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# taz.de -- Neues Album von Haftbefehl: Hybridsprache mit Störgeräuschen
> Musik für ein besseres Morgen: Rapstar Haftbefehl veröffentlicht „Das
> weiße Album“ – HipHop ohne jede Verschwörungstheorie.
Bild: Der Rapper Haftbefehl
Verglichen mit dem Altersdurchschnitt von HipHop-Künstler*innen ist Aykut
Anhan alt. Seine Musik wurde auf den Schulhöfen längst abgelöst von den
Typen in Fußballtrikots, die zu jung sind, um den von Anhan geprägten
Begriff „Babo“ als Jugendwort des Jahres 2013 überhaupt wahrgenommen zu
haben. Mittlerweile ist daraus der „Shabab“ geworden. Und dennoch: Mit
[1][seinen 34 Jahren ist Anhan ein gestandener Mann], der jüngere
HipHop-Generationen locker überlebt. Zumindest in jenem schnelllebigen
Kosmos, in dem er als Haftbefehl Musik veröffentlicht: Straßenrap.
Das wiederum ist ihm bewusst und diese Gewissheit ist das Beste, was seiner
Musik und seinem neuen, am 5. Mai offiziell erscheinenden fünften
Soloalbum, „Das weiße Album“, passieren konnte. Gleich zum Auftakt rappt er
„Es ist Haftbefehl, erst ab 18 / Digga, nix für Kinder“. Richtig gelesen,
Haftbefehl macht Straßenrap für Erwachsene. Und er schafft es, anders als
andere gestandene Deutschrapper, auf [2][jegliche rechte
Verschwörungstheorien, Streitereien mit anderen Künstler*innen und
sexistische Entgleisungen] zu verzichten. Verrennen, tut er sich an keiner
Stelle.
Für Kinder war Haftbefehl-Sound ohnehin nie gedacht. Kinder sollen sich
weder Geschichten über die Details der Produktion von Crack anhören noch
über die Atmosphäre von Saunaclubs im Bahnhofsviertel von Frankfurt am
Main. Denn die Crack-Steine, ihre Verkäufer, ihre Konsumenten und all die
Unorte, an denen sie produziert und vertrieben werden, die spielen seit
über zehn Jahren eine wichtige Rolle in Haftbefehls Musik. Die letzten vier
Alben waren nicht nur, aber auch eine Auseinandersetzung mit einem
schleichenden Entfremdungsprozess von seinem früheren Leben als
drogendealender Teenager in Offenbach, der aber nie so richtig zum
Abschluss kam.
## Präzise Beobachtungen
Dort wurde Anhan geboren, verlor früh seinen Vater, wurde kriminell und
floh zwischenzeitlich nach Istanbul, weil er per Haftbefehl gesucht wurde.
Nur durch Zufall bekam der Frankfurter Sänger Jonesmann die ersten
Rapversuche von Aykut Anhan mit und veröffentlichte 2009 dessen erste Songs
unter dem Künstlernamen Haftbefehl auf seinem inzwischen eingestellten
Label Echte Musik.
Mittlerweile ist Anhan selbst Vater, unterstützt mit seinem eigenen Label
junge Künstler*innen. Dank seiner Erfolge hat er ausgesorgt.
Als Rapper hat Haftbefehl nicht nur die präzisesten Beobachtungen aus
Milieus, die von einem Teil der Gesellschaft sonst vor allem argwöhnisch in
Reality-TV-Dokumentationen beäugt werden, etabliert und damit Klischees
relativiert. Er hat außerdem die Sprache im Deutschrap und so auch die
allgemeine Sprache junger Menschen hierzulande vielfach geprägt und um neue
Begriffe erweitert.
## Sound der Transitorte
„Plötzlich sprechen alle Kanackiş / Nord, Ost, Süd, West, ganz Deutschland
ist Offenbach am Main“ rappt er nun in dem Song „KMDF“ und schreit wie zur
Bestätigung ein langgezogenes „Ahh“ hinterher. Man könnte das als
Freudenschrei über den eigenenImpact deuten. „Kanackiş“ ist in dem Fall
eine Wortneuschöpfung für das Sprachgemisch aus den Ecken in Offenbach und
Frankfurt, an denen sich Haftbefehl früher aufgehalten hat und das ein
fester Bestandteil seiner Songs ist.
Türkisch, Arabisch, Französisch, Deutsch und weitere Sprachen vermischen
sich wie von selbst an den großen urbanen Transitorten wie dem Frankfurter
Bahnhofsviertel oder dem Kottbusser Tor in Berlin zu einem zeitgenössischen
Rotwelsch. Haftbefehl hat die Hybridsprache aufgegriffen und durch seine
Musik zu einem besseren gegenseitigen Verständnis auch abseits dieser
Transitorte beigetragen.
Er hat vor allem junge Menschen und die neue Rapgeneration dazu empowert,
selbstbewusst auch ihre zweite oder dritte Muttersprache in Songs und
Alltagssprech zu integrieren. Auch wenn „Babo“ also längst kein Modewort
mehr ist – „Shabab“, das der junge Berliner Rapper Pashanim auf seinem So…
„Shababs Botten“ populär gemacht hat, wäre es ohne Haftbefehl womöglich
nicht.
Wenn Haftbefehl auf „Das weiße Album“ sich also wütend darüber aufzuregen
scheint, wie sich Teile der Deutschrapszene entwickelt haben (seiner
Meinung nach zu Popsängern wie Peter Maffay), dann kann er sich das
durchaus erlauben. Zusammen mit dem Produzenten Bazzazian hat er eine
Soundformel erschaffen, die einmalig ist, dem Mainstream meilenweit voraus
und eben auch die perfekte Grundlage für ein paar cholerische Wutanfälle.
Von Maffay-Schunkelsound ist sie jedenfalls so weit entfernt wie es nur
geht.
## Brutalität im Klang
Haftbefehl-Sound besticht vor allem durch hochkomprimierte Basslines und
Drums. Die Hooklines erzeugen oft kaputte Störtöne. Sie wirken wie das
Geräusch von zerberstendem Metall. Wenn Haftbefehl in sehr hoher Tonlage
darüber reimt, erschafft das eine einzigartige Brutalität im Klang. Diese
Art von Songs, auf denen Haftbefehl sich freizubrüllen scheint, sind eine
von drei Säulen von „Das weiße Album“ und damit eine der drei Säulen des
erwachsenen Straßenrap-Sounds. Der besteht aus Wut/Aggression, Depression
und Eskapismus. Haftbefehl, und das macht seine Musik so einzigartig,
verzichtet dabei komplett auf Floskeln, wie sie im aktuellen Deutschrap
gängig sind. Jede Zeile sitzt. Es gibt keine Modemarken und Fußballernamen
als bloße Füllwörter.
Mit diesen drei Säulen knüpft Haftbefehl nahtlos an das Vorgängeralbum
„Russisch Roulette“ an. Die Traumataverarbeitung geht auf den drei Parts
der „1999“-Reihe und auf einigen weiteren Songs weiter. Sie sind der Ort
für präzise Beobachtungen der alten Umgebung und der Reflexion von
Erinnerungen an dicke Strafakten, die Eltern der Freundin, die ihn
verachteten und die Einsamkeit, die als Gefühlszustand geblieben ist.
Den Bruch der Melancholie mit Wut und Eskapismus inszeniert Haftbefehl dann
nicht nur mit Erzählungen über Weißgoldschmuck, Rolex-Uhren und Mafiapaten,
nicht nur mit Gepöbel. Er erfüllt sich auch einen Traum mit einem der
Gastmusiker. Auf „ICE“, einem jener Tracks, auf dem es vor allem um
Selbstdarstellung geht, unterstützt ihn [3][US-Rapstar Gucci Mane aus
Atlanta]. Die Kollaboration ist durchaus interessant und bezeichnend. Gucci
Mane hat in den USA ein ähnliches Standing wie Haftbefehl in Deutschland.
Mane hat ein Subgenre, in seinem Fall Trap, maßgeblich geprägt, wird auch
von der Konkurrenz geschätzt, hatte aber ähnlich wie Haftbefehl nie den
einen Megahit und Klickzahlen, die durch die Decke gehen. Ähnlich wie
Haftbefehl gilt auch Gucci Mane als enormer Einflussfaktor auf die
musikalische Entwicklung von US-HipHop. Auch wenn der Track der beiden
ästhetisch gar nicht zu „Das weiße Album“ passt, als Statement der
Internationalität macht er durchaus Sinn.
Ähnlich wie die eher halbgare Ode an die eigenen Söhne zusammen mit
Marteria. Es ist eine Weiterführung von Haftbefehls
Social-Media-Inszenierung als treusorgender Vater und deswegen Teil der
Gesamtperformance des Projekts Haftbefehl.
## Narben und Schmerzen
Keine Silbe verschwendet der Offenbacher dagegen über Verschwörungstheorien
und Antisemitismus. Obwohl er früher auch mal Reime droppte, die man als
antisemitisch lesen kann, so erwähnte er einst die sogenannte
Rothschild-Theorie. Mittlerweile hat sich Haftbefehl ausdrücklich davon
distanziert, er sucht den Dialog auch mit jüdischen Kritiker*innen und hat
sich entschuldigt. Auch das zeigt seine Sonderstellung innerhalb von
Straßenrap. Normalerweise wird bei Kritik entweder zurückgepöbelt und
relativiert, oder sie wird totgeschwiegen.
Verschwörungserzählungen, wie sie vor Kurzem noch bei Kollegen wie Sido und
Kollegah zu hören waren, finden bei Haftbefehl nicht statt. Auch das ist
Teil seines Erwachsenwerdens.
Während andere Rapper sich wieder und wieder in die Scheiße reiten, bleibt
Haftbefehl sauber. Harte Ansagen verlegt er auf ein lyrisches
Vergangenheits-Ich. Sie sind nur noch Projektion einer Realität, der er
längst entkommen ist. „Das weiße Album“ verkörpert ein Angekommensein und
es vertont Narben und Schmerzen, die trotz des Lebenswandels geblieben
sind.
5 Jun 2020
## LINKS
[1] /Neues-Album-von-Haftbefehl--Xatar/!5331841
[2] /Hate-Speech-Kontroverse-im-Deutschrap/!5669643
[3] /Neues-Album-von-Solange-Knowles/!5579263
## AUTOREN
Johann Voigt
## TAGS
Musik
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