# taz.de -- Alain Rappsilber im Interview: „Ruß kann man abwaschen“ | |
> Der schwule Schornsteinfeger über Männerbilder, Outings, Anfeindungen und | |
> die Notwendigkeit von politischem Engagement. | |
Bild: „Ich bin ein Schornsteinfeger, der schwul ist“: Alain Rappsilber | |
Wir sind im Hinterhof eines Hauses in der Urbanstraße verabredet, dort hat | |
er seinen Schornsteinfegerfachbetrieb; der Ton gegenüber seinen | |
Mitarbeitern ist herzlich und robust. Gerade kommt er von einer Massage. | |
Die Arbeit über den Dächern und in Kellern geht auch an ihm nicht | |
körperspannungsfrei vorbei. | |
taz: Herr Rappsilber, am heutigen Samstag feiert Ihre Innung ihr „Hoffest“ | |
im Innungshaus an der Westfälischen Straße. Sind Sie der berühmteste | |
Schornsteinfeger der Stadt? | |
Alain Rappsilber: Nein, um Gottes willen, warum? | |
Sie sind als schwuler Schornsteinfeger bekannt, Sie haben mit dafür | |
gesorgt, dass das Haus Ihrer Innung während der CSD-Saison die | |
Regenbogenflaggte hisst. | |
Ich freu mich auf den Samstag, wenn die Freisprechungen stattfinden. | |
Meister und Meisterinnen, Gesellinnen und Gesellen werden beglückwünscht … | |
das ist für uns ein großer Tag. Dass Frauen dabei sein werden, ist übrigens | |
in unserem Handwerk nichts Außergewöhnliches, Anfang der siebziger Jahre | |
hatten wir die erste Frau, die freigesprochen wurde, viel früher als Frauen | |
in anderen Handwerkssparten. | |
Sie wollten schon immer Schornsteinfeger werden? | |
Nee, das stand nun echt nicht auf meinem Zettel. Als die Schule zu Ende | |
ging, hätten es viele Berufe für mich sein können. Ich hatte Handball | |
gespielt, machte Geräteturnen, war einfach im Sport gut und dachte, die | |
Polizei wäre was für mich. Oder Automechaniker. Meine Tante, die arbeitete | |
in der Bauaufsicht der Stadt, log mich dann an und sagte: Nee, | |
Schornsteinfeger wirste, da bist du früh zu Hause, hast wenig zu tun und | |
verdienst ordentliches Geld. Ein Satz, drei Lügen: Damals haben wir noch | |
samstags gearbeitet, außerdem war kein Feierabend früh … | |
… und viel Geld? | |
Gab es auch nicht. Ich war zwar immer auf Kreuzberger Dächern, und da | |
hatten wir, dank der vielen Kohleheizungen, echt viel zu tun – aber das | |
Geld floss wirklich nicht in Strömen. Es war trotzdem eine sehr gute | |
Berufswahl für mich. In den Neunzigern, am Kottbusser Tor, das war ’ne | |
andere Welt, dörflicher, friedlicher und ruhiger. | |
In welcher Hinsicht? | |
Kreuzberg, wo ich auch später lebte, ehe wir rausgentrifiziert wurden, war | |
damals wie ein verlorenes Viertel. Es sollte ja, so war die Planung, | |
komplett autogerecht saniert werden, die Skalitzer Straße als Autobahn | |
mitten in der Stadt. Kohleheizungen gab es noch und noch, weil sich die | |
Umstellung auf sauberere Heizformen nicht mehr lohnte – man dachte ja, das | |
wird sowieso alles abgerissen. Das hat sich geändert – und Kreuzberg ist | |
einfach ein wunderbares, wenn auch sehr teures Viertel geworden. | |
Hat es Sie nicht gestört, als Schornsteinfeger unentwegt in Ruß zu | |
arbeiten, dauernd schmutzig zu sein? | |
Na mit Schmutz haben wir Schornsteinfeger nichts am Zylinder, nur mit Ruß. | |
Und den kann man abwaschen, das ist gar nicht so schwer. Meine Oma sagte | |
mir damals, Melkfett oder Vaseline helfen. Vorher einschmieren – so wie | |
Schauspieler vor der Aufführung in die Maske gehen, hatten wir als | |
Schornsteinfeger auch eine zweite Haut: eine sehr fettige. Abends hat man | |
sich dann quasi abgeschminkt. Melkfett auf der Haut zu haben war im Winter | |
beim Fegen auch die beste Wärmedämmung. Ich hab nie gefroren. Aber heute | |
ist das ja alles nicht mehr so. Wenn ich überlege, was ich früher an Ruß | |
nach draußen geschleppt habe. | |
Ein schwuler Schornsteinfeger – ist das nicht gegen das Klischee: Schwule | |
Männer arbeiten eher im Frisörhandwerk, oder? | |
Das ist nur der oberflächliche Blick, ich kenne viele schwule Handwerker, | |
auch Schornsteinfeger, aber die zeigen sich nicht, sie wollen in ihren | |
Berufen nicht als schwule Männer auffallen. Vor allem wegen der Kollegen, | |
mit denen sie zusammenarbeiten – die Sprüche wollen sie nicht aushalten. | |
Aber auch bei Tischlern, Glasern, bei den Elektrikern gibt es nicht nur | |
heterosexuelle Handwerker. | |
Und bei Frauen? | |
Tischlerinnen kenne ich, die auch Lesben sind, sie sind in allen | |
Handwerksberufen. Aber auch hier gilt: Sie leben ihr Lesbischsein privat | |
und zeigen sich nicht öffentlich. Auf’m Bau, klar, gibt’s auch schwule | |
Männer, aber ehrlich gesagt, da arbeiten normalerweise sehr, sehr viele | |
Männer aus Osteuropa, und bei denen ist mit Schwulem kein Blumenpott zu | |
gewinnen, auf’m Bau ist die Atmosphäre extrem homophob. | |
Und wie kamen Sie zu Ihrem Outing? | |
Wowereit hat es vorgelebt, warum, dachte ich, nicht auch ich? Der | |
Regierende Bürgermeister hat ja 2001 bei seiner Kandidatur für sein Amt | |
gesagt: „Ich bin schwul – und das ist auch gut so.“ Das fand ich enorm | |
beeindruckend und dachte, das kann ich auch. | |
Dürfen wir annehmen, dass das in Ihrer Innung nicht jeder begrüßt hat? | |
2012, als ich zum Bezirksschornsteinfeger bestellt wurde, da wurde mir von | |
Kollegen so nebenbei zugeraunt, man hätte mich vergasen sollen. So what? | |
Das habe ich einfach mal ignoriert. Danach gab’s noch ein Stürmchen im | |
Wasserglas, als ich mit dafür sorgte, dass meine Innung eine | |
Regenbogenfahne zum CSD hisst. Das war nicht zur Freude all meiner | |
Kollegen. Vergangene Zeiten, die sind vorbei. Wir als Handwerksorganisation | |
unterstützen den CSD auch finanziell tüchtig, das schafft kein anderes | |
Handwerk. Die Handwerkskammer weigert sich ja nach wie vor, die | |
Pride-Flagge während der CSD-Tage öffentlich zu zeigen. Ich hoffe, die neue | |
Handwerkspräsidentin Carola Zarth wird da mal einen anderen Weg gehen. | |
Wie war Ihr Coming-out? | |
Ich hatte ein sehr spätes Coming-out, erst so mit Mitte zwanzig. Man hat | |
zwar auf Männer geguckt, auch mal was mit Frauen probiert, das hat mir aber | |
keinen Spaß gemacht. Wir waren mal mit so einer lustigen Männerrunde in | |
Köln im Puff, und ich wurde tatsächlich von meinen Kumpels da zu einer | |
reingeschickt … | |
… die typische heterosexuelle Männerselbstvergewisserungssituation. | |
Die Frau, zu der sie mich schickten, die merkte aber gleich, was mit mir | |
los ist. Wir redeten noch ein bisschen miteinander, dann gingen wir raus, | |
dann sagte sie vor allen anderen: Das war der beste Fick, den ich in 20 | |
Jahren hatte – und gab mit das Geld zurück mit den Worten: Ich bezahl dafür | |
auch! | |
Hässliche Männerwelt, oder? | |
Ich wollte in der Gruppe nicht auffallen als Außenseiter, aber ich merkte, | |
dass ich bei bestimmten Themen nicht so mitreden konnte – und auch nicht | |
wollte. Mein Steckenpferd war eher so moderne Technik, Fotografie, aber | |
andererseits wollte ich da gruppendynamisch auch nicht so aus der Reihe | |
fallen. Man hat gelernt, sich zu verstellen, deshalb war das für mich eine | |
gute Situation, ich stand einigermaßen gut da. Man hat es damals so | |
gelernt, um nicht anzuecken, und im Handwerk sowieso, bestimmte Sachen nie | |
öffentlich gemacht, denn man hat ja mit vielen Kunden zu tun. | |
Wie hat kurz darauf Ihre Familie Ihr Outing aufgenommen? | |
Mein Zwillingsbruder ist ebenfalls schwul. Er ist früh nach München | |
gegangen, hat viel mit Medien gemacht. Ich war eher das Nesthäkchen. Und | |
ich habe viel Sport gemacht. Mein älterer Bruder ist Elektriker, er ist | |
verheiratet und hat zwei Kinder. In meiner Familie ist alles in Ordnung. | |
Meine Mutti braucht sich wirklich überhaupt keine Sorgen mehr zu machen. | |
Hatte Sie sich Sorgen gemacht? | |
Ach, anfangs dachte sie, sie hätte irgendetwas falsch gemacht bei mir und | |
meinem Bruder, aber den Zahn haben wir ihr ganz schnell gezogen: Alles | |
richtig gemacht, alles schön, alles schick. Heute ist es so: Wer mich nicht | |
akzeptiert, den lasse ich stehen, da bin ich ganz schmerzfrei. | |
Sie veranstalten das Leder- und Fetischfestival Folsom Europe mit, das | |
Mitte September in Berlin stattfindet. Warum? | |
Ich hatte Anfang der nuller Jahre für viele Magazine geschrieben, als | |
Amateur, habe vor allem Fotos gemacht. Dann fragte mich ein Bekannter, ob | |
ich ihm bei diesem Projekt helfen könnte. Das war Folsom. Und ich dachte, | |
klar, die kämpfen um öffentliche Sichtbarkeit, um Anerkennung, denen geht | |
es wie mir – da helfe ich. | |
Was ist das eigentlich genau für ein Fest, was passiert da denn so? | |
Da geht hetero- und homosexuell zusammen, Männer, klar, aber auch viele | |
Frauen. Wir waren die ersten Eventveranstalter, die eine Frauenbeauftragte | |
hatten. Das Event kommt aus den USA, und dort ist es viel mehr als die | |
Feier von sexuellen Reizen und Vorlieben, sondern eine der größten | |
Spendenorganisationen des Landes. Dort fing es in den Achtzigern an – | |
geholfen wurde mit dem gesammelten Geld vor allem den Aidsinitiativen … | |
… die in den USA der Ronald-Reagan-Ära staatlich so gut wie keinen Support | |
hatten. | |
Alles an Geld musste durch die Community gesammelt werden, sonst hätte es | |
diese Bewegung nicht gegeben. Und Folsom zählt zu den größten | |
Spendensammlern. Mich fragte dann Jürgen Rentzel von Box, einer | |
Leder/Fetisch-Zeitschrift, mit dem ich schon für schwule Medien | |
zusammengearbeitet hatte, ob ich mithelfen könnte. Ja, das wollte ich – mit | |
meinen Erfahrungen, die ich bei den Loveparades gesammelt hatte und bei | |
anderen Events. | |
Klaus Wowereit hat ja durch die bürgerliche Presse, etwa durch den | |
damaligen Tagesspiegel-Redakteur Bernd Ulrich, viel Ärger bekommen, weil er | |
ein Grußwort für ein Folsom-Programmheft schrieb – er habe durch diese | |
Zeilen dem Ruf Berlins geschadet. | |
Das war reine Politik, man versuchte, dem offen schwulen Klaus Wowereit zu | |
schaden, dabei war es sein Job, als oberster Repräsentant der Stadt | |
international zu werben. Berlin war im Arsch damals, wirtschaftlich, vom | |
Selbstbewusstsein her – und Folsom war eine gute Idee, Berlin in aller Welt | |
bekannter zu machen. Wowereit hatte ja auch schon den Letter of intent an | |
die amerikanischen Lizenzverwalter geschrieben, dass Berlin dieses Event | |
ausrichten will. Berlin – tolerant, divers und weltoffen, das war die | |
Botschaft. | |
Und wie sehen Sie es heute? | |
Wenn man wie ich beruflich schon mehr als 40.000 Wohnungen gesehen hat und | |
sich manchmal dachte, das hätte Gott auch wirklich verhindern können, dass | |
ich das auch noch sehe, dann war die ganze Aufregung um Wowereits Grußwort | |
für das Folsom-Magazin lächerlich. Am Ende hat diese verkniffene Kritik an | |
dem Regierenden Bürgermeister seinen Kritikern ja nichts genützt – mit | |
Folsom kamen Abertausende nach Berlin, aus aller Welt und machten aus dem | |
Wochenende das umsatzstärkste des ganzen Jahres. Allein aus Nordamerika | |
kamen zehn- bis fünfzehntausend Leute. | |
Berlin war in der Tat international zu seinem perfekten Ruf gekommen: „Arm, | |
aber sexy“, oder? | |
Wir hatten zur Kritik an Wowereit und Folsom überhaupt 4.000 Presseartikel, | |
Berichte der BBC und von CNN. Nichts von den schlüpfrigen Anwürfen stimmt, | |
so von wegen Sodom & Gomorrha: Es gab keine Verletzten, keine Prügeleien, | |
nix davon. Prada- und Gucchi-Tüten trugen die Leute aus den Läden, an den | |
Folsom-Tagen wird ordentlich Geld umgesetzt. Andererseits ist Folsom | |
nichts, was den Rahmen sprengt – es ist wie beim Oktoberfest, wo sich | |
niemand drüber aufregt, wenn da Trachten, Lederhosen und Dirndl getragen | |
werden. | |
Was unterscheidet die Leder- und Fetischszene von den konventionellen | |
queeren Szenen? | |
Es ist mehr Geld im Umlauf, aber das ist auch logisch, denn Folsom wird von | |
vielen älteren Männern und Frauen besucht, die haben ja mehr Kohle als | |
jüngere. Ich würde sagen, es gibt vielleicht mehr Zusammenhalt in der | |
Fetischszene. Jedenfalls hat Folsom eine reiche, geschwisterliche | |
Geschichte. | |
Inwiefern? | |
Folsom ist auch eine Geschichte, die von Benefiz handelt. Ein Event der | |
Ledervereine und ihrer Sozialbeauftragten. Ledervereine waren auch immer | |
Sozialvereine, das war schon in den sechziger Jahren so, als man sich half, | |
wenn es im Alter nicht so lief. Die Aidshilfen entstanden aus den Leder- | |
und Fetischvereinen. In den USA kommen zu diesem Event drei- bis | |
vierhunderttausend Leute zusammen. Da reichen keine Spendenbüchsen, da | |
braucht es Spendentonnen. | |
Folsom in den USA scheint eine Art Volksfest zu sein. | |
Und, gemessen an Berlin, wirklich Sodom & Gomorrha, so prüde, wie es sonst | |
in Amerika zugeht. Bei uns ist es eher gemütlich, ein gibt ein paar | |
Räumchen, draußen Bierbände, sexy Kerlchen und Frauen in der Fugger- und | |
Welserstraße. So unterstützen wir die Aidspräventionsarbeit, inzwischen vor | |
allem für osteuropäische Projekte. Aids wird dort meist totgeschwiegen, | |
HIV-Infizierte haben es dort bitter, da darf unsere Solidarität keine | |
Worthülse bleiben. | |
Längst nicht mehr ist Klaus Wowereit Regierender Bürgermeister, sondern | |
Michael Müller. Haben Sie von dem ein Grußwort erhalten? | |
Im vorigen Jahr haben wir angefragt, aber man druckste rum – dass das | |
schwierig sei –, ohne uns Näheres mitzuteilen. Wir haben dieses Jahr nicht | |
wieder gefragt, die Leute kommen auch so. | |
Was, Alain Rappsilber, treibt Sie an? | |
Ich weiß nicht – aber so viel ist sicher: Ich bin ein glücklicher | |
Schornsteinfeger, der schwul ist. Was immer das auch für andere bedeutet, | |
das ist mir egal. | |
31 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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