| # taz.de -- Pianist über künstlerische Arbeit: „Musik ist wie Trinkwasser“ | |
| > Der Hamburger Pianist Florian Heinisch erfreut sich aufgrund seiner Verve | |
| > und seinen ambitionierten Programmen immer größerer Aufmerksamkeit. | |
| Bild: Könnte 24 Stunden am Tag am Flügel sitzen: Pianist Florian Heinisch | |
| taz: Herr Heinisch, wären Sie ohne Ihre Großmutter Pianist geworden? | |
| Florian Heinisch: Wahrscheinlich. Schon als Kind wollte ich spielen. Aber | |
| meine Großmutter, Kirchenorganistin in Frankfurt/Oder, war schon eine | |
| außergewöhnliche Frau, die sich leidenschaftlich der Musik verschrieb und | |
| diese Begeisterung auch auf andere übertrug | |
| Dabei hatte sie es sicher nicht leicht in der kirchenfernen DDR. | |
| Mein Großvater war Pfarrer; dadurch war sie wohl ein bisschen geschützt. | |
| Sie hat allerdings wenig über diese Zeit gesprochen. | |
| Wie haben Sie sie musikalisch erlebt? | |
| Das war durchaus prägend: Schon wenn ich als Kind in die Wohnung meiner | |
| Großeltern kam, war ich hin und weg: Da standen ein Steinway-Flügel, eine | |
| Heimorgel, ein Spinett! Und wenn wir zu Besuch waren, musizierte die ganze | |
| Familie. Das war für meine Großmutter ein heiliges Ritual, das wir bis | |
| heute auf Familienfeiern pflegen. | |
| Ihre Eltern haben Sie von klein auf unterstützt und zu Wettbewerben | |
| gefahren. Haben Sie das nie als Drill empfunden? | |
| Soweit ich mich erinnern kann, war es immer meine eigene Entscheidung. Es | |
| gab natürlich schwierige Phasen, aber gezwungen wurde ich nie. | |
| Welche schwierigen Phasen meinen Sie? | |
| Als Musiker müssen Sie immer abwägen, wie viel Arbeit, Leidenschaft, Zeit | |
| Sie investieren. Wie tief gehen Sie in die Musik hinein? Das ist ein Fass | |
| ohne Boden. Ich könnte mich 24 Stunden an den Flügel setzen und wäre immer | |
| noch nicht fertig. Die Frage ist: Wann gönne ich mir Entspannungsphasen, in | |
| denen ich den Geist schweifen lasse, vielleicht Inspiration bekomme? Da die | |
| richtige Balance zu finden, fiel mir als junger Mensch schwer. | |
| Heute nicht mehr? | |
| Inzwischen weiß ich ziemlich genau, was ich brauche. Das ist natürlich nie | |
| in Stein gemeißelt, aber im Moment fühle ich mich gut im Gleichgewicht. | |
| Was erwarten Sie generell von der Musik? Dass sie Ihnen hilft zu leben? | |
| Musik ist mein Leben. Das sagen wahrscheinlich viele, aber für mich ist | |
| Musik wie für andere das Wassertrinken. Sie ist ein unverzichtbarer | |
| Bestandteil meines Lebens – und, wie ich finde, unser aller Leben. Wenn wir | |
| zu empathischen Menschen werden wollen, kommen wir an Musik – wie an jeder | |
| Facette von Kultur – nicht vorbei. Sie ist das, was Geist und Seele Nahrung | |
| gibt. | |
| Wenn die Musik Ihr Leben ist: Laufen Sie als Profimusiker nicht Gefahr, | |
| Ihre Seele zu verkaufen? | |
| Das klingt so negativ. Ich würde eher sagen: Ich gebe meine Seele dem hin | |
| und kann nicht mehr zurück. | |
| Und wie verläuft Ihre Begegnung mit einem neuen Stück? | |
| Ich lese Biografien des Komponisten und befasse mich mit der Epoche. Mit | |
| diesem Wissen versuche ich das Stück „wörtlich“ zu spielen, bis ich es | |
| verinnerlicht habe. Danach geht die echte Arbeit los, und ich fange ich an, | |
| meine Persönlichkeit einfließen zu lassen. Je länger ich an einem Stück | |
| arbeite, desto mehr Freiheiten erlaube ich mir. | |
| Lässt sich dieses „Freischwimmen“ steuern? | |
| Am Ende lässt es sich nicht mehr steuern, daher ist das erwähnte Fundament | |
| so wichtig. Auf dieser Basis kann ich mir im Konzertsaal die größtmöglichen | |
| Freiheiten erlauben, ohne die Persönlichkeit des Stücks zu stören. Dazu | |
| kommen die äußeren Faktoren: Ich finde jedes Mal ein anderes Instrument | |
| vor, einen anderen Raum, ein anderes Publikum. Und genau das freut mich so: | |
| dass jedes Konzert anders ist und dass das nicht nur von mir abhängt. | |
| Die Dechiffrierung musikalischer Botschaften sei wichtig, betonen Sie im | |
| Booklet Ihrer [1][Beethoven-CD „An die unsterbliche Geliebte“]. Sie machen | |
| das fest an einer Sequenz, die sich als ein Seufzer des Komponisten deuten | |
| lässt, gerichtet an Josephine von Brunsvik. Widerspricht diese Akribie | |
| nicht Ihrer Idee von Freiheit? | |
| Ich finde nicht. Natürlich könnte man sagen, dass es egal ist, wen | |
| Beethoven 1812 in seinem „Brief an die unsterbliche Geliebte“ meinte, deren | |
| Identität ja immer noch unklar ist. Trotzdem finde ich es interessant, | |
| darüber nachzudenken, denn hier offenbart sich ein Teil seines | |
| Seelenlebens. Und wenn ich mich mit einem Komponisten befasse – und | |
| Beethoven hat als einer der ersten eigene Gedanken und Emotionen so | |
| intensiv in seine Musik gebracht – dann muss ich mich auch dem Chiffrierten | |
| widmen. | |
| Muss man dem Komponisten sein Geheimnis entreißen? | |
| Na ja, ganz geheim wollte er es wohl doch nicht halten, sonst hätte er es | |
| nicht chiffriert. Darin besteht ja gerade der Widerspruch des Komponisten: | |
| dass er einerseits Dinge im Geheimen lassen, andererseits ein Rätsel zum | |
| Knobeln aufgeben möchte. | |
| Glasklar ist dagegen der Hintergrund von Karlrobert Kreitens „Ungespieltem | |
| Konzert“, das Sie 2016 erstmals seit seinem Tod aufführten. | |
| Ja. Der 27-jährige Nachwuchspianist wurde 1943 unmittelbar vor einem | |
| Konzert in Heidelberg verhaftet und später in [2][Berlin-Plötzensee] | |
| hingerichtet. In dem Projekt wollte ich die Stücke, die Kreiten nicht mehr | |
| spielen konnte, dem Publikum wiedergeben und an das Schicksal dieses | |
| Musikers erinnern. | |
| Kreiten wurde wegen weniger unbedachter Sätze denunziert – und ermordet. | |
| Ja. Gegenüber einer Freundin seiner Mutter hat er angesichts der Niederlage | |
| der deutschen Wehrmacht bei Stalingrad gesagt, dass der Zweite Weltkrieg | |
| verloren und Hitler „wahnsinnig“ sei. Die Frau verriet ihn ans NS-Regime | |
| und schickte ihn so in den Tod. Dass hier jemand, der doch nur die Wahrheit | |
| sagte, ermordet wurde, geht mir bis heute nahe. Deshalb – und weil ich nun | |
| mal dem Volk der NS-Täter angehöre – fühle ich mich verpflichtet, die | |
| [3][Erinnerung] an ihn und alle anderen Opfer des NS-Regimes wachzuhalten. | |
| Für dieses Jahr hatten Sie ein Konzert geplant unter dem Titel „Wilde | |
| Fantasien für eine Welt ohne Grenzen“ – das klingt politisch. Welches ist | |
| die Idee dahinter? | |
| Dass wir in einer idealen, grenzenlosen Welt alle so respektvoll | |
| miteinander umgehen, dass die Herkunft keine Rolle spielt. Ich finde es | |
| wichtig, das jetzt zu sagen, weil die aktuellen Entwicklungen – auch schon | |
| vor der Coronakrise – eher in die andere Richtung gehen. Man schließt | |
| Grenzen, nimmt Freiheiten weg. Dem möchte ich eine Vision entgegensetzen. | |
| Aber was haben die Stücke dieses Programms – von Beethoven, Mendelssohn, | |
| Ligeti und Schumann – mit offenen Grenzen zu tun? | |
| Jedes Stück ist entweder als Fantasie bezeichnet oder transportiert | |
| fantastische und damit visionäre Gedanken. Der zweite Aspekt betrifft die | |
| Struktur. Generell gibt es ja zwei Formen von Musikstücken: diejenige, | |
| deren Komponist eine sehr feste Struktur anlegt, in deren Grenzen man sich | |
| dann bewegt – wie bei einer Sonate oder Sinfonie. Das andere Extrem ist: | |
| Der Komponist löst die Strukturen auf und versucht innerhalb des Chaos neue | |
| zu schaffen – wie in der musikalischen „Fantasie“. Die Stückauswahl steht | |
| also auch für das Wechselspiel von Struktur und Chaos, von starrer | |
| „Grenzsicherung“ und toleranter Durchlässigkeit. | |
| Sprengen Sie die Grenzen der klassischen Musik manchmal auch durch | |
| Improvisation? | |
| In der Tat habe ich eine Zeit lang Improvisationsunterricht genommen, weil | |
| mich das interessierte. Und im Konzert ist es natürlich gut zu wissen, dass | |
| man im Notfall improvisieren könnte. Es nimmt einem die Angst, dass Fehler | |
| passieren, aus denen man nicht mehr herausfindet. Und was die konkreten | |
| Noten betrifft: Natürlich sind bei klassischer Musik Lautstärke und Tempo | |
| angegeben. Aber dazwischen liegt viel „Ungesagtes“, das interpretiert | |
| werden muss. Und hier fangen wir an, über Improvisation zu sprechen. | |
| Die haben Sie unter anderem bei dem Jazzpianisten Richard Beirach gelernt. | |
| Hat das Ihr Spiel verändert? | |
| Ja. Erstens hat mir dieses Studienjahr den Tunnelblick genommen. Viele | |
| Klassik-Musiker glauben ja, Jazz sei bloß „zweite Liga“. Wie ich erstaunt | |
| feststellte, ist das im Jazz anders. Alle Jazz-Musiker, denen ich begegnet | |
| bin, haben eine riesige Hochachtung vor uns klassischen Musikern. Auch | |
| [4][Beirach] findet, dass jeder Jazzpianist Beethoven und Bach auf hohem | |
| Niveau spielen können muss. Und es war faszinierend zu erleben, mit welcher | |
| Freiheit Beirach Bach spielte. Das war so lebendig und klang, als ob das | |
| Stück in diesem Moment entstünde. Es war eine spannende Art Musik zu | |
| spielen: als ob Gegenwart und Vergangenheit zu einer Symbiose verschmölzen. | |
| Spielen auch Sie seither Beethovens extrem schwere „Hammerklaviersonate“, | |
| als ob sie Ihnen gerade erst einfiele? | |
| Ich versuche es. | |
| Derzeit ist öffentliches Musizieren nicht möglich. Ein Problem für Sie? | |
| Ich empfinde es als sehr schwierige Zeit. Durch Konzerte mit dem Publikum | |
| zu kommunizieren verleiht meiner Arbeit erst Sinn. Deshalb fühlt sich die | |
| aktuelle Zwangspause wie ein vorübergehendes Berufsverbot an. | |
| Die Krise bietet also keinerlei Chance? | |
| Allenfalls, dass die Menschen vielleicht begreifen lernen, dass Kultur | |
| nicht selbstverständlich ist, sondern etwas Kostbares. Musik oder Kunst | |
| gelten oft als Dinge, die „Spaß machen“. Aber für uns Kulturschaffende ist | |
| das kein unverbindlicher Spaß, den man nach Lust und Laune konsumiert. Für | |
| uns ist das eine ernste Sache. | |
| 21 May 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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