# taz.de -- Studieren in Corona-Zeiten: Seminar in der Jogginghose | |
> Unsere Autorin erzählt, warum sie im digitalen Semester vereinsamt – und | |
> warum Hannah Arendt im engen WG-Zimmer schwere Kost ist. | |
Bild: Sehnt sich nach Uni-Alltag: Studentin Mareike Andert in ihrem WG-Zimmer i… | |
TÜBINGEN taz | Es ist Zeit für den täglichen Kontrollblick. Ich stehe vor | |
dem Spiegel und prüfe meine Augen. Jeden Abend. Sind sie viereckig? Seit | |
einem Monat läuft das Online-Semester in Tübingen. Statt auf knarzenden | |
historischen Holzbänken im Hörsaal sitze ich Tag für Tag in meinem Zimmer | |
vor dem Laptop. | |
Von hier zoome ich mich in die Welt der Politikwissenschaft und der | |
Allgemeinen Rhetorik zu Vorlesungen und Seminaren. Auf meinen 12 | |
Quadratmetern Arbeits- und Schlaffläche fällt mir aber eher die Decke auf | |
den Kopf als neue Erkenntnisse. Die Corona-Beschränkungen lehren mich | |
Selbstverständliches neu zu schätzen. Wie Diskussionen. Und sie zwingen | |
mich, Neues zu lernen: Technik und Disziplin. | |
Die erste Woche – ein Sprung ins kalte Wasser. Am Montag, dem 20. April, | |
geht die Uni los. Eine Woche später als regulär und ohne | |
Präsenzveranstaltungen. [1][Also plötzlich alles digital]. Geglaubt habe | |
ich das nicht. Bin ich es doch seit fünf Semestern gewohnt, dass Dozierende | |
den Beamer nicht bedienen können, Materialien nicht auf die Lernplattform | |
Ilias laden können oder die Drucker wegen Server-Problemen ausfallen. Die | |
erste Zoom-Sitzung am Montagmorgen verpasse ich prompt. Als ich der | |
Dozentin schreibe, meldet sie mir lieb zurück, dass das gar kein Problem | |
sei. Total verständnisvoll und flexibel kommen mir alle vor. | |
Der Kopf schwirrt mir von den vielen E-Mails und Chatnachrichten der | |
Dozierenden. Nichts ist einheitlich bei meinen acht Kursen. Die Infos muss | |
ich mir zusammenklauben. Die Fülle an unterschiedlichen Formaten erschlägt | |
mich. Bei einer Vorlesung sind die Videos auf Youtube hochgeladen, bei | |
einer anderen muss ich sie von der Lernplattform Ilias runterladen, die | |
dritte findet live auf Zoom statt. Wie auch mein Russischkurs, ein | |
Rhetorikseminar und ein Politikseminar. | |
## Acht Kurse, acht Herangehensweisen | |
Letzteres startete zwar mit der Software Cisco Webex, die wollte aber nicht | |
funktionieren. Zusätzlich zu den aufgezeichneten Vorlesungen finden | |
Frage-Antwort-Stunden statt, per Zoom oder einem Chat. Ein Politikseminar | |
zu Hannah Arendt findet dagegen nur im Selbststudium statt: Der Dozent lädt | |
Texte hoch; ich schicke ihm Hausaufgaben zurück. | |
Montagmittag, an besagtem 20. April, schaffe ich es dann zur Seminarsitzung | |
auf Zoom. Als ich das Programm runterlade, stürzt mein Laptop, Baujahr | |
2014, ab. Wieder hochfahren. Der Dozent bittet, die Kameras anzumachen, | |
damit er nicht mit seinem schwarzen Bildschirm reden muss. Ich lasse meine | |
lieber aus. Will ich, dass alle mein Zimmer sehen? Reicht die | |
Internetkapazität überhaupt in meiner 6er-WG? Immer wieder ist die | |
Internetverbindung instabil und ich bekomme nicht alles mit. | |
Fazit der ersten Woche: vollkommene Überforderung. Alles dauert länger. | |
Meine einzige Hoffnung ist das neue Mantra: „Gemeinsam schaffen wir das. | |
Unterstütze Sie sich gegenseitig“, heißt es so oder so ähnlich in jeder | |
Mail und am Anfang und Ende jeder Veranstaltung. Die Dozierenden wirken | |
nahbarer, fragen nach Hilfe, hören zu. Wir sitzen alle im selben Boot. Das | |
vereint Studierende und Professor*innen ungewöhnlich stark. [2][Daten | |
schützt Zoom zwar nur bedingt], stellt aber Egalität her. | |
Um sich Arendt nicht nur im Selbststudium anzueignen, bilden drei | |
Kommilitoninnen und ich in der zweiten Woche einen Diskussionskreis. Wie | |
soll ich mir denn Arendts Freiheitsbegriff eingesperrt auf 12 Quadratmetern | |
erarbeiten? Ich brauche das Gespräch, muss meine Thesen, das Gelesene | |
prüfen, darüber diskutieren. Wir verabreden uns per Videotool Jitsi. Da die | |
Verbindung grottig ist, telefonieren wir ganz klassisch und bearbeiten die | |
Hausaufgaben. Hausaufgaben gibt es in den meisten Kursen. Plus feste | |
Abgaben wie zu Schulzeiten. | |
## WG schafft WLAN-Verstärker an | |
Mit der Internetleistung hat auch die Uni zu kämpfen. Sie bittet: Die | |
Lernplattform Ilias „tagsüber von 12:00 bis 14:00 Uhr NICHT nutzen“, damit | |
Lehrende Lernmaterialien einstellen können. Außerdem solle man Ilias | |
möglichst nicht zwischen 10 und 16 Uhr nutzen, weil das die am stärksten | |
frequentierte Zeit sei. „Je früher morgens oder später abends Sie arbeiten, | |
um so performanter wird Ilias reagieren“, heißt es. | |
Dass das Uni-Netz überlastet ist, merke ich auch bei der | |
Frage-Antwort-Stunde per Ilias-Chat: Der Dozent ist plötzlich weg – | |
rausgeflogen. Vorlesungen per Zoom klappen auch mit 150 Studierende | |
erstaunlich gut. In der WG schaffen wir einen WLAN-Verstärker an, damit die | |
Verbindung für uns alle sechs stets gut genug ist. | |
Für die technischen Dinge finden sich Lösungen; [3][bei den | |
Verhaltensregeln] scheint es schwieriger: Welche Etikette gilt bei Chats | |
und Videokonferenzen? Essen vor dem Bildschirm? Manche*r raucht gar. Wie | |
begrüße ich die anderen? In die Kamera lächeln? Am Ende winken? Klatschen? | |
Statt zu klatschen, drücken einige die Applaus-Funktion bei Zoom nach der | |
Vorlesung. Vorlesungs-Feeling stellt sich trotzdem nicht ein. Ein komisches | |
Gefühl bleibt, wenn ich nach dem neuen Input allein in meinem Zimmer | |
zurückbleibe. Manchmal in Jogginghose. | |
Fazit der zweiten Woche: Für Hausaufgaben sind Struktur und | |
Selbstorganisation gefragt. Und es gilt, eine neue Etikette zu lernen. | |
## Referat vor dem Laptop | |
In Woche drei muss ich zwei Gruppenreferate halten. Die Vorbereitung läuft | |
über Videokonferenzen, und auch die Sprechstunden mit den Dozierenden. Bei | |
dem einen Referat sprechen wir über die Power-Point-Präsentation unseren | |
Text ein und laden sie dann für die Kommiliton*innen auf Ilias hoch. Eine | |
ganz neue Herausforderung, das Referat ohne Publikum aufzusagen. | |
Das andere halte ich live auf Zoom. Hier gibt es zumindest virtuelles | |
Publikum. Trotzdem neu: meinen Bildschirm mit den anderen Studierenden und | |
dem Professor zu teilen. Doch auch hier fehlen die direkten Reaktionen, die | |
Mimik. Wegen Störgeräuschen sind alle Mikrofone stumm geschaltet, außer | |
meinem. Es ist ungewohnt und gewöhnungsbedürftig, kein direktes Feedback zu | |
bekommen. | |
Auch wenn es in manchen Veranstaltungen durchaus Raum für Diskussionen | |
gibt, geht etwas schwer zu Beschreibendes verloren bei Videokonferenzen. | |
Wir sprechen miteinander, sehen einander teilweise und doch fehlt etwas. | |
Die kleinen Sachen. All die Dinge, die wir sonst intuitiv wahrnehmen. Ein | |
richtiger Austausch kommt nicht in Gang. Wer nicht redet, hat sein Mikrofon | |
aus: Es gibt keine Lacher oder Zwischenkommentare. Kurz: Die Atmosphäre ist | |
steril, irgendwie leblos. Kurzes Getuschel mit dem Nachbarn: unmöglich. | |
Spannenden Thesen des Professors mit einer Freundin nebenher nachgehen und | |
Querverbindung schlagen: unmöglich. | |
Für unseren Diskussionskreis zu Arendt treffen wir uns bei gutem Wetter nun | |
hinter der Uni-Cafeteria. Hier können wir vis-à-vis miteinander reden und | |
trotzdem Abstand halten. Das tut gut! Trotzdem: Der Dozent fehlt. Wir haben | |
tausend Fragen zu Arendts Unterscheidung von „privat“ und „öffentlich“… | |
ob sie eine Feministin war. | |
## Sehnsucht nach der FDP! | |
Fazit Woche drei: Die Referate habe ich online gemeistert und konnte | |
technisch einiges lernen. | |
Vielleicht läuft es deshalb in Woche vier fast wie am Schnürchen. Andere | |
Probleme bleiben. Verstärken sich. Da die Bibliothek nur stark | |
eingeschränkt genutzt werden kann, kann ich keine Texte ausdrucken. | |
Schlecht eingescannte Bücher am Bildschirm zu lesen ist nun wahrlich keine | |
Freude. | |
Es strengt mich immer mehr an, für mich allein in meinem kleinen Raum zu | |
lernen und wenig inhaltlichen Austausch zu haben. Und wenn, dann auch meist | |
über den Bildschirm. Die sonst so selbstverständlichen Diskussionen im | |
Hörsaal, im Seminarraum oder auf den Uni-Gängen fehlen. Ich vermisse selbst | |
die Kommentare von Kommiliton*innen, die gänzlich anderer Meinung sind. Da | |
der FDPler, da die konservative SPDlerin. Ich klage auf hohem Niveau. Ich | |
habe weder ökonomische Probleme, als Studentin durch die Coronakrise zu | |
kommen, noch vereinsame ich sozial komplett. Denkerisch und geistig aber | |
durchaus. | |
Fazit der vierten Woche: Meine Augen sind noch mandelförmig, keine Spur von | |
Vierecken. Der Computer macht einsam. Die 12 Quadratmeter engen ein. Die | |
Sehnsucht nach einem knarzenden Hörsaal und Kommiliton*innen wächst. | |
Das Semester wird noch sehr lang. | |
26 May 2020 | |
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Mareike Andert | |
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