auf der anderen Seite des Atlantiks das Verlangen nach einer
Ordnungsmacht durch – einer Peitsche, aber ohne Zuckerbrot.
Ohne staatliche Wohlfahrt dienten die von Mitte bis Ende des 19.
Jahrhunderts gegründeten Police Departments von Anfang an der
Aufstandsbekämpfung und waren klar gegen sozial benachteiligte
Bevölkerungsgruppen gerichtet. Das statistisch deutlich höhere Armutsrisiko
nichtweißer US-Bürger*innen machte sie automatisch zum Hauptfeind der
Ordnungsmacht, die qua Auftrag seitdem kaum anders kann, als strukturell
rassistisch zu agieren, wie divers auch immer ihr Personal inzwischen
zusammengesetzt sein mag.
Der vor allem in antirassistischen Kontexten wie der
[5][Black-Lives-Matter-Bewegung] nun immer lauter werdende Ruf „Defund the
Police“, also danach, den Polizeibehörden die finanziellen Mittel zu
streichen, ist einerseits ein historisch begründeter Akt der
Selbstverteidigung. Da es den Aktivist*innen jedoch nicht einfach um die
Einsparung der Mittel, sondern deren Umwidmung für karitative Projekte,
community building, sozialen Stadtumbau und dergleichen geht, kann der
Slogan andererseits als politisches Programm zur nachholenden
Sozialdemokratisierung des US-amerikanischen Staatswesens gelesen werden.
Ein um bald 150 Jahre verspätetes Zuckerbrot.
Im direkten Vergleich wird die historisch gewachsene sehr unterschiedliche
Situation mehr als deutlich. Die Stadt Los Angeles zum Beispiel hat mit
rund 4 Millionen Einwohner*innen nur wenig mehr als Berlin und gibt sogar
ähnlich viel Geld für ihre Polizei aus (umgerechnet etwa 1,55 Milliarden
Euro gegenüber 1,6 Milliarden in Berlin). Gemessen [6][am Gesamthaushalt
der Stadt], ist das jedoch mit mehr als 16 Prozent der größte
Haushaltsposten. Die deutsche Hauptstadt gibt gerade mal gut 5 Prozent
[7][ihres Haushalts] für die Polizei aus, allein der Etat der Jugendämter
ist mehr als doppelt so groß.
Ist damit alles gut? Antifa-Aktivist*innen in Deutschland würden zu Recht
aufs Heftigste widersprechen, sind [8][rassistisch motivierte Übergriffe
durch die Polizei] doch auch hier Legion. [9][Racial Profiling],
[10][ungeklärte Todesfälle] in Haft und [11][enge Verbindungen von Beamten
zu rechtsextremen Strukturen] machen immer wieder Schlagzeilen. Die
[12][Diskussion nach der Vorstellung eines Antidiskriminierungsgesetzes in
Berlin] illustriert den offensichtlichen Reformbedarf nachhaltig.
Nicht nur rechts außen zu verortende Beamte wie der frühere
Abgeordnetenhauskandidat der Republikaner und heutige Landesvorsitzende der
Deutschen Polizeigewerkschaft, Bodo Pfalzgraf, beklagen einen
[13][„Generalverdacht“] gegen die Polizei. Wie auch in den Vereinigten
Staaten nach den wiederholt dokumentierten schweren rassistischen Ausfällen
fällt es den Verteidiger*innen der Polizei außerordentlich schwer, eine
Systematik der auftretenden Probleme anzuerkennen.
Der ungebrochene Korpsgeist und die affektive Abwehr jeglicher Kritik und
Kontrolle scheinen der Polizei in Deutschland wie in den USA bei allen
Unterschieden gemein zu sein. Der alte Vogt als unantastbare Verkörperung
der absoluten Macht steckt noch unter den Uniformmützen.
## Systematisch diskriminierende Gesellschaft
Das ständig reproduzierte Selbstbild der Polizei als generell sakrosankte,
unparteiische und über dem gewöhnlichen Einerlei stehende und vor allem
unpolitische Ordnungsinstanz hält sich überall hartnäckig. Deshalb stoßen
schon Rufe nach nur kleineren Reformen auch auf so heftigen Widerstand.
Darüber zu diskutieren, wie eine Organisation reformierbar ist, die von
Anfang an der sozialen Kontrolle und der Aufrechterhaltung des Status quo
dient, geht aber nicht nur in den USA am Kern des Problems vorbei.
Zumindest solange dieser Zustand systematisch und strukturell Menschen
sozial und rassistisch diskriminiert.
So wird es immer wieder unter kaum vorhersehbaren konkreten Umständen
passieren, dass sich Unzufriedenheit und Wut Bahn brechen, ob auf den
Straßen von Los Angeles, von Minneapolis oder vor einem Kreuzberger
Supermarkt. Die politisch zu beantwortende Kernfrage bleibt deshalb: Wem zu
dienen, was zu schützen, wessen Freund und Helfer?
11 Jun 2020
## LINKS
[1] /George-Floyd/!t5689277
[2] /Rassistische-Polizeigewalt-in-den-USA/!5688160
[3] /30-Jahre-Kreuzberger-Mai-Krawalle/!5401412
[4] https://web.archive.org/web/20170119162018/http://recht.denkmalnetzbayern.d…
[5] /Black-Lives-Matter/!t5320244
[6] http://cao.lacity.org/budget20-21/2020-21Proposed_Budget.pdf
[7] https://www.berlin.de/sen/finanzen/haushalt/haushaltsplan/artikel.5697.php
[8] /Proteste-gegen-Rassismus-in-Berlin/!5688131
[9] /Racial-Profiling/!t5009754
[10] /Gedenken-an-Oury-Jalloh-in-Dessau/!5654506
[11] /Uniter/!t5549503
[12] /Polizei-kritisiert-neues-Berliner-Gesetz/!5686216
[13] https://twitter.com/DietmarBartsch/status/1270298917356343299
## AUTOREN
Daniél Kretschmar
## TAGS
Black Lives Matter
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Polizei
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Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Deutsche Polizeigewerkschaft DPolG
Kolumne Habibitus
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