# taz.de -- HIV damals und Corona heute: Das Virus der Anderen | |
> Bei Corona hegte man nur kurz die Illusion, mit dem Virus nichts zu tun | |
> zu haben. Bei HIV vergingen Jahre, bis Politik und Gesellschaft | |
> reagierten. | |
Bild: Gedenken an Aids-Tote im Central Park in New York, 1988 | |
Schockierende Bilder aus New York gingen in den letzten Tagen um die Welt. | |
Holzsärge, die in einem riesigen Massengrab auf einer Insel vor New York | |
gestapelt wurden. Hart Island, die ehemalige Gefängnisinsel. Menschen, die | |
die Aidskrise über- oder erlebt haben, haben meist schon einmal von diesem | |
Ort gehört: In den 1980er Jahren hat die Stadt New York dort neben Armen, | |
Obdach- und Namenlosen ihre Aidstoten beerdigt. Zu Beginn sogar in Einzel- | |
statt in den üblichen Massengräbern, weil man Angst hatte, dass die Seuche | |
sonst auf die anderen Leichen (!) übergreifen würde. | |
New York, so viele Tote. Das ist auch in anderer Hinsicht ein Déjà-vu: | |
Schon einmal wurden die USA von einem Präsidenten gelenkt, der die | |
Bedrohung durch ein neuartiges Virus viel zu lange und mit tödlichen Folgen | |
ignorierte – im Fall von Aids auch, weil es zunächst vordergründig „die | |
Richtigen“ traf, also Homosexuelle, Prostituierte, DrogenkonsumentInnen. | |
Ronald Reagan nahm das Wort Aids erstmals 1985 in den Mund und auch nur, | |
weil es nicht mehr anders ging. | |
Sein ehemaliger Schauspielkollege und Hollywood-Star Rock Hudson war an den | |
Folgen der Immunschwächekrankheit gestorben. Gleichzeitig hatte er sich als | |
Homosexueller geoutet: Anders als Corona war Aids von Beginn an mit | |
Sexualität und moralisch abweichendem Verhalten assoziiert. | |
Auch in Deutschland fühlen sich nun insbesondere Ältere an längst vergangen | |
geglaubte Zeiten erinnert: Der Kontakt mit anderen Menschen wird zur Gefahr | |
– und Sexualität ist nur noch in monogamer Partnerschaft beziehungsweise | |
unter Einhaltung des Mindestabstands von 1,5 Metern möglich, also gar | |
nicht. Als Aids aufkam, lange vor dem Internet, wurde Telefonsex populär. | |
Denn so war garantiert, dass man „es sich nicht holt“. Aber was eigentlich? | |
Am Anfang der Epidemie war Aids nur ein „Schreck von drüben“, wie der | |
Spiegel im Mai des Jahres 1982 schrieb. In New York, Los Angeles und San | |
Francisco litten plötzlich junge schwule Männer zwischen 25 und 30 Jahren | |
unter Kaposisarkomen, einer seltenen Krebsart, begleitet von schweren | |
Infektionskrankheiten, Lungenentzündungen. | |
Bald schon stellte man fest, dass durchaus auch heterosexuelle Männer und | |
Frauen betroffen waren, Bluter, Drogenabhängige – und ein Begriff für die | |
Bedrohung wurde gefunden, nicht mehr „Gay Related Disease“ (GRID), sondern | |
„Acquired Immune Deficiency Syndrome“ (AIDS). | |
## Der Atlantik war nicht breit genug | |
Man wusste aber nicht genau, was der Auslöser war: Hatte es mit dem | |
Gebrauch von Poppers zu tun? Lag es am exzessiven Gebrauch von | |
Sonnenstudios, waren es Bakterien – oder eine Geißel Gottes, die „extra | |
Peitsche, die der liebe Gott für die Homosexuellen bereit hat“, wie der | |
Spiegel den Berliner Bakteriologen Franz Fehrenbach zitierte. Der Ton der | |
Debatte war damit früh gesetzt, in den folgenden Jahren schwankte er meist | |
zwischen apokalyptischen Seuchenängsten und Bestrafungsfantasien. | |
Im Juni 1983 geht der Spiegel erstmals mit dem Thema Aids auf den Titel, | |
das amerikanische Seuchenzentrum in Atlanta hat zu diesem Zeitpunkt 1.556 | |
eindeutige Aidsfälle weltweit registriert, in Deutschland sind 24 bekannt, | |
558 Todesfälle gibt es bislang in den USA: „Droht eine Pest? Wird Aids wie | |
ein apokalyptischer Reiter auf schwarzem Ross über die Menschheit kommen? | |
Ist eine moderne Seuche in Sicht, die sich zu Tod, Hunger und Krieg | |
gesellen wird, wie einst im Mittelalter? Oder werden nur die homosexuellen | |
Männer daran glauben müssen?“ | |
Der Atlantik war entgegen mancher Hoffnung nicht breit genug gewesen – für | |
viele schwule Männer aus der Mittelschicht war es zu dieser Zeit bereits | |
üblich, regelmäßig in die USA zu fliegen – und zwar nicht zum Ski fahren. | |
1983 erklärt die Bundesregierung Aids in einer Pressemitteilung | |
[1][erstmals zu einem nationalen Problem], und der seinerzeitige | |
Gesundheitsminister Heiner Geißler verkündet, die Krankheit bekämpfen zu | |
wollen. Aber wie und womit? Das Bundesgesundheitsministerium lädt eine Task | |
Force aus San Francisco ein, um sich beraten zu lassen. | |
Man prüft die Möglichkeiten des Bundesseuchengesetzes – aber wie lässt sich | |
damit eine Krankheit bekämpfen, deren Übertragungswege und | |
Inkubationszeiten niemand kennt? Und die vor allem eine Bevölkerungsgruppe | |
betrifft, über die man wenig bis gar nichts weiß – während diese umgekehrt | |
nach Verfolgungserfahrung im Rahmen des Paragrafen 175 ein tiefes | |
Misstrauen gegenüber dem eigenen Staat hegt? | |
## Ein gewisser Horst Seehofer | |
Bereits im Sommer 1983 gründete daher eine Gruppe schwuler Männer zusammen | |
mit der Krankenschwester Sabine Lange die Deutsche Aidshilfe – eine | |
Selbsthilfeorganisation, die allmählich vom staatlichen Gesundheitswesen | |
inkorporiert wurde. Ganz im Geist der (neoliberalen) Zeit orientierte sich | |
die Bundesregierung an der WHO-Charta von Ottawa (1986) und versuchte, | |
Gesundheitsförderung in den [2][jeweiligen Milieus oder Communitys] | |
herzustellen – unter aktiver Miteinbeziehung und durch Selbsthilfe. Die | |
deutschen Aidshilfen erhielten via BZgA (Bundeszentrale für Gesundheitliche | |
Aufklärung) massive staatliche Unterstützung. | |
Es war der Beginn einer letztlich erfolgreichen bundesdeutschen | |
Aidsstrategie, der mit dem Namen Rita Süssmuth verbunden ist – die zugleich | |
eine andere, sehr wichtige Voraussetzung hatte, nämlich die Entdeckung der | |
Krankheitsursache im April 1984: Der Amerikaner Robert Gallo gab bekannt, | |
dass Aids durch ein von ihm entdecktes Virus ausgelöst werde (bereits ein | |
Jahr zuvor hatten Luc Montagnier und Françoise Barré-Sinoussi vom Institut | |
Pasteur in Paris den HIV Typ 1 beschrieben). | |
Gegen eine Geißel Gottes hilft nur beten. Ein Virus kann man mit den | |
Mitteln der Aufklärung bekämpfen. Was Rita Süssmuth, Gesundheitsministerin | |
im Kabinett Kohl und gläubige Katholikin, in Angriff nahm, nachdem sie sich | |
mit ihrem liberalen Ansatz gegen ihre Unions-Konkurrenz aus Bayern hatte | |
durchsetzen können. | |
Wäre es nach der CSU gegangen, hätte man die Möglichkeiten des | |
Bundesseuchengesetzes voll ausgeschöpft, inklusive „Contact Tracing“ und | |
„Absonderung“ in speziellen Heimen, wie es ein gewisser Horst Seehofer | |
seinerzeit forderte. | |
## Flatten the Curve | |
Über die Aidshilfen konnten nun die „Risikogruppen“ in ihren unmittelbaren | |
Umfeldern adressiert werden. 1984 waren bereits die ersten HIV-Tests | |
erhältlich, 1985 setzte sich allmählich die Erkenntnis durch (außer im | |
Vatikan), dass man sich mit Hilfe von Kondomen relativ gut vor der | |
Ansteckung schützen kann. | |
Erstmals kam die leise Hoffnung auf, dass man diese Krankheit längerfristig | |
in den Griff bekommen könnte. Und während man in München die Schwulensaunen | |
schloss und die Heizung auf öffentlichen Toiletten herunterdrehte – im | |
Februar 1987 hatte das Kabinett von Franz Josef Strauß einen | |
Aids-Maßnahmenkatalog (Razzien, Zwangstests) beschlossen –, setzte man im | |
Rest der Republik im großen Stil auf Aufklärung und Prävention. | |
„Kondom“ wurde das Wort des Jahres 1987. Und es funktionierte: Die | |
Neuinfektionsraten in Deutschland sanken massiv, insbesondere die schwulen | |
Männer änderten ihr Sexualverhalten – für den Fall, dass dem nicht so | |
gewesen wäre, Flatten the Curve, hatte sich übrigens auch Süssmuths | |
Bundesgesundheitsministerium härtere Maßnahmen in der Hinterhand behalten. | |
Anfang der neunziger Jahre geriet Aids dann in dem Maß in Vergessenheit, in | |
dem die Mehrheitsbevölkerung begriff, dass die Apokalypse ausbleiben und | |
sie als heterosexuelle Normalbürger ein relativ geringes Risiko hatten, | |
sich mit dem HI-Virus zu infizieren. Den Gesundheitspolitikern war es | |
gelungen, das Virus aus der Mitte der Gesellschaft herauszuhalten. Doch | |
gerade zu diesem Zeitpunkt starben in der Gay-Community sehr viele Menschen | |
unter teils tragischen Bedingungen. Aufmerksamkeit erregten aber nur noch | |
prominente Fälle, etwa der Tod Freddie Mercurys 1991. | |
## Der Wendepunkt | |
Aids blieb die Krankheit „der Anderen“, auch wenn es durchaus eine große | |
Solidarisierung mit den Opfern gab, vor allem mit der | |
Hauptbetroffenengruppe, den schwulen Männern. Im Großen und Ganzen aber | |
wurde Aids im Laufe der Neunziger zu einem weiteren Problem „des Globalen | |
Südens“, vor dem man glaubte die Augen verschließen zu können. | |
Ja, auch diese Seuche bekam man im Westen in den Griff. 1996 kam der | |
Wendepunkt mit der Einführung von Haart, einer Kombinationstherapie mit | |
Medikamenten, die das früher oder später zum Tod führende Virus an seiner | |
Replikation hindern. Das Sterben hörte bei jenen auf, die Zugriff auf die | |
Medikamente hatten, eine Heilung bedeutet diese Therapie indes bis heute | |
nicht, denn [3][das Virus verbleibt im Körper der Infizierten]. Mit einem | |
dieser Medikamente, Kaletra, verbindet sich nun die Hoffnung, Covid-19 in | |
den Griff zu bekommen. | |
Während Corona gerade erst beginnt zu wüten, gibt es in Bezug auf Aids die | |
konkrete Hoffnung auf ein Ende der Pandemie, die weltweit geschätzt 32 | |
Millionen Todesopfer (UNAIDS) gefordert hat: Mithilfe der in immer mehr | |
Ländern eingesetzten Medikamente und ihrer prophylaktischen Einnahme (PrEP) | |
sowie konsequenter Testung hofft man die Krankheit längerfristig vom | |
Antlitz der Erde zu verbannen. | |
Noch aber leben laut UNAIDS geschätzt 36,9 Millionen Menschen (Stand 2014) | |
mit dem Virus – die Mehrheit von ihnen wartet noch immer auf Zugang zur | |
antiretroviralen Therapie. In Deutschland leben laut Robert-Koch-Institut | |
(Stand 2015) geschätzte 84.700 Menschen mit dem Virus, 72.000 davon mit | |
Diagnose, 12.700 ohne. Im Jahr 2015 starben in Deutschland 460 Menschen an | |
den Folgen von Aids, seit Beginn der Epidemie waren es insgesamt 28.100 | |
Menschen. | |
15 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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