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# taz.de -- Corona-Alarm im Slum von Mumbai: Das Virus und das Elend
> In Dharavi verteilt Raphel Paul Lebensmittel. Kiran Dighavkar versucht
> die Seuche einzudämmen. Die Studentin Neha hat Angst.
Sie schlängeln sich aneinander vorbei. Wer zu langsam läuft, wird mit einem
hektisch zischenden Laut an die Seite gedrängt. Unzählige Menschen
passieren täglich die Dhobi-Ghat-Brücke in Mumbai, die den Slum Dharavi mit
dem Stadtteil Sion verbindet. Doch seit einigen Wochen ist es an der Brücke
sehr ruhig geworden. Die Ausgangssperre aufgrund der Coronakrise hat das
normale Leben radikal verändert. Der größte Slum Asiens ist abgeriegelt.
„In Sion befinden sich das Krankenhaus und der große Supermarkt. Die
Schließung verstärkt die Probleme der Menschen“, sagt der Imbissbesitzer
Raphel Paul, ein kräftiger Mann mit Schnauzer. Schon bevor das Virus die
Slums von Mumbai erreicht hatte, war er besorgt. „Die Leute leben hier auf
engem Raum und haben kaum Zugang zu sauberem Wasser. Die meisten benutzen
die öffentlichen Toiletten, weil sie keine eigene haben“, sagt Paul.
In der westindischen Metropole Mumbai lebt knapp die Hälfte der Bevölkerung
auf engstem Raum in Slums. Das betrifft 8 Millionen von 20 Millionen
BewohnerInnen. Als in einigen dieser Viertel die ersten Coronafälle bekannt
wurden, hat das die Behörden in höchste Alarmbereitschaft versetzt.
## Mission impossible für Kiran Dighavkar
„Mein Tag beginnt damit, herauszufinden, wer sich in meinem Gebiet
angesteckt hat“, sagt der leitende Beamte Kiran Dighavkar, der für die
Region rund um den Slum Dharavi zuständig ist. Der 36-Jährige hat lange
Tage hinter sich. Mit seinem Team versucht er die Ausbreitung unter
Kontrolle zu bringen. Eine fast unlösbare Aufgabe. Vielmehr scheint seine
„Mission Dharavi“ eine Mission impossible zu werden.
Eine Woche nachdem 1,3 Milliarden InderInnen Ende März unter die
Ausgangssperre gestellt wurden, um die Ausbreitung des Coronavirus zu
begrenzen, meldete Dharavi seinen ersten Coronatoten. Seitdem sind knapp
vier Wochen vergangen, in denen sich in dem berüchtigten Slum über 275
Menschen angesteckt haben und 14 von ihnen verstarben.
Zunächst trafen die Corona-Infektionen in Indien nur die
Besserverdienenden, jene, die sich Reisen ins Ausland leisten können, oder
TouristInnen. Bald folgten Personen in ihrer nächsten Umgebung: ein
Taxifahrer, eine Haushaltshilfe, eine Imbissköchin. Nun hat das Virus
seinen Weg in die Armenviertel gefunden. Für viele Bewohner ist allerdings
die größte Sorge nicht die Krankheit, sondern genug zu essen auf dem Teller
zu haben. Mit dem Lockdown haben viele ihr tägliches Einkommen verloren.
Raphel Paul, der sonst in Dharavi ein Fast-Food-Restaurant betreibt, hat
seit einem Monat keine Speisen mehr verkauft. Dieser Tage gibt er umsonst
Linsen, Öl und Zucker aus. Bekannte helfen ihm bei der Verteilung. „Wenn
wir nichts unternehmen, wer dann?“, fragt Paul. Ehrenamtlich leitet der
48-Jährige eine Nachbarschaftsinitiative, daher kennt man ihn gut. Morgens
und abends ist die Ausgabe geöffnet.
„Ich befürchte, dass wir bald nichts mehr austeilen können. Auch
Supermärkte haben Probleme mit dem Nachschub“, sagt Paul bei einem
Videogespräch. Hinter ihm sind Säcke mit Vorräten zu sehen. Bei Zucker und
Tee werde es aber knapp, genauso wie beim Geld, je länger der
Ausnahmezustand andauert. Seine Familie ist wenig über sein Engagement
erfreut. Sie befürchtet, dass er sich anstecken könnte. Mumbai verzeichnet
eine der höchsten Corona-Infektionsraten Indiens.
Die dicht besiedelten Gebiete mit wenigen sanitären Einrichtungen sind ein
gefundener Nährboden für ansteckende Krankheiten. Dabei ist es nicht
ungewöhnlich, dass sich acht Menschen eine kleine Wohnung teilen. Diese
Bedingungen erhöhen die Chance einer Übertragung. Ein Viertel der Menschen,
die in Dharavi in den vergangenen zwei Wochen auf Sars-CoV-2 getestet
wurden, waren angesteckt.
Kurz nachdem der erste Bewohner coronapositiv getestet worden war, starb
der Betroffene. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Mumbai nur wenige Fälle. Der
Textilkaufmann, der an Fieber und Atembeschwerden litt, war nicht sofort
als Corona-Infizierter erkannt worden. Er gehörte nicht zur Risikogruppe,
da er nicht ins Ausland gereist war. Allerdings hatte er zuvor Pilger
aufgenommen, von denen man annimmt, dass sie ihn angesteckt haben.
Seine Besucher kamen von einem Treffen der islamischen Glaubensbewegung
Tablighi Jamaat aus Delhi und hatten in Mumbai einen Zwischenstopp
eingelegt. Unter den Menschen aus 40 Ländern, die sich Anfang März in der
Nizamuddin-Markaz-Moschee trafen, befanden sich mehrere Infizierte aus
Malaysia und Indonesien, die so die Verbreitung des Coronavirus in Indien
verstärkt haben.
74 Menschen wurden in Dharavi ausfindig gemacht, die mit dem verstorbenen
Händler in Kontakt gekommen waren. Sie wurden unter Beobachtung gestellt.
Viertel mit Coronafällen werden abgeriegelt und von der Stadtverwaltung
Mumbais mit Nahrung und Medikamenten versorgt. „Uns bleibt nur, Erkrankte
ausfindig zu machen und sie in staatliche Quarantäne zu verlegen“, sagt der
Beamte Kiran Dighavkar.
## Labyrinth aus Wellblechhütten, Tempeln und Kanälen
In dem gut zwei Quadratkilometer großen Gebiet, das sich im Herzen Mumbais
befindet, leben etwa 800.000 Menschen, vielleicht auch mehr. So genau weiß
das niemand. Kaum ein anderer Ort der Welt ist so dicht besiedelt. In dem
Labyrinth aus Wellblechhütten, Moscheen, Märkten, Tempeln und Kanälen ist
es schwer, den Überblick zu behalten. Zumindest für das Bild von oben
helfen gerade Drohnen.
Anfangs waren die Fälle noch überschaubar, doch das Nachverfolgen der
Infektionsketten wird mit der steigenden Zahl an Erkrankten immer
schwieriger. „Die Menschen zu bitten, räumliche Distanz zu halten, ist
nahezu unmöglich“, erklärt Dighavkar. Ärzteteams, Gesundheitsmitarbeiter
und die Einsatzkräfte der Stadtverwaltung sind im Kampf gegen das Virus
beteiligt. Allein in Dharavi sollen mehr als 50.000 Menschen untersucht
werden. Um alle direkt auf das Coronavirus zu testen, fehlt es allerdings
an Testkapazitäten.
Für BewohnerInnen mit gesundheitlichen Beschwerden wurden „Fieberkliniken“
bereitgestellt. Vor diesen Zelten erwartet das in hellen Schutzanzügen
eingepackte und mit Gesichtsmaske und Handschuhen ausgerüstete Personal die
Verdachtsfälle. Das medizinische Personal wird durch gespannte Seile von
den Menschen getrennt. Die Zelte wurden an den Wohnblöcken hochgezogen, in
deren Nähe sich Coronafälle ereignet haben. Mit Stirnthermometer wird die
Temperatur gemessen, nach Symptomen gefragt und bei Verdacht ein Abstrich
genommen, um auf Corona zu testen.
Die Herausforderungen seien groß, sagt Dighavkar. Risikokontakte müssen
isoliert werden. Tausende wurden unter häusliche Quarantäne gestellt, zudem
wurden eine Sportanlage und eine Schule als Ausweichquartiere
umfunktioniert sowie ein Krankenhaus speziell für Coronavirus-Patienten
angemietet. Allein die Gemeinschaftstoiletten täglich zu desinfizieren, ist
eine Sisyphusarbeit, aber sie ist dringend notwendig.
Dharavi entstand nicht erst in den letzten Jahrzehnten. Der Slum ist über
130 Jahre alt. Schon unter der britischen Kolonialherrschaft wuchs das
frühere Fischerdorf infolge der Verdrängung von Fabriken und Arbeitern aus
dem Stadtzentrum Mumbais. Schon damals zog es die ärmere Bevölkerung auf
der Suche nach Arbeit vom Land in die relativ wohlhabende Metropole.
Wohnquartiere und kleine Fabriken wuchsen unkontrolliert, ohne dass dabei
sanitäre Einrichtungen Berücksichtigung fanden.
In Dharavi wird eigentlich gefärbt, genäht, gebacken, geschmälzt und
recycelt. Die kleinen Betriebe gehören zum Motor der Stadt, die nun in
Zwangspause geschickt wurden. Durch die informelle Wirtschaft kommt der
Slum auf einen Jahresumsatz von knapp 1 Milliarde Euro. Doch die meisten
Industrien liegen derzeit in Indien flach, nicht nur in Mumbai.
## Arbeitsmigranten stehen ohne Auskommen da
Derzeit ist es den Menschen nur noch erlaubt, Lebensmittel einzukaufen oder
zur Apotheke zu gehen, eine Regelung, die in ganz Indien gilt. Ausgenommen
davon sind nur wenige Berufsgruppen. Beschäftigte der Lebensmittel- oder
Pharmaindustrie zählen dazu. Vereinzelt sind Lockerungen für Service,
Industrie oder die Bauern angelaufen, die sich gerade mitten in der
Erntesaison befinden. Das Land öffnet sich langsam wieder, während die
Ausgangssperre bis zum 3. Mai verlängert wurde.
Doch viele Arbeitsmigranten stehen ohne Auskommen da. Deshalb hat die
indische Regierung ein Hilfspaket geschnürt, das 800 Millionen Menschen für
die nächsten drei Monate mit Reis, Getreide und Direktüberweisungen
unterstützen soll. Umgerechnet 21 Milliarden Euro sind dafür vorgesehen.
Erfasst werden vor allem Menschen, die bereits zuvor Sozialleistungen
erhalten hatten. Doch darunter befinden sich längst nicht alle
Slumbewohner, auch wenn diese ihren Lohn verloren haben. Die Verteilung von
Essenspaketen wurde von der Stadtverwaltung Mumbais aufgestockt, dennoch
erreicht die Hilfe längst nicht alle Betroffenen. Neben den städtischen
Behörden springen landesweit private Initiativen und NGOs ein, um
Lebensmittel zu verteilen.
„Die Menschen in meinem Haus begannen die Lage erst ernst zu nehmen,
nachdem jemand gestorben war“, sagt die Studentin Neha mit nervöser Stimme.
Sie wohnt in einer Übergangsunterkunft namens Transit Camp Rajiv Gandhi
Nagar in Dharavi. Nach dem Tod des Nachbarn schlossen alle Geschäfte in
ihrer Nähe. Seitdem muss sie weiter laufen als früher. „Wenn ich meine
Gasse verlasse, um Gemüse zu kaufen, sehe ich viele Jungs, die trotz des
Verbots auf der Straße herumstehen. Sie schreien die Polizisten an, wenn
sie diese mit Stockschlägen von der Straße vertreiben“, beschreibt die
20-Jährige die Situation am Telefon.
Zu essen habe sie noch, sagt Neha. Doch sie ist um ihre Nachbarn besorgt.
„Ich hoffe, sie bekommen ihre Ration rechtzeitig“, ohne
Lebensmittelzuteilung wüssten sie nicht, wie sie überleben sollen. Mit der
Sorge um den Hunger hat auch die Angst vor der Übertragung des Virus
zugenommen. Die Polizei bemüht sich, alle Personen, die in Kontakt mit
Anhängern der islamischen Gruppe Tablighi Jamaat standen, aufzuspüren. Aber
es sei leicht, sich hier zu verstecken, sagt die Studentin Neha. Und das
ist es, was ihr und ihrer Familie zunehmend Unbehagen bereitet. Der Vater,
der sonst Bananen am Straßenstand verkauft, verlässt das Haus nicht mehr.
Alle wissen, dass die Verstorbenen aus Dharavi größtenteils über 50 Jahre
alt waren.
„Die Jamaat-Mitglieder sind zweifellos nicht sehr hilfsbereit, wenn es
darum geht, sich bei der Polizei zu melden“, sagt Gulam Sheikh. Er macht
sich Sorgen, dass das auf die gesamte muslimische Gemeinde zurückfallen
könnte. Muslime würden zunehmend zur Zielscheibe von Anfeindungen, so der
Vierzigjährige, der für einen Fernsehsender arbeitet und in Dharavi lebt.
Warum das Treffen von den Behörden nicht unterbunden worden war, versteht
er nicht.
Nach Angaben des Innenministeriums sind über 4.000 Coronafälle mit
Tablighi-Jamaat-Mitgliedern in Verbindung gebracht worden. In einigen
Medienberichten wurde ihre Mitglieder deshalb als Superspreader bezeichnet,
die Veranstaltung gar als „Corona-Dschihad“ betitelt. Islamophobe Hashtags
wie #CoronaJihad oder #TablighiVirus sind im Umlauf. Dazu kommen jede Menge
Falschnachrichten.
Aber dies ist nicht das Einzige, worüber Gulam Sheikh sich besorgt äußert.
„Mit der steigenden Zahl von Corona-Infizierten wird der Widerstand der
Bevölkerung sowie des Gesundheits- und Polizeipersonals bald einen
kritischen Punkt erreichen“, sagt er. Sheikh vermutet, dass viele Menschen
den Slum von Dharavi so schnell wie möglich verlassen würden, wenn sie es
denn könnten. Für ihn stellt Dharavi einen Präzedenzfall im Kampf gegen das
Coronavirus dar.
Wie lange der Ausnahmezustand in Indien noch andauern wird, ist unklar.
Derzeit steigen die Fälle weiter an – und mit ihnen die Angst. Während sich
manche Menschen an die Ausgangssperre zu gewöhnen scheinen, wächst gerade
unter den gestrandeten Wanderarbeitern der Unmut. Sie wollen endlich nach
Haus kommen. Doch derzeit ist der gesamte Bus-, Zug- und Flugverkehr
ausgesetzt.
Seit dem 25. März ist Indien auf einen Minimalbetrieb heruntergefahren.
Nach Angaben des Außenministers Subrahmanyam Jaishankar hätten die strengen
Ausgangsbeschränkungen viele Tausend Corona-Infektionen verhindert. Wie
viele Menschen sie bedürftiger gemacht haben, ist nicht ausgerechnet
worden.
In Dharavi liegt die Hoffnung seit diesem Montag auf den ÄrztInnen vor Ort,
die sich in den engen Gassen auskennen und am ehesten wissen, was ihren
Patientinnen fehlt. Ihre Praxen sind seit Wochen geschlossen, da sie nicht
ausreichend auf eine solche Ausnahmesituation vorbereitet waren. Doch das
soll sich mit der Unterstützung der Stadtverwaltung Mumbais ändern.
Gebraucht werden die Ärzte mehr denn je, denn die Krankenhäuser stoßen an
ihre Kapazitätsgrenzen.
Da in Mumbai eine strenge Ausgangsbeschränkung gilt, war es nicht möglich,
die ProtagonistInnen vor Ort zu treffen. Der Slum ist abgeriegelt. Die
Autorin kennt Dharavi und hat die Gespräche am Telefon geführt. Mitarbeit:
Mona Thakkar.
27 Apr 2020
## AUTOREN
Natalie Mayroth
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