| # taz.de -- Katja Kipping über die Linke und Corona: „Niemand hörte auf Kas… | |
| > Während Genossen auf „Hygienedemos“ gehen, sorgt sich die | |
| > Linke-Parteivorsitzende Kipping um Verteilungskämpfe. Und denkt über | |
| > linke Bündnisse nach. | |
| Bild: Geht bei Gesprächen an die frische Luft: Katja Kipping | |
| taz am wochenende: Frau Kipping, Sie warnen vor Lockerungen in Sachen | |
| Corona. Aber niemand hört auf Sie. Ihr [1][Genosse Bodo Ramelow] will jetzt | |
| in Thüringen von Verboten zu Geboten übergehen. Fühlen Sie sich manchmal | |
| wie Kassandra? | |
| Katja Kipping: Nein, auf Kassandra hat ja niemand gehört, was für Troja | |
| verheerende Folgen hatte, während die Liste derjenigen, die für einen | |
| vorsichtigen Kurs sind, sehr lang ist, und vom Helmholtz-Institut, | |
| Robert-Koch-Institut und Max-Planck-Institut bis hin zu großen Teilen der | |
| Bevölkerung reicht. Der zeitgenössische Roman über die historische | |
| Kassandrafigur ist übrigens eines meiner Lieblingsbücher von Christa Wolf. | |
| Sie haben die Lockerungslobby kritisiert, als die noch aus Armin Laschet | |
| und Christian Lindner bestand. Nun hat sich der thüringische | |
| Ministerpräsident Ramelow an die Spitze gestellt. Fühlen Sie sich düpiert? | |
| Das Kind ist ja in dem Moment in den Brunnen gefallen, als man von einem | |
| bundesweit einheitlichen Vorgehen Abstand genommen hat. Die Aufkündigung | |
| der Einheitlichkeit ging nicht von Bodo Ramelow aus, sondern von Armin | |
| Laschet. | |
| Also ist CDU-Ministerpräsident Laschet schuld daran, dass Bodo Ramelow mit | |
| seinem Vorstoß die Tür für die aktuellen Lockerungspläne aufgetreten hat? | |
| Es ist kein Geheimnis, dass wir in Fraktions- und Parteispitze gegen einen | |
| Wettlauf bei den Lockerungen sind. Es geht mir auch gar nicht darum, jede | |
| Aussage von Bodo Ramelow zu verteidigen. Was ich aber wohlfeil finde, ist, | |
| dass Armin Laschet jetzt Bodo Ramelow angreift. Laschet hat zuallererst um | |
| die Öffnung der Autohäuser gekämpft, Bodo um die der Kitas und Schulen. Das | |
| ist ein Unterschied ums Ganze. | |
| Finden Sie die Öffnungen in Thüringen verantwortungsvoll? | |
| Richtig ist, dass man die Grenze, ab der die schärferen Maßnahmen greifen, | |
| auf 35 Infektionen pro 100.000 Einwohner absenken will. Ich finde zudem | |
| richtig, dass die Tests für die Lehrkräfte kostenfrei zur Verfügung | |
| gestellt werden. Richtig ist auch, die öffentlichen Gesundheitsämter zu | |
| stärken. | |
| Und was ist falsch? | |
| Wir machen Manöverkritik eher intern als über ein Zeitungsinterview. | |
| Problematisch war, dass der Eindruck entstanden ist, jetzt müsse man nicht | |
| mehr vorsichtig sein. Dass dieser Eindruck entstanden ist, hat Bodo Ramelow | |
| selbst geärgert. | |
| Hat er nicht selbst zu diesem Eindruck beigetragen? | |
| Mit seiner Aussage „Das Virus wird nicht verschwinden. Also werden | |
| Standards zur Abwehr die Regel und nicht mehr die Ausnahme“, hat er diesen | |
| Eindruck in der Öffentlichkeit korrigiert. | |
| Thüringen will Sachsen folgen und den Regelbetrieb in den Schulen wieder | |
| aufnehmen. Ist das richtig? | |
| Dass Kinder weiterhin nicht zur Schule und in die Kita gehen können, fällt | |
| mir persönlich richtig schwer. Nicht wegen meiner Tochter. Ich würde immer | |
| sagen, es gibt Kinder, deren Problem ist eher, dass die Eltern auch mal | |
| nerven, wenn sie Aushilfslehrer spielen. Aber die Schulschließungen sind | |
| für Kinder, die von zu Hause nicht so viel Förderung erhalten, ein echtes | |
| Problem, das sie womöglich um ein halbes oder ein ganzes Schuljahr | |
| zurückwirft. Dafür braucht es Lösungen. | |
| Aber? | |
| Aber bei den Lehrkräften gehören viele zu Risikogruppen oder sie leben mit | |
| Menschen zusammen, die zu Risikogruppen gehören. Mit deren Gesundheit und | |
| Leben darf man auch nicht spielen. | |
| Auch Schleswig-Holstein will ab Juni ohne Abstandsregeln unterrichten, | |
| Baden-Württemberg hat angekündigt, rasch wieder zum regulären Schulbetrieb | |
| zurückzukehren. Die Rückkehr zum Normalbetrieb ist unaufhaltsam, oder? | |
| Dass kleine Kinder die Abstandsregeln einhalten, ist eine sehr theoretische | |
| Annahme. Das Ziel muss sein, die Klassen so klein wie möglich zu halten, | |
| viel zu lüften oder eben Unterricht unter freiem Himmel durchzuführen. | |
| Seit der ersten Lockerungswelle Mitte Mai sind die Infektionszahlen nicht | |
| gestiegen, sondern gesunken. Sie hatten zuvor vor Hunderttausenden Toten | |
| gewarnt. Sie waren zu pessimistisch? | |
| Ich halte es immer mit Gramsci: Pessimismus des Verstandes, Optimismus des | |
| Willens. In der Coronapandemie geht es um Menschenleben, und bei einem so | |
| hohen Einsatz ist einfach Vorsicht geboten. Dass die Infektionszahlen noch | |
| nicht nach oben geschnellt sind, ist auch der Vorsicht der vielen im Alltag | |
| zu verdanken. | |
| Sie tragen, anders als ihre KollegInnen in der Fraktion, immer [2][eine | |
| Schutzmaske] im Bundestag. Werden Sie dafür belächelt? | |
| Nein. Maske tragen macht mir keinen Spaß, aber warum sollten für | |
| Bundestagsabgeordnete nicht die gleichen Regeln gelten wie für Friseurinnen | |
| oder den Verkäufer in meinem Späti? Und wenn Regierungsmitglieder mal acht | |
| Stunden mit einer Maske rumlaufen würden, hätten sie womöglich mehr Respekt | |
| für die Pflegekräfte, die solche Masken den ganzen Tag tragen müssen. Das | |
| würde vielleicht den Antrieb erhöhen, für bessere Löhne und kürzere | |
| Arbeitszeiten in der Pflege zu sorgen. | |
| Karl Lauterbach und Christian Drosten, die zur Vorsicht raten, werden | |
| massiv angefeindet, bis hin zu Morddrohungen. Sie auch? | |
| Noch nicht. Seit den „Hygienedemos“ nehmen allerdings die aggressiven, | |
| abfälligen Beschimpfungen zu. | |
| Der Vize der Linksfraktion, [3][Andrej Hunko], ist in Aachen bei | |
| „Hygienedemos“ aufgetreten. Wie finden Sie das? | |
| Bei uns gibt es die sehr klare Haltung, auf Distanz zu diesen Demos zu | |
| gehen. Auch der Landesverband NRW, aus dem Andrej kommt, hat sich klar | |
| kritisch positioniert. Es gab diese Woche in der Fraktion noch mal eine | |
| Aussprache dazu. | |
| Bleibt Andrej Hunko Fraktionsvize? | |
| Nach der Aussprache in der Fraktion hoffe ich sehr, dass er in Zukunft | |
| solchen Demonstrationen fernbleibt. | |
| Fanden Sie kritikwürdig, dass Hunko dort aufgetreten ist – oder was er dort | |
| gesagt hat? | |
| Problematisch ist, dass durch seinen Auftritt der Eindruck entsteht, dass | |
| die Linke sich mit diesen Demonstrationen gemein macht. | |
| Weil dort Verschwörungstheoretiker den Ton angeben? | |
| In der Auseinandersetzung mit diesen Demonstrationen ist es nur bedingt | |
| hilfreich, immer besonders laut „Verschwörungstheoretiker“ zu rufen. Ich | |
| nenne sie eher Coronaleugner oder -verharmloser. In der Konsequenz führt | |
| die Verharmlosung von Corona zu einer Rücksichtslosigkeit gegenüber | |
| besonders verletzbaren Teilen der Bevölkerung. Die „Hygienedemos“ sind | |
| deshalb kein Protest gegen „die da oben“. In der Konsequenz sind sie | |
| rücksichtslos. Dabei gibt es guten Grund für Protest. Uns drohen knallharte | |
| Verteilungskämpfe. Unsere Aufgabe als Linke ist es, uns dafür aufzustellen, | |
| und nicht, uns vorrangig an diesen Demonstrationen abzuarbeiten. | |
| Sie wollen Sozialproteste organisieren? | |
| In den Kommunen beginnt bereits die Auseinandersetzung über die Frage, wer | |
| die Krise bezahlen soll. Einige verhängen schon Haushaltsstopps. Ich habe | |
| diese Woche mit Kreisvorsitzenden telefoniert. Die sagen, mehr Leute als je | |
| zuvor wollen etwas tun, weil es jetzt um viel geht. Deswegen werden wir im | |
| Juni eine digitale Aktiventagung durchführen, wo wir schauen, mit welchen | |
| Aktionen wir reagieren. | |
| Welchen Schwerpunkt setzt die Linkspartei? | |
| Man darf nicht den Kommunen die Alternative aufdrücken: schließt das | |
| Schwimmbad oder das Frauenhaus. Wir müssen auf Bundesebene darum kämpfen, | |
| dass es Mehrheiten gibt für einen Lastenausgleich und eine Vermögensabgabe, | |
| damit die Kosten der Krise nicht jene bezahlen, die mit ihrer Arbeit den | |
| Laden am Laufen halten. | |
| Die SPD hat einen Schutzschirm für Kommunen gefordert. | |
| Der ist notwendig, deshalb hat die Linksfraktion schon vor Wochen einen | |
| entsprechenden Antrag im Bundestag gestellt. | |
| Sie kämpfen da an der Seite der SPD? | |
| Wenn das Ziel stimmt, kämpfen wir auch Seit an Seit, ja. | |
| Ist das jetzt die Zeit für einen erneuten Vorstoß für Rot-Rot-Grün im Bund? | |
| Den Begriff Rot-Rot-Grün mag ich nicht. Das ist Politsprech. Ich sage, wir | |
| brauchen Mehrheiten, die sicherstellen, dass die Mitte bessergestellt ist, | |
| alle vor Armut geschützt sind und wir mit Frieden und Klimaschutz für eine | |
| Zukunft für alle sorgen. | |
| Das ist keine so griffige Abkürzung. | |
| Das passt nicht in die Überschrift. Aber dafür sind Sie zuständig. Mir ging | |
| es jetzt um die Inhalte, für die neue linke Mehrheiten stehen. | |
| Ist das jetzt die Zeit, um gemeinsam mit SPD und Grünen für neue linke | |
| Mehrheiten zu kämpfen? | |
| Das ist durch die Krise nicht unbedingt einfacher geworden. Aber | |
| notwendiger. | |
| Sehen SPD und Grüne diese Notwendigkeit auch? | |
| Ich hatte kürzlich eine interessante Diskussion mit Lars Klingbeil im | |
| taz-Café. In der SPD sind nicht nur die üblichen Verdächtigen, die immer | |
| schon für Mitte-links waren, dafür. Auch bei Zentristen ist die | |
| Bereitschaft für eine Regierung links der Union so groß wie noch nie. | |
| Ist das glaubwürdig – oder bei der SPD aus schierer Verzweiflung geboren? | |
| Manchmal gibt es ja auch einen Motivationsmix. Wenn die Gesellschaft einen | |
| politischen Kurswechsel will, setzt das die politischen Akteure unter | |
| Druck. | |
| In Umfragen gibt es keine Mehrheit für SPD, Grüne und Linkspartei. | |
| Wir erleben jetzt das klassische Krisenphänomen. Dazu kommt der | |
| Merkel-Faktor. Aber die Einschätzung, wer in der Krise die richtige | |
| Kapitänin ist und welchen Kurs das Land für die Zeit nach der Coronakrise | |
| braucht, sind zwei verschiedene Paar Schuhe. | |
| Wollen Sie eigentlich noch mal für den Job der Parteichefin kandidieren? | |
| Ich werde mich rechtzeitig, das heißt etwa zwei Monate vor dem Parteitag in | |
| Erfurt, dazu äußern. | |
| Also im August? | |
| Genau. | |
| Im Jahr 2021 will die Linke laut Strategiepapier, an dem Sie mitgeschrieben | |
| haben, für einen Regierungswechsel kämpfen. Das werden Sie doch nicht in | |
| der dritten Reihe tun? | |
| Der Idee, für neue linke Mehrheiten zu sorgen, die grundlegend etwas | |
| verbessern, fühle ich mich auf jeden Fall verpflichtet. In welcher Funktion | |
| – darüber reden wir zu gegebener Zeit. | |
| 30 May 2020 | |
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| Anna Lehmann | |
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