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# taz.de -- Manche nennen es Cloud Rap: Eine Ästhetik des Draufhaltens
> Aus dem Netz in die Clubs: Das Berliner Künstlerkollektiv Live From Earth
> macht Musikvideos für eine neue Generation von Rappern.
Bild: Yung Hurn, Stoli trinkend auf der Spree
Man sagt, mit Berlin gehe es so langsam zu Ende. Der Geist der Neunziger,
der Geist des Aufbruchs sei längst passé, es verbleiben nun nur noch wenige
Jahre, bevor das Kapital endgültig die Deutungshoheit über das erobere,
wofür Berlin steht. Live From Earth, ein unabhängiges Künstlerkollektiv
ganz nah dran am Netz-Zeitgeist, beweist dieser Tage das Gegenteil.
Das Porträt eines Künstlers als junger Säufer. Der Künstler gibt sich
motiviert, lenkt sein Motorboot zielstrebig auf der Spree, raucht zwei
Zigaretten gleichzeitig und stellt sich der selbstgewählten
Herausforderung: drei Liter Wodka, Marke Stolichnaya. Der Alkohol beginnt
zu fließen, der Regen fällt, das Boot schwankt, die Konstitution schwindet.
Der Schnaps besiegt den Künstler, irgendwann hängt er an der Reling,
stöhnend – geschlagen gibt er sich dennoch nicht. Am Ende blickt er fast
flehend gen Himmel und singt dennoch: „Baby, bitte gib mir noch ein’
Schluck. Baby, komm, ich mach gluck, gluck.“
Der Name des Künstlers: Yung Hurn. Das Logo am Ende: schwarzer Grund,
arabische Schriftzeichen und lateinische Buchstaben, sie sagen: Live From
Earth.
## Ohne pompösen Ballast
Viele Menschen werden die Nase rümpfen, wenn man „Stoli“, ein bereits
600.000-mal geklicktes Video des Wiener Rappers Yung Hurn, als kunstvolles
Kleinod lobt. Immerhin scheint der Inhalt banal: Ein junger Tunichtgut
betrinkt sich auf einem Boot. Der Zuschauer und der Künstler sind gemeinsam
auf diesem Boot gefangen.
Diese Flussfahrt ist nur eines von mittlerweile knapp 30 Musikvideos, mit
denen das Künstlerkollektiv Live From Earth in den vergangenen zwei Jahren
das Genre Musikvideo um reichlich pompösen Ballast erleichtert hat. Live
From Earth, das ist eine lose Vereinigung von Musikern, Filmemachern und
Künstlern, gegründet und beheimatet in Berlin, weshalb wir sie auch dort
treffen, auf dem Schöneberger Teil der Potsdamer Straße, in irgendeinem
Irish Pub: Max, Elias und Lorenz sowie der frisch zum Team gestoßene Ruben,
die gemeinsam die filmischen und organisatorischen Aufgaben des Kollektivs
stemmen.
## Den Zeitgeist treffen
„Elias und ich haben uns bei den Protesten gegen den G-8-Gipfel 2007 in
Heiligendamm kennengelernt“, erzählt Max, und Elias ergänzt: „Lorenz
wiederum haben wir auf dem Nachhauseweg von ’ner Gegendemo gegen einen
Naziaufmarsch in Dresden kennengelernt. Lorenz lag unter der Sitzbank, weil
er sich vor den Bullen verstecken musste. Als er dann auf einmal
zwischendurch zwischen meinen Beinen auftauchte, dachte ich mir: Klar, dis
is’n guter Typ.“
Sie sind eine handvoll Idealisten mit großen Träumen, die eine Ästhetik
kreiert haben, die den Zeitgeist trifft und weit über die eigene Szene
hinausweist.
## Figaro, Figaro
Die beiden Musiker, die diesen bemerkenswerten Erfolg bislang entscheidend
prägen, heißen LGoony und eben Yung Hurn. Spätestens seit das
Popkulturmagazin „Tracks“ auf Arte die beiden im vergangenen November
vorstellte, ist auch Live From Earth in aller Munde. Yung Hurn, von dem man
weder Alter noch bürgerlichen Namen kennt, brachte in dem kurzen Filmchen
auf den Punkt, was seine Musik so faszinierend macht: „Wenn ein Text bei
mir länger als zehn Minuten dauert, ist er schon meistens nicht mehr gut.“
Tracks begleitete ihn beim Dreh zum Video für sein Kitschlied
„Opernsänger“, in dem er davon säuselt, dass er für dich und deine Eltern
Opernsänger wird – wenn du willst. „Figaro, Figaro, ich hab Karten für die
Oper“, singt er.
„Die Aufnahmen sind sozial-dokumentarischer Natur, die filmische
Festhaltung einer Woche mit Yung Hurn in Berlin. Wir waren einfach viel
unterwegs mit ihm, und wenn wir irgendwo was ästhetisch interessant fanden,
haben wir halt draufgehalten“, erklärt Max die Arbeit am Video.
Mittels dieser Ästhetik des Draufhaltens schaffen es Live From Earth, ihren
Videos einen analogen Geist einzuimpfen, obwohl diese ausschließlich auf
YouTube geschaut werden können. Die Musikvideos von Live From Earth
schaffen Nähe, scheinen einen Einblick in den realen Alltag der
performenden Musiker zu geben. „Wir schaffen das, weil wir die Leute, mit
denen wir arbeiten, gut kennen. Das sind in der Regel unsere Freunde“,
erklärt Elias, und Lorenz fügt hinzu: „der Rest, das Konzept, passiert dann
beim Machen. Und wenn mal was nicht funktioniert, gibt’s Wodka.“
Diese Herangehensweise hebt ihre Videos von dem perfekt geskripteten
Musikclip-Einerlei ab und ist gleichzeitig vor allem: nah dran an der
Arbeitsweise einer mit dem Internet groß gewordenen Musikergeneration, die
ihre Kunst für umsonst im Netz veröffentlicht und von der Vermarktung bis
zum Vertrieb auch das Geschäftliche selbst stemmt.
## Gegen alte Regeln
Auch Live From Earth wollen mehr sein als ein Kollektiv, das Musikvideos
veröffentlicht. So besitzen sie auch einen Kanal bei der Musikplattform
Bandcamp, über die Künstler ihre Musik selbst im Netz vertreiben können.
Meistens zieht bei Bandcamp das Prinzip: Du kannst bezahlen, musst aber
nicht. Entweder du downloadest eine EP oder ein Album für umsonst, oder du
spendest. 85 Prozent der Einnahmen gehen direkt an die Künstler, 15 Prozent
an Bandcamp.
Ein ideales Geschäftsmodell für Künstler, die sich nicht den veralteten
Regeln der Musikindustrie unterwerfen wollen. Auf dem Bandcamp-Kanal von
Live From Earth kann man zurzeit drei Veröffentlichungen von Yung Hurn
herunterladen und eine von Rin, einem jungen Stuttgarter mit einem
Soundentwurf irgendwo zwischen vernebeltem HipHop und modernem R’n’B.
## Schallplatten sind das Schönste
„Das wissen wir selbst noch nicht“, antwortet Elias auf die Frage, wie Live
From Earth irgendwann von ihrer Arbeit im Netz leben wollen. Man habe das
Kollektiv ohnehin nicht mit Erwerbsmöglichkeiten im Sinn gegründet.
Nichtsdestotrotz gibt man sich zuversichtlich: „Wir werden weiter
regelmäßig Partys und Konzerte veranstalten, über unseren Online-Shop
verkaufen wir Shirts und Pullis, vor allem aber gehen wir bald mit
limitierten Vinyl-Ausgaben unserer Veröffentlichungen an den Start, immer
300 Stück“, erklärt Max. Schallplatten seien ohnehin das Schönste.
Ganz im Gegensatz zu der Erwartungshaltung der Kulturpessimisten empfinden
die Mittzwanziger Umsonstmusik dennoch keinesfalls als weniger wertvoll als
das gute alte Album. „Im Gegenteil, uns spenden auch immer mehr Leute Geld
auf Bandcamp. Das ist ohnehin ein schönes Gesellschaftsmodell. Wenn wir in
irgendeiner VoKü essen gehen, dann spenden wir doch selbstverständlich
auch. Warum sollte dasselbe Prinzip nicht auch in der Musik funktionieren“,
sagt Lorenz, und Max fügt hinzu: „Gerade in Berlin muss man doch aufpassen,
dass nicht alles den Bach runtergeht. Vielleicht ist es unsere geheime
Aufgabe, das Prestige der Stadt am Leben zu halten.“ Grinsen.
## Die richtige Stadt
Das Schöne an der bisherigen Schaffensgeschichte von Live From Earth ist
nicht nur das Eigenbrötlerische, mit der das Kollektiv die Konventionen von
Musikindustrie und HipHop-Szene unterwandert, sich langsam, aber sicher
eigene Strukturen aufbaut und gleichzeitig offen dafür bleibt, in naher
Zukunft auch weitere künstlerische Nischen zu bespielen.
Darüber hinaus beweisen Live From Earth nämlich, dass Berlin weiterhin die
richtige Stadt ist, wenn man mit wenig Kohle, aber guten Ideen und gelebtem
Idealismus Geld verdienen will.
9 Apr 2016
## AUTOREN
Sascha Ehlert
## TAGS
Musik
Rap
Neue Musik
Beatles
HipHop
German Angst
HipHop
Jazz
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