| # taz.de -- Alleinerziehend in Coronazeiten: Der Nine-to-nine-Job | |
| > Alice Moutinho ist derzeit Website-Optimiererin, Lehrerin und Hausfrau in | |
| > einer Person. Wir haben sie einen Tag beim Multitasken begleitet. | |
| Bild: Kräutergärtner Julian mit Mutter Alice Mouthino | |
| Starke Nerven und positives Denken, das sind die beiden Superkräfte, die | |
| Alice Moutinho, 37, durch die Coronazeit bringen. Und Kaffee. Den braucht | |
| sie so dringend wie ihre Laptops den Strom, sagt sie. Allein an diesem | |
| Montag muss die Website-Optimiererin an sieben Onlinekonferenzen | |
| teilnehmen. | |
| Moutinho arbeitet für ein Preisvergleichsportal. Zugleich ist sie derzeit | |
| Mathe-, Deutsch-, Sachkunde- und Portugiesischlehrerin für ihren Sohn | |
| Julian, 7. Zumindest theoretisch. Praktisch sieht es anders aus: Die | |
| zahlreichen Hausaufgaben, die sie seit der Schließung der bilingualen | |
| Grundschule geschickt bekommen, sind für die berufstätige Mutter und den | |
| Zweitklässler kaum noch zu bewältigen. | |
| Moutinho arbeitet in Vollzeit, und sie hat es als eine von rund 1,5 | |
| Millionen Alleinerziehenden mit der Doppelbelastung durch [1][Homeoffice | |
| und Homeschooling] besonders schwer. Trotzdem hatten Menschen wie sie nach | |
| dem Lockdown zunächst keinen Anspruch auf Notbetreuung. | |
| Das hat sich seit dem 27. April zwar geändert, doch für Moutinho bleibt | |
| erst mal alles beim Alten. „Mich hat niemand informiert, und ich hatte auch | |
| keine Zeit, mich zu erkundigen“, sagt sie am Dienstag dieser Woche im | |
| Gespräch via Facetime. | |
| Als Asthmatikerin gehört sie zur Risikogruppe. „Ich würde mir deshalb gut | |
| überlegen, ob ich ein solches Angebot annehmen würde“, sagt sie. Sie ist | |
| hin- und hergerissen. Die Angst vor Ansteckung hier, die Angst vor | |
| Überlastung da. Wenn Julian doch wenigstens tageweise zur Schule gehen | |
| könnte! | |
| ## „Jetzt wird gearbeitet!“ | |
| Alice Moutinho ist einverstanden, sich einen Tag per Livestream begleiten | |
| zu lassen. Um 9.15 Uhr sitzt sie in einer dicken Strickjacke am Esstisch. | |
| Heute ist ein Ausnahmetag: Wegen des zurückliegenden Feiertags hat sie noch | |
| mehr Videokonferenzen als sonst. Und ihr Sohn ist noch nicht vom | |
| gemeinsamen Wochenende mit dem Ex-Mann zurück. „Die beiden kommen | |
| vermutlich etwas später.“ | |
| Moutinho klingt erstaunlich gelassen dafür, dass in wenigen Minuten ihre | |
| erste Videokonferenz startet und sich Julians Schulbeginn von Minute zu | |
| Minute verzögert. Im Mail-Postfach entdeckt sie die Hausaufgaben der neuen | |
| Woche – und seufzt. „Das ist wieder Stoff für sechs Stunden am Tag. Ich | |
| komme nicht mehr hinterher.“ | |
| Das hat sie so auch schon Julians Klassenlehrer mitgeteilt. „Gehen Sie nur | |
| die wichtigsten Sachen mit ihm durch“, hat der ihr gesagt. Denn schnell war | |
| ein kleiner Machtkampf zwischen Mutter und Sohn entbrannt, der wie in | |
| vielen anderen Familien gerade jeden Tag aufs Neue ausgefochten werden | |
| muss. | |
| Dann streiten die beiden darüber, wann und wie gelernt wird. Sie: „Jetzt | |
| wird gearbeitet!“ Er: „Ich will nur noch schnell weiterspielen, | |
| weitergucken …“ Und wenn er damit fertig ist, zieht er sein Piratenkostüm | |
| an oder handelt Belohnungen aus. | |
| Die Grenzen verschwimmen längst. Inzwischen werden auch Feiertage und | |
| Wochenenden dem Lernen geopfert, und wenn es gar nicht anders geht, nimmt | |
| Moutinho sich den Nachmittag frei. Sie will nicht, dass ihr Sohn später | |
| schulisch abgehängt ist. | |
| ## Erstes Onlinemeeting | |
| Bis zur Coronakrise bekam Moutinho Kind und Karriere gut unter einen Hut. | |
| Ursprünglich kommt sie aus Lissabon. Ihr Beruf nennt sich offiziell „Senior | |
| UX-Designerin“, sie beschäftigt sich mit der Interaktion von Menschen und | |
| Computern. Nur der Einstieg in die Tech-Branche war für die junge Mutter | |
| nicht leicht. Erst als sie die Babypause im Lebenslauf verschwieg, lud man | |
| sie zum Bewerbungsgespräch ein, sagt sie. Heute aber arbeitet sie in einem | |
| familienfreundlichen Unternehmen. Ihre Vorgesetzte zeige viel Verständnis | |
| für ihre Situation. | |
| 9.20 Uhr. Das erste Onlinemeeting des Tages. Die Konferenzsprache ist | |
| Englisch. Auf den Bildschirmkacheln sind vor allem Männer zu sehen, hier | |
| ein kleines Mädchen auf einem Schoß, dort ein kleiner Junge, der schüchtern | |
| über eine Schulter linst. | |
| Julian ist immer noch nicht da. Nur sein kleiner Schreibtisch voller | |
| Gerümpel taucht im Bild auf, als Moutinho einen Kameraschwenk durch das | |
| geräumige Zimmer ihrer Zweiraumwohnung in Berlin-Mitte macht. 40 | |
| Quadratmeter, die seit dem Shutdown aber nicht nur zum Essen, Wohnen und | |
| Schlafen reichen müssen, sondern zusätzlich ihr Büro und Julians | |
| Klassenraum geworden sind. Dabei hat ihr Sohn im Gegensatz zu ihr | |
| eigentlich sein eigenes Reich, doch er will natürlich im selben Raum wie | |
| seine Mama arbeiten. „Gleichzeitig ist es für ihn schwer zu verstehen, dass | |
| ich arbeite. Aus seiner Sicht quatsche ich ja bloß ständig mit anderen | |
| Leuten.“ | |
| 11 Uhr. Es ist so weit. Julian kommt die Stufen des Treppenhauses | |
| hochgeschossen. Die Mutter lehnt im Türrahmen, stößt einen kleinen | |
| Freudenschrei aus. Ihr Sohn wirft sich mit voller Wucht in ihre Arme. Sie | |
| drückt und küsst ihn. „Was hast du da?“, fragt sie. „Ein Piratenschwert… | |
| sagt er und fuchtelt stolz damit herum. | |
| ## „Anton“ ist nicht so attraktiv wie „Minecraft“ | |
| „Hände waschen nicht vergessen“, sagt sie – und dann: „Hast du mit Papa | |
| Schulaufgaben gemacht?“ – „Nein, da haben wir gar nicht dran gedacht“. … | |
| „Okay, dann müssen wir einiges nachholen …“ – „Kann ich erst noch ei… | |
| Runde ‚Minecraft‘ spielen?“ Die Mutter gibt nach. „Aber danach machst du | |
| eine Stunde ‚Anton‘.“ So heißt die E-Learning-App, die Julians | |
| Klassenlehrer vorgeschlagen hat, um das digitale Lernen abwechslungsreicher | |
| zu gestalten. Doch selbst die interaktivste Lernplattform ist | |
| uninteressant, wenn man ebenso gut zu einem virtuellen Abenteuer in die | |
| Lego-Welt des Computerspiels aufbrechen kann. | |
| 12.15 Uhr. Jetzt wäre eigentlich Mittagspause. Heute fällt der Spaziergang | |
| aber aus. Stattdessen brät Moutinho ein schnelles Spiegelei, Julian macht | |
| ein bisschen Mathe. | |
| 13.30 Uhr. Das nächste Meeting. Julian guckt „Peter Pan“. Zuvor haben sie | |
| sich ein kleines Wortgefecht geliefert, doch Julian hat sich durchgesetzt. | |
| Jetzt kommt er und legt seiner Mama die Hand auf den Mund. Sie soll nicht | |
| mehr weiterreden, sondern sich mit ihm beschäftigen. Moutinho wäre in | |
| diesem Moment froh, in Portugal zu sein: „Dort werden die Kinder gerade | |
| auch über das Fernsehen unterrichtet“, sagt sie. Das finde sie super. So | |
| würden auch die Kinder erreicht, die keinen Laptop hätten. | |
| Einer Freundin habe sie ihren dritten Laptop schon leihen müssen, damit die | |
| den digitalen Hausunterricht von zwei Kindern und ihren eigenen Job | |
| bewältigen könne. Mit ihrer technischen Ausstattung habe sie es schon gut, | |
| sagt Moutinho, obwohl sie mehrere Wochen auf den extra für das | |
| Homeschooling bestellten Drucker warten musste. Sie müsse überhaupt dankbar | |
| und zufrieden sein, findet sie. Immerhin hat sie noch einen Job. Und krank | |
| geworden ist sie auch nicht. | |
| ## Privatunterricht via Zoom | |
| 14.25 Uhr. Julian sitzt freudestrahlend beim Businessmeeting auf Mamas | |
| Schoß. Eine Stunde später schiebt sie vor dem nächsten Meeting noch schnell | |
| ein bisschen Mathe ein. Julian zappelt vor der langweiligen Grafik der | |
| Lern-App herum. „14 minus 6 ist doch superleicht!“, ruft er. Er kaut laut | |
| auf einem Kaugummi. Die Kaugummis wären eigentlich seine Belohnung gewesen, | |
| aber er hat sie vorher gekriegt. „Komm schon, Julian!“, feuert Moutinho ihn | |
| an. | |
| Er würde gern klettern gehen, Fußball spielen oder einfach nur so mit | |
| anderen Kindern zusammen sein, sagt er. „Ich vermisse meine Freunde – und | |
| meine Lehrer.“ Er sieht ein bisschen verzweifelt aus. Seine Mutter sagt, | |
| den Lehrern fehle es an Kreativität. „Es würde ja schon helfen, wenn sie | |
| ein kleines Video schicken – damit die Schüler wissen, dass es ihre Schule | |
| noch gibt.“ Moutinho hat nun selbst für angemessenen Schulersatz gesorgt. | |
| Zusammen mit anderen Eltern organisiert sie einen Privatunterricht via | |
| Zoom. Auf eigene Kosten. | |
| 17 Uhr. Immerhin, Mathe ist geschafft. Die anderen Aufgaben fallen hinten | |
| runter. Jetzt geht es schnell raus in den Innenhof, Kräuter gießen. Dann | |
| noch eine Pizza. Und um 21 Uhr ins Bett. | |
| Ob sie wenigstens, wenn Julian schläft, Zeit für sich hat? Auf diese Frage | |
| antwortet Alice Moutinho nicht. Stattdessen lacht sie lange und herzlich. | |
| Danach schläft sie beim Vorlesen der Gutenachtgeschichte im Bett ihres | |
| Sohnes ein. | |
| 11 May 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Fastabend | |
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