# taz.de -- Thriller-Autorin Regina Nössler: In der fremden Stadt | |
> Ihre Figuren tun ihr Bestes, um sich unsichtbar zu machen: Eine Runde | |
> durch den Park am Gleisdreieck mit der Autorin Regina Nössler. | |
Bild: Die Berliner Autorin Regina Nössler | |
Noch vor zwei Monaten hätten wir uns zum Gespräch wahrscheinlich in einem | |
Café getroffen, doch derzeit ist ein Spaziergang mit Abstand die | |
angemessenste Interviewform. Als ich überpünktlich zum vereinbarten Termin | |
am Eingang zum Gleisdreieck-Park aufkreuze, ist Regina Nössler schon da. | |
Ich erkenne sie gleich nach ihren Fotos im Internet; und sie sagt: „Damals | |
hatte ich doch aber immer eine Frisur!“ Menschen mit Kurzhaarschnitt sind | |
eben stärker betroffen vom Friseur-Lockdown als andere. | |
Regina Nössler wohnt in Kreuzberg und stammt aus dem Ruhrgebiet. Berlinerin | |
ist sie seit 1995. Ungefähr ebenso lang schreibt sie Romane, die sie selbst | |
nicht als Kriminalromane bezeichnen würde, da sie keinen kriminalistischen | |
Plot haben und keine Ermittlerfiguren. Es sind vielmehr Psychothriller in | |
der [1][Tradition einer Patricia Highsmith] oder Celia Fremlin, in denen | |
die Autorin die finsteren Ecken im Innenleben ganz unauffälliger Menschen | |
ausleuchtet. | |
Lange Zeit ging Nössler ihrer schreibenden Tätigkeit eher unentdeckt von | |
einer größeren Öffentlichkeit nach. Doch wer lange währt, setzt sich | |
manchmal eben doch durch: 2019 bekam sie den [2][deutschen Krimipreis] (2. | |
Platz) für ihren Roman „Die Putzhilfe“. „Ich dachte, ich kriege einen | |
Herzinfarkt“, sagt sie grinsend, als sie erzählt, wie sie von einer Mail | |
ihrer Verlegerin mit der Preisnachricht überrascht wurde. Der Preis sei | |
zwar undotiert, bedeute ihr aber wirklich sehr viel. | |
[3][„Die Putzhilfe“ spielt], ebenso wie der Vorgängerroman | |
„Schleierwolken“, in Berlin. Anders als viele (Thriller-)AutorInnen nutzt | |
Nössler die Stadt nicht als Kulissenvorrat, deren Versatzstücke sich | |
unabhängig von den wahren geografischen Verhältnissen hin und her schieben | |
lassen. Ihre Romanhandlungen finden an echten Schauplätzen statt, die in | |
authentischer Weise zusammenhängen. Die Protagonistin von „Schleierwolken“ | |
wohnt in Kreuzberg, die „Putzhilfe“ in einer finsteren Hinterhofabsteige in | |
Neukölln. | |
## Das Geheimnis ihrer Flucht | |
Die Straßen, auf denen die Romanfiguren wandeln, sehen Ortskundige beim | |
Lesen plastisch vor sich. „Die Putzhilfe“ allerdings erzählt von einer | |
Person, die alles andere als ortskundig ist: Die Ich-Erzählerin, die sich | |
unter dem Namen „Marie Weber“ in Berlin niederlässt, in Wirklichkeit aber | |
Franziska Oswald heißt, kommt aus der westfälischen Provinz in die große | |
Stadt. Es dauert lange – genauer gesagt, bis zum Schluss –, bis wir | |
wirklich wissen, was mit ihr los ist. Offenbar ist sie vor allem, aber | |
nicht nur, auf der Flucht aus einer nicht glücklichen Ehe mit einem | |
Kontrollfreak. | |
Diesen gutverdienenden Mann, das hübsche Reihenhaus in einer Neubausiedlung | |
im Grünen, ihre wissenschaftliche Karriere als Soziologin an der Uni – all | |
das lässt Franziska hinter sich, packt nur zwei Koffer und verschwindet | |
aufs Geratewohl dorthin, wohin der nächste ICE sie bringt. Im derart | |
zufällig angesteuerten Berlin tut sie ihr Bestes, sich unsichtbar zu | |
machen, was auf Dauer dann doch schwierig ist. | |
Geldnot treibt sie dazu, eine Stelle als Putzhilfe bei einer wohlhabenden | |
Zehlendorfer Witwe anzunehmen. Außerdem lernt sie ein verwahrlostes junges | |
Mädchen kennen und freundet sich mit ihr an. Der Panzer beginnt zu | |
bröckeln, „Marie“ beginnt ihren alten sozialen Status zu vermissen. | |
## Etwas Eigenes entwickelt sich | |
Die Grundidee zu diesem Plot, sagt Regina Nössler, stamme eigentlich gar | |
nicht von ihr, sondern von der 2009 verstorbenen englischen Autorin Celia | |
Fremlin. In deren Roman „Rendezvous mit gestern“ geht die Protagonistin | |
quasi den umgekehrten Weg, von der Stadt in die Provinz, um als Putzhilfe | |
in einem wohlhabenden Haushalt unterzutauchen. „Zuerst wollte ich das | |
eigentlich gar nicht“, sagt Nössler, „ich fand die Idee zwar gut, dachte | |
aber, ich kann doch nicht einfach ein anderes Buch nachmachen!“ Aber dann | |
sei ihr klar geworden, dass das Quatsch sei, spätestens beim Schreiben | |
merke man ja, dass sich etwas ganz Eigenes entwickele. | |
An dieser Stelle des Gesprächs müssen wir stehenbleiben, der Park ist zu | |
Ende. Wir verlassen ihn auf der Monumentenbrücke und beschließen, ihn | |
weiträumig zu umrunden und hinten am Gleisdreieck wieder zu betreten. | |
„Und womit fangen Sie eigentlich meistens an?“, frage ich dann. „Beginnen | |
Sie immer mit dem Anfang?“ Oh ja, sagt die Autorin, das erste Kapitel sei | |
für sie die wichtigste Schwelle überhaupt, über die müsse sie unbedingt | |
erst hinüber: „Es kann vorkommen, dass ich davon dreißig verschiedene | |
Fassungen schreibe. Beim Schreiben braucht man Standing.“ Ein Buch brauche | |
eben seine Zeit; bei ihr seien es im Schnitt anderthalb Jahre. | |
## Treue zu ihrem Verlag | |
Das liegt natürlich unter anderem daran, dass Regina Nössler für ihren | |
Lebensunterhalt noch andere Dinge tut. Sie arbeitet regelmäßig als freie | |
Lektorin und Korrektorin, vor allem für kleinere Verlage, darunter auch der | |
Tübinger konkursbuch-Verlag, bei dem ihre eigenen Bücher seit Mitte der | |
Neunziger erscheinen. Mit der Verlegerin Claudia Gehrke ist sie außerdem | |
befreundet, und „natürlich“, wie sie sagt, hat sie mit ihr ausführlich das | |
Angebot des Suhrkamp-Verlags diskutiert, mit dem nächsten Buch in dessen | |
Thriller-Reihe zu wechseln. Um sich dann allerdings – „erst einmal“ – | |
dagegen zu entscheiden. | |
Loyalität zur angestammten verlegerischen Heimat spielt dabei eine Rolle, | |
aber auch die Erwägung, dass Genretitel schnell als Remittenten auf den | |
Grabbeltischen landen. „Bei den großen Verlagen ist ein Buch nach einem | |
halben Jahr verschwunden“, sagt Regina Nössler. Bei Gehrkes konkursbuch | |
dagegen seien auch ihre älteren Sachen immer noch zu haben. | |
Natürlich arbeitet sie bereits an einem neuen Romanprojekt, zu dem sie aber | |
noch nicht viel sagen will und kann. Immerhin, etwas sei diesmal ein | |
bisschen anders. „Ich habe kürzlich erst gelernt, dass es Standalone heißt, | |
was ich normalerweise schreibe“, das wird wieder von diesem kleinen Grinsen | |
begleitet. „Bei diesem neuen Buch denke ich nun aber wirklich zum ersten | |
Mal darüber nach, ob die Hauptfigur sich für eine Reihe eignen könnte. Aber | |
ich kann das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht richtig einschätzen. Ich | |
brauche auch immer eine Weile, um mich an meine Figuren zu gewöhnen.“ | |
Zum Abschluss unseres großen Rundgangs sitzen wir noch ein wenig in der | |
Sonne und tauschen Krimitipps aus. Dann geben wir uns zum Abschied, wie es | |
sich gehört, nicht die Hand. Ich schließe mein Fahrrad auf und radele von | |
dannen. Und Frau Nössler geht zu Fuß nach Hause. | |
10 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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