| # taz.de -- 1.200 km Flucht vor Corona auf dem Rad: Das Löwenherzmädchen | |
| > Wegen des Lockdowns konnten sie in der Stadt nicht überleben. Jyoti fuhr | |
| > mit dem Rad und ihrem Vater hinten drauf sieben Tage zurück in ihr Dorf. | |
| Bild: Unbeugsam: Jyoti Kumari Paswan | |
| MUMBAI taz | Mit entschlossenem Blick schaut sie in die Kamera. Die Hände | |
| von Jyoti Kumari Paswan sind fest am Lenker ihres Fahrrads. Einen roten | |
| dünnen Dupatta-Schal trägt sie über Schulter und Brust, auf ihrem | |
| Gepäckträger sitzt ihr Vater mit Mundschutz. In Gurgaon, einer | |
| Satellitenstadt im Einzugsgebiet der indischen Hauptstadt Neu-Delhi beginnt | |
| ihre Reise. 1.200 Kilometer wird die 15-Jährige in einer Woche radeln. | |
| „Ich hatte keine andere Wahl“, sagt Paswan. Da in Indien [1][wegen des | |
| Coronavirus seit Ende März strenge Ausgangsbeschränkungen] gelten und | |
| deshalb keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren, schwingt sie sich auf ihr | |
| neues pinkes Damenrad mit Körbchen. Es war eine Investition: Umgerechnet 20 | |
| Dollar hat es gekostet. | |
| Auf dem Gepäckträger sitzt ihr verletzter Vater Mohan Paswan, der vor einem | |
| Unfall als Rikschafahrer arbeitete. Normalerweise unterstützt er mit dieser | |
| Tätigkeit den Rest der Familie, der im Dorf geblieben ist. Doch ohne Arbeit | |
| und Unterstützung haben die beiden während der Coronapandemie keine Chance, | |
| in Gurgaon zu überleben. Der Vermieter drohte, sie rauszuwerfen. So wie | |
| Vater und Tochter geht es derzeit vielen Menschen in Indien: viele haben | |
| ihre Jobs verloren, können die Miete nicht mehr zahlen, sich nicht genügend | |
| zu essen kaufen. [2][Hunderttausende Arbeitsmigranten versuchen, aus den | |
| Städten zurück in ihre Dörfer zu gelangen.] | |
| In der Tat schaffen es Jyoti Kumari Paswan und ihr Vater bis in ihr | |
| Heimatdorf Darbhanga im nordindischen Bundesstaat Bihar. Abgesehen von | |
| einer kurzen Fahrt auf einem Lastwagen radelte sie jeden Tag 160 Kilometer. | |
| Unterwegs leiht sie sich Handys, um ihrer Mutter am Telefon zu versichern, | |
| dass schon alles gut werde. Und es wurde gut. Indische wie internationale | |
| Medien feiern sie nach geglückter Heimkehr als „Löwenherzmädchen“ – da… | |
| war es ihr Überlebensinstinkt, der sie dazu gebracht hat und massive Lücken | |
| im Sozialsystem. | |
| ## Zahlreiche Angebote | |
| Als Reaktion auf ihre ungewöhnliche Reise bekommt sie zahlreiche Angebote: | |
| Der indische Radsportverband will sie zum Test für das Nationalteam | |
| einladen, inklusive Zugfahrkarte nach Delhi. Eine Schule möchte der | |
| Schulabbrecherin eine weitere Chance geben. In der Tat wären das | |
| Möglichkeiten, der Armut zu entkommen – vorausgesetzt, Paswan akzeptiert | |
| nicht nur, sondern besteht auch. Was wir aber nicht wissen, ist, wie viele | |
| Menschen in den letzten zwei Monaten unbemerkt Ähnliches geleistet haben. | |
| Der Zufall wollte, dass zumindest Jyoti Kumari Paswan entdeckt wird – und | |
| hoffentlich nicht nur für einen kurzen Moment als Vorbild für ihren | |
| Kampfgeist hochgehalten wird. Viele Sporttalente in Indien wurden | |
| schließlich durch Zufall entdeckt. Vielleicht endet so die Geschichte von | |
| Jyoti Kumari Paswan? Oder schließt sie die Schule ab? Zu wünschen wäre ihr | |
| beides. Eine indische Bank übergab ihr zumindest schon mal umgerechnet 365 | |
| Euro und bot an, ihre Ausbildung zu finanzieren. | |
| Nun ist die Familie aber erst einmal wieder vereint und Paswan erholt sich | |
| von den Strapazen in der zweiwöchigen häuslichen Quarantäne. | |
| 25 May 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Natalie Mayroth | |
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