# taz.de -- Sexueller Missbrauch durch HIV-Arzt: Stell dich halt nicht so an! | |
> Ein bekannter HIV-Arzt soll seine Patienten mutmaßlich missbraucht haben. | |
> Aus der Szene wussten viele von dem Fall. Warum hat nie jemand was | |
> gesagt? | |
Bild: Ein Arzt soll jahrelang Patienten sexuell missbraucht haben, der Prozess … | |
„Es hat uns ja nicht geschadet. Wir haben es doch überlebt“ – wenn in der | |
„Szene“ über Übergriffigkeiten, sexuelle Belästigungen und sogar | |
Vergewaltigungen unter Männern gesprochen wird, dann wird entweder ein | |
Jargon angewendet, der an die „Augen zu und durch“-Plattitüden erinnert, | |
die man von der Kriegskindergeneration kennt, oder es wird gewitzelt. | |
Meistens aber wird einfach geschwiegen. | |
Warum eigentlich? Wenn ein Gynäkologe Frauen während der Behandlung sexuell | |
belästigen oder missbrauchen würde, würde ihm doch (mittlerweile) auch | |
möglichst rasch das Handwerk gelegt. Und wenn ein schwuler Arzt übergriffig | |
wird, passiert jahrelang gar nichts? | |
Eine Geschichte von zu Beginn der Nullerjahre fällt mir ein, die den | |
Zusammenhang verdeutlicht. Damals hatte ich einen australischen | |
Mitbewohner, Anfang zwanzig muss er zu diesem Zeitpunkt gewesen sein. | |
Einmal kam er nach Hause mit Tränen in den Augen, weil er zum ersten Mal in | |
seinem Leben Schnee gesehen hatte. | |
Ein anderes Mal war sein rechtes Auge ganz rot und geschwollen – weil er | |
Sperma in sein Auge bekommen hatte. Auf einer schwulen Sexparty. Wir | |
mussten beide darüber lachen. Und doch schickte ich ihn zu einem Arzt, der | |
auf Geschlechtskrankheiten und HIV spezialisiert war – denn, ja, er hatte | |
auch Angst, sich auf diesem Weg womöglich mit dem HI-Virus infiziert zu | |
haben. Bei aller guten Laune war er doch auch nervös. | |
Als er von der Behandlung zurückkam, hatte er eine entzündungshemmende | |
Salbe verschrieben bekommen – und war irgendwie verstört: Der Arzt war ihm | |
zwischen die Beine gegangen, wollte Sex mit ihm haben, im | |
Behandlungszimmer. Gehörte das in Deutschland etwa zu einem Arztbesuch? Wir | |
haben gemeinsam darüber gelacht. Gelacht? | |
Im Nachhinein kann ich mir das nur noch so erklären, dass uns als Reaktion | |
nichts Besseres eingefallen ist. Wir waren beide Studierende, er noch dazu | |
im Ausland. Er war bei einer schwulen Orgie zugegen gewesen, hatte Angst, | |
[1][sich mit HIV infiziert zu haben]. Weder hatte er in diesem Fall den | |
Impuls verspürt, mit seinen Eltern zu sprechen noch mit der Polizei, der | |
australischen Botschaft oder sonstigen offiziellen Stellen. Schon aus | |
Scham. | |
Und war es nicht irgendwie konsequent, wenn man nach einem | |
Risiko-Sexualkontakt in der Obhut eines schwulen Szene-Arztes dem Risiko | |
ausgesetzt ist, ebenfalls sexuell adressiert zu werden? Es bleibt ja alles | |
in der Szene, in der „Community“. | |
So oder ähnlich müssen wir uns das wohl damals zurechtgelegt haben, um es | |
dann zu vergessen. Geblieben war jahrelang immer nur die „lustige“ Pointe | |
mit Sperma im Auge und auch das mit dem Schnee und den Tränen. Der sexuelle | |
Übergriff geriet in Vergessenheit. | |
## Grenzen deutlich verteidigen | |
„Tja, mein Lieber, wer sich in Gefahr begibt, der kann auch darin umkommen. | |
Hast du dir ja so ausgesucht, nicht?“ Solche und ähnliche Sprüche hatte ich | |
jedenfalls im Ohr, nachdem mir als wandelndem „Frischfleisch“ in der Szene | |
die ersten Hände ungefragt in die Hose geschoben worden waren und ich erst | |
lernen musste, dass ich nun eben „Objekt“ war und mich zur Wehr setzen | |
musste. Lernen musste, meine Grenzen ausgesprochen deutlich und notfalls | |
auch unter Einsatz körperlicher Kraft – Gewalt – zu verteidigen, „stell | |
dich halt nicht so an“. | |
Beigebracht wurde einem das als Junge eben nicht, vielmehr gehörte der | |
Umgang mit solchen Fährnissen zu den Dingen, die man in der Szene halt | |
irgendwie lernen musste – und über die man nicht wirklich sprach, schon gar | |
nicht mit Außenstehenden. Denn gerade nach außen hatte man ja alle Hände | |
voll damit zu tun, an einer positiveren Darstellung unserer Minderheit zu | |
arbeiten. Ohne Sperma im Auge, sexuelle Gewalt und lästige | |
Infektionskrankheiten. | |
In den Neunzigern hatte man die Aids-Krise gerade erst einigermaßen in den | |
Griff bekommen, nun dominierte das Bild des gesunden, konsumfreudigen | |
Homosexuellen, der es gar nicht erwarten konnte, endlich zu heiraten, | |
Kinder zu adoptieren und/oder einen Hund zu kaufen. Opfer jedenfalls | |
wollte keiner mehr sein, und schon gar nicht vom eigenen Arzt. | |
Ironisch spricht man vom „dunklen Schattenreich der Homosexuellen“, wenn es | |
um Szene-interne Belange geht, Dinge, über die jeder Bescheid weiß und die | |
man lieber nicht „an die große Glocke“ hängt. Aber es passieren Dinge, die | |
eben doch gravierender sind als ein Verstoß gegen das Rauchverbot im | |
Darkroom. Missbraucht zu werden von einer Person, der man seine Gesundheit | |
anvertraut hat, ist schrecklich. | |
Und es ist gut, dass eine [2][neue Generation Queers] herangewachsen ist, | |
die ihre sexuelle Orientierung selbstverständlicher und daher auch | |
selbstbewusster leben kann. Und so in Zukunft in der Lage ist, die eigene | |
Unversehrtheit zu behaupten. | |
14 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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