# taz.de -- Revolutionärer 1. Mai: Bewaffnet mit Inhalten | |
> Die radikale Linke hat sich den 1. Mai nicht nehmen lassen, und das war | |
> richtig. Sie wird dringend gebraucht – erst recht, wenn es zu | |
> Verteilungskämpfen kommen sollte. | |
Bild: Ein inhaltlicher 1. Mai in Kreuzberg | |
BERLIN taz | In der Dämmerung kurz nach 20 Uhr, gegen Ende des | |
[1][orchestrierten Katz- und Maus-Spiels durch Kreuzberg], ist rings um den | |
Görlitzer Bahnhof noch mal zu beobachten, wie es mal gewesen sein muss am | |
Revolutionären 1. Mai. Polizeitrupps pflügen sich durch die Menge, ziehen | |
einzelne ProtestlerInnen heraus. Von der anderen Seite werden sie | |
beschimpft, vereinzelt fliegen auch Flaschen und Steine. | |
Keine Stunde später erinnert an der großen Kreuzung unter der | |
Hochbahntrasse der U-Bahn und den meisten umliegenden Straßen schon nichts | |
mehr an die Ereignisse des Tages. Keine Scherben, die den Boden übersäen, | |
niemand, der noch Lust auf Aggression hätte. Polizeieinheiten stehen sich | |
gelangweilt die Beine in den Bauch. Die Bilanz des Abends: eine leicht | |
verletzte Polizistin. Es gab Zeiten da waren es 500 verletzte BeamtInnen; | |
aber auch die liegen schon über ein Jahrzehnt zurück. | |
Ein Radautag ist der 1. Mai für die meisten Linksradikalen schon lange | |
nicht mehr, selten zuvor aber standen die Inhalte so deutlich im | |
Vordergrund. Die meisten derer, die nach Kreuzberg gekommen waren, um sich | |
aktiv an den Protesten zu beteiligen, hatten ein sichtbares politisches | |
Anliegen: von den zwei jungen Frauen am Heinrichplatz, die ein liebevoll | |
bemaltes Bettlaken ausbreiteten, auf dem ein Zebra „Herdenimmunität gegen | |
Rassismus“ fordert, bis zu jenen, die die schnell gepinselte aber | |
omnipräsente Parole [2][„Leave no one behind“] hinterließen. | |
Es ist das Verdienst der Linken, von [3][Hamburg] bis Berlin, von | |
[4][Grunewald] bis Kreuzberg, dass das Schicksal der Geflüchteten in den | |
griechischen Lagern nicht völlig aus dem öffentlichen Fokus gerät. Seit | |
Wochen schon erkämpfen sie öffentlichen Räume für die Forderung, Menschen | |
aus den Elendslagern zu evakuieren. Mitmenschlichkeit gerade auch in Zeiten | |
der Pandemie – es ist das verbindende Thema der Stunde. | |
## Es geht ums System | |
Einzelne DemonstrantInnen haben mit ihren Schildern gegen Kapitalismus und | |
Konzernhilfen daran erinnert, dass noch ganz andere Themen anstehen. Die | |
Linke, von revolutionär bis reformatorisch, steht vor der Frage: Kann sie | |
Gehör finden in den anstehenden Verteilungskämpfen und bei der Beantwortung | |
der Frage: „Wer zahlt für die Krise?“ Noch ist es ziemlich ruhig. Doch wenn | |
die große Wirtschaftskrise bei den Menschen ankommt, wird eine laute linke | |
Stimme unverzichtbar sein. | |
Auch deshalb war es richtig, dass sich die radikale Linke – anders als die | |
Gewerkschaften – den Tag der Arbeit nicht hat nehmen lassen. Und das gilt | |
auch aus einem anderen Grund: Sie darf nicht den [5][Rechten und | |
Verschwörungstheoretikern] die Rolle als Kämpfer für Grundrechte und | |
Versammlungsfreiheit überlassen. Das ist ihre Bastion, die es zu | |
verteidigen gilt. | |
Wenn sie dafür nun, vor allem von bürgerlicher Seite angegriffen wird, weil | |
ihre Demonstrationen in Zeiten von Corona unverantwortlich seien, kann sie | |
das getrost zurückweisen. Die OrganisatorInnen haben sich über die Frage | |
viele Gedanken gemacht und immer wieder öffentlich auf Achtsamkeit | |
hingewiesen; die große Mehrheit der DemonstrantInnen trug Atemschutzmasken. | |
Und auch wenn nicht in allen Momenten auf den nötigen Mindestabstand | |
geachtet wurde, war die Ansteckungsgefahr in Kreuzberg sicher nicht höher | |
als in jedem Amazon-Vertriebszentrum. | |
2 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Erik Peter | |
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