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# taz.de -- Hamburger Rapperin Haiyti: Amphetamine in der Nase
> Haiyti macht deutschen HipHop. Und der ist zeitgemäß wie lange nicht –
> auch dank der Rapperin, die der Leistungsgesellschaft den Mittelfinger
> zeigt.
Bild: Inszenierung oder Realität? Wer sie ist, woher sie kommt, darüber spric…
Song aufnehmen, Video drehen, direkt ins Netz damit. So arbeiten die jungen
Deutschrap-Helden anno 2016. Sie heißen Yung Hurn, MC Bomber oder eben
Haiyti und treffen mit dieser Arbeitsweise das Lebensgefühl einer
Generation, die sich selbst scheinbar ungefiltert und ungemastert online
darstellt. Gitarren-Bands brauchen für diese Hochgeschwindigkeitswelt zu
lange.
Jene Generation, die gerade mit dem Smartphone in der linken und dem Laptop
in der rechten Hand groß wird, steht auf amateurhafte Momentaufnahmen aus
dem Alltagsleben, ganz gleich, ob auf Snapchat oder YouTube. Mittels mit
Handykamera gedrehter Videos und Reeperbahn-Luft atmendem Straßenrap auf
140 BPM-Beats ist die Hamburgerin Haiyti gerade DIE Künstlerin du jour.
Vor ihrer Nase dampft eine Lammkopfsuppe. Draußen regnet es, drinnen
versucht Haiyti herauszufinden, wer dieser Reporter ist, der da vor ihr
sitzt. Was will auf einmal die Tagespresse von mir, scheint ihr auf die
Stirn geschrieben. Was will die von ihr hören?
Dass sie bereits seit einigen Jahren Musik macht, sie aber bislang kaum
gehört wurde? Dass ihr bereits von diversen Untergrund-Rappern Talent
attestiert wurde, aber niemand den Mut aufbrachte, sie zu fördern? Dass
viele ihrer HörerInnen sich unsicher sind, ob sie das, was sie rappt, ernst
meint oder nicht?
## Perfekt aussehende Menschen
Ein silberner BMW, ein vollgesprühter S-Bahn-Zug, Hamburger Hochhäuser bei
Nacht. Haiytis Video zu „City Tarif“, einem ihrer bisher bekanntesten
Lieder, erfüllt lediglich Rap-Klischees. Dennoch: der Clip catcht, lässt
den Mauszeiger auf den „Noch mal“-Button wandern. Man sieht Haiyti im
silbernen Glitzer-Top, sieht sie gemeinsam mit ihren Freundinnen performen
und weiß erst mal gar nicht genau, was man daran eigentlich so gut findet.
Die eher unaufregende Bildauswahl und die medioker gesetzten Schnitte?
Die einfachste Erklärung für das eigene Hängenbleiben ist die, dass das
Video und Haiyti selbst im Widerspruch zu dem stehen, was man in den
meisten anderen Musik-Clips vorgesetzt bekommt: perfekt aussehende
Menschen, die einen mit Lederjacke, Goldkette und Gel im Haar, die anderen
gut geschminkt, perfekt unperfekt gestylt. Haiyti-Videos hingegen zeigen
junge Großstadtmenschen so, wie sie aussehen: vom Vorabend verkatert, in
Straßenklamotten, sinnbildlich wie tatsächlich ungeschminkt.
Allerdings ist die Optik eher ein kleiner Mosaikstein inmitten des
Gesamtfaszinosum Haiyti. Eine Künstlerin mit hoffentlich nicht mehr lange
unterschätzter Relevanz ist sie auch wegen dem, was im Zentrum ihrer Kunst
steht: ihre Texte, die zwar keinesfalls sämtliche Rap-Stilmittel aus den
Angeln heben, aber dennoch eine Qualität besitzen, die deutschsprachigem
HipHop zuletzt etwas abhanden gekommen schien: dreckige Dahingerotztheit.
Den Genre-Mainstream dominierten zuletzt vor allem das pop-geschulte
Songwriting von Casper und Marteria sowie ihren Epigonen und die
ellenlangen Reimkaskaden von Alphatieren wie Kollegah und Kool Savas. Sie
alle streben nach Perfektion. Die einen nach perfekten Songs, die anderen
danach, der Beste zu sein.
## Dusche in der Küche – sowas von Punk
Was junge RapperInnen wie Haiyti machen, ist hingegen Punk. Doch hat deren
Rebellion auch nicht viel mit dem politischen Sendungsbewusstsein von den
Feuilletonlieblingen K.I.Z. und Zugezogen Maskulin gemeinsam. Offensives
Aufbegehren scheint nicht Haiytis Ding. Ihre Texte erzählen eher aus einem
Leben, in dem es Alltag ist, sich mittels Speed und Kokain aus der Realität
rauszuballern, sich dem Leistungsprinzip radikal zu verweigern und nachts
statt tags zu leben.
Punk ist auch, wie eigentlich alle Vertreter der jungen
Deutschrap-Avantgarde ihre Kunst veröffentlichen: Ohne den abendländischen
Genie-Kult zu bedienen, ohne Facebook-Werbe-Offensive, veröffentlichen sie
ihre Musik spontan unmittelbar und meistens umsonst auf Plattformen wie
YouTube oder Soundcloud. Die Plattenfirma im klassischen Sinne, als
Entdeckungs- und Förderungsmaschine, ist in dieser Welt endgültig
abgeschafft.
Immer noch St. Pauli, ein Hinterhaus, eine kleine Wohnung im dritten Stock.
Die Duschkabine steht in der Küchenzeile, in der stapelt sich Geschirr. Im
Wohnzimmer fällt als Erstes eine große Leinwand auf: zwei, drei Meter breit
und ein mit Ölfarbe gemalter Sportwagen darauf. Leise puckert ein
Heizlüfter in der Mitte des Raumes. Über ihr Alter, ihren bürgerlichen
Namen, ganz allgemein über das, was den Menschen hinter der Kunst ausmacht,
möchte Haiyti nicht sprechen. Vielleicht ist es ihr unangenehm, vielleicht
künstlerische Störrigkeit.
Nachdem sie aus einer Plastikflasche, süßlich schmeckenden, selbst
gebrannten Likör aus Osteuropa eingeschenkt hat, fängt Haiyti an, in ihrer
Kiste zu kramen. Es gäbe da etwas, was sie gerne zeigen möchte, lieber als
interviewt zu werden. Man hat das Gefühl: Hinter dieser Frau steckt eine
große Geschichte. Nur dumm, dass sie mit der nicht rausrücken möchte.
„Zwei Scheine auf Rot, ich setz alles daneben/ Schon wieder die Acht, ich
will nicht drüber reden/ nein, laufe über dünnes Eis, mir komm fast schon
die Tränen“, rappt Haiyti auf „Festgenommen“, einem Song von ihrer letzt…
Umsonst-Veröffentlichung „City Tarif“, welches das gefährliche Leben feie…
und in subtil untergehobener Melancholie von einem Gigolo erzählt. Schwäche
zeigen und Stärke verkörpern stellen in Haiytis Musik keine
entgegengesetzten Pole dar, sondern finden selbstverständlich nebeneinander
statt. Mal rappt sie vom Koksticken, mal verfällt sie in leichten Singsang
und bekennt: „Ich denk leider zu viel nur an dich. Leute denken, ich bin
wahnsinnig, und wenn du mich dann fragst, was da los ist, sag ich: nichts.“
## „Aber schreib das mal bitte nicht auf“
Während die Konsensband der Stunde, die drei netten WG-Mitbewohner von
AnnenMayKantereit, dieser Tage sehr erfolgreich davon singen, dass sie
eigentlich nichts zu sagen haben, kennt Haiyti genug aufregende Geschichten
für mehr als ein Leben. Denn sie führt das prekäre Leben, von dem viele
Mittelschichtsbürger träumen, indem sie Popkultur konsumieren. Sie erzählt
von schweren Mädchen und Jungs, von Dealern und Zuhältern, von Amphetaminen
in der Nase und braucht dafür nicht mal einen Job im Call-Center.
„Ich stehe mit einem Fuß auf der Straße und mit dem anderen daneben als
Beobachter“, erklärt Haiyti, auf dem Fußboden ihrer Wohnung sitzend, immer
noch nach irgendetwas suchend. Die guten Sätze sprudeln nur so ihr heraus,
wenn man gar nicht erst versucht, ihr Fragen zu stellen. Mehrfach erzählt
sie irre Geschichten, um dann zu sagen: „Aber schreib das mal bitte nicht
auf, ich will mich nicht so darstellen.“
Ihre Erzählungen drehen sich meist um Nächte, die sie in Kneipen verbringt,
mit zwielichtigen Kieztypen oder einer der berühmtesten Songschreiberinnen
des Landes. „Aber egal, ob in dieser oder jener Welt, Exotin bin ich
immer“, sagt sie und hat endlich gefunden, was sie gesucht hat. Es ist eine
Art Tagebuch, ein Heft voller Sprüche, die ihren Alltag von vor drei Jahren
dokumentieren. Sie sagt, sie habe zig von diesen Heften vollgeschrieben.
„Soll ich dir nicht einfach daraus vorlesen und du nutzt das fürs
Interview?“, schlägt sie vor und liest: „Ich gehör zu den Leuten, die nic…
wissen, wie man Gehto (sic!) schreibt. Meine Muse raucht Blech. Es gibt
nichts Schöneres, als eine Partie Schach. Nurder Türabtreter weiß, wo ich
war.“
Einmal nur unterbricht sie, um aufgeregt aufzuschauen: „Ich bin eine
Künstlerin. Komplett. Schreib das auf!“
18 Apr 2016
## AUTOREN
Sascha Ehlert
## TAGS
HipHop
Drogen
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Musik
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David McAllister
Musik
Dean Blunt
Kendrick Lamar
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