| # taz.de -- Ausstellung zu Aktivismus gegen HIV: Die Krise, die Energien freise… | |
| > Im Schwulen Museum* erzählt „HIVstories. Living Politics“ vom Aktivismus | |
| > gegen HIV/Aids in Polen, England, der Türkei und Deutschland. | |
| Bild: Dieser Mann protestiert in Bogota gegen die Verbreitung des HI-Virus | |
| Als das Berliner Schwule Museum* im Jahr 1985 gegründet wurde, war Aids | |
| gerade voll im Westteil der Mauerstadt angekommen: Die Angst ging um in der | |
| [1][schwulen Szene], völlig zu Recht, denn es waren (und sind) in | |
| Deutschland vor allem Männer, die Sex mit Männern haben, die sich neben | |
| Prostituierten, DrogennutzerInnen und BluterInnen mit dem HI-Virus | |
| infizierten. | |
| 1985 gab es erstmals einen verlässlichen Aids-Test, und immer mehr Menschen | |
| wurden positiv getestet; ob Kondome wirklich schützen, war noch umstritten. | |
| Der Rest ist, so könnte man sagen, Geschichte: [2][Die Aids-Hilfe] wurde | |
| gegründet, übrigens nicht von linken AktivistInnen, sondern von engagierten | |
| Szenegängern und einer Krankenschwester, und erarbeitete zusammen mit der | |
| dem Bundesgesundheitsministerium zugeordneten Bundeszentrale für | |
| gesundheitliche Aufklärung (BZfgA) eine Informations- und | |
| Aufklärungskampagne. | |
| Die Kondome schützten tatsächlich, und seit 1996 ist eine HIV-Infektion | |
| zwar nicht heil-, aber doch gut behandelbar, die Krankenkassen zahlen | |
| neuerdings sogar die Kosten für eine Prä-Expositions-Prophylaxe, Tabletten, | |
| die ein Eindringen des Virus in den Körper verhindern. | |
| ## Unendlich viele Geschichten | |
| Das Ende der Geschichte? Keineswegs. 28.100 Menschen starben in Deutschland | |
| seit Beginn der Epidemie. Die Geschichte von Aids gehört hierzulande nach | |
| wie vor keineswegs zum Mainstream der Erzählung. | |
| Die Ausstellung „HIVstories. Living Politics“, die derzeit im Schwulen | |
| Museum* zu sehen ist, hat sich zur Aufgabe gemacht, eine andere als die | |
| „gängige [3][Erfolgsgeschichte] vom Kampf gegen HIV“ zu erzählen, und zwar | |
| aus europäischer Perspektive: Am Beispiel von Inhaftierten in Deutschland, | |
| Drogen-Nutzer*innen in Polen und der Aktivismus-Szene in Großbritannien und | |
| in der Türkei widmet sich „HIVstories. Living Politics“ den Verflechtungen | |
| und Wechselwirkungen von Aktivismus und staatlicher Politik. | |
| Gezeigt werden Videointerviews, Artefakte und Kunstwerke, die im Rahmen des | |
| dreijährigen Forschungsprojekts „European HIV/AIDS Policies: Activism, | |
| Citizenship and Health“ (Europach) gesammelt wurden, koordiniert von Heiner | |
| Schulze, Vorstandsmitglied im Schwulen Museum* (SMU). All das | |
| veranschaulicht, dass es nicht die Geschichte von Aids gibt, sondern | |
| unendlich viele Geschichten. | |
| ## Zu wenig Kondome und saubere Spritzen | |
| So liegt der Fokus bei Deutschland, also einem Land mit einem bereits | |
| frühzeitig staatlich inkorporierten Aids-Aktivismus, auf dem Thema HIV/Aids | |
| in Gefängnissen – zum Beispiel dem Bemühen von Aids-Hilfen und | |
| Knast-AktivistInnen um die niedrigschwellige Bereitstellung von Kondomen | |
| und sauberen Spritzen. Das ist ein Problem, das skandalöserweise bis auf | |
| den heutigen Tag virulent ist, eben auch in deutschen Gefängnissen, in | |
| denen es Drogenkonsum (und Sex unter Männern) offiziell nicht gibt. | |
| Besonders anregend ist in der Tat die europäische Perspektive: Das Beispiel | |
| Großbritannien erinnert noch stark an die Geschehnisse in Deutschland, eine | |
| gerade erst emanzipierte Schwulenszene kämpft angesichts existenzieller | |
| Bedrohung um ihren Fortbestand. | |
| Doch die Artefakte in der polnischen Sektion und entsprechende Interviews | |
| mit ZeitzeugInnen, die man über Kopfhörer erleben kann, erzählen etwas ganz | |
| anderes: Polen war durch seine Isolation bis zur „Wende“, ähnlich der DDR, | |
| vergleichsweise geschützt vor dem HI-Virus. Die Auseinandersetzung mit HIV/ | |
| Aids fiel dann in eine Zeit, in der sich demokratische Öffnung und ein | |
| wiedererstarkender katholischer Einfluss verschränkten, AktivistInnen | |
| stießen auf entsprechenden Widerstand. | |
| Dennoch sind die Neuinfektionsraten in Polen im Vergleich zu anderen | |
| osteuropäischen Ländern gering. In der Türkei hingegen steigen sie aus | |
| einer Vielzahl von Gründen seit einigen Jahren eklatant an, einer davon ist | |
| die unter der AKP-Regierung mangelhafte Gesundheits- und | |
| Aufklärungspolitik. Im historischen Rückblick wird hier verstärkt auf die | |
| Rolle von Trans-Sexarbeiter*innen verwiesen, die im Rahmen der Aids-Krise | |
| bereits 1987 öffentlich für ihre Rechte eintraten. | |
| ## Wut und Leidenschaft | |
| Ein Hingucker ist die in der Sektion Europa gehängte Sammlung von „Badges“, | |
| an Bändern befestigte und in Klarsichthüllen verpackte | |
| Akkreditierungsbestätigungen des ungarischen Aids-Aktivisten und | |
| Funktionärs Tamás Bereczky. Er übt Kritik am längst professionalisierten | |
| europäischen Aktivismus und beklagt, dass die Verbindungen zur Frühzeit des | |
| Aktivismus längst abgerissen seien. Bereczky vermisst Emotionen, Wut, | |
| Leidenschaft. | |
| Und so ergeht es wohl auch den Austellungsmacher*Innen, die in weiten | |
| Teilen einem akademischen Umfeld entstammen, das ohne die Aids-Krise so | |
| womöglich gar nicht existieren würde, den Queer- und Gender-Studies. Sie | |
| erklären: „‚HIVstories‘ lädt dazu ein, das dominante Narrativ von der | |
| Geschichte und Gegenwart des HIV-Aktivismus aufzubrechen und sich auf | |
| Geschichten von den gesellschaftlichen Rändern einzulassen.“ Es ist auch | |
| der Versuch, einen revolutionären Funken zu schlagen aus einer einst | |
| existenziellen Krise, die zugleich ungeheure Energien freigesetzt hatte. | |
| Zur Eröffnung von „HIVstories. Living Politics“ fand zudem eine | |
| gleichnamige internationale Konferenz der Humboldt-Universität Berlin | |
| statt. Dort wurden die Themen, Motive und Bilder der Ausstellung analysiert | |
| und diskutiert, wie zivilgesellschaftliches Engagement und Aktivismus in | |
| den Hochzeiten der Epidemie mit öffentlicher Politik interagierten und den | |
| Umgang mit HIV/Aids bis heute prägen. So besteht womöglich Hoffnung, dass | |
| dem Thema in Zukunft noch mehr Raum zur Verfügung gestellt wird. | |
| 23 Sep 2019 | |
| ## LINKS | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Reichert | |
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