| # taz.de -- Demo-Saison für sexuelle Sichtbarkeit: Herrlich queerer Karneval | |
| > Im Umgang mit dem CSD zeigt sich meist die Offenheit einer Gesellschaft. | |
| > Auch kleine Demos sind ermutigend für queere Communities in Autokratien. | |
| Bild: Scheidelinie zwischen Offenheit und Autokratie | |
| Millionen machten am Wochenende beim [1][CSD in New York City] mit, | |
| naheliegender Weise aus Anlass des [2][50. Geburtstag der vom „Stonewall | |
| Inn“] in Greenwich Village (Manhattan) Ende Juni 1969 ausgehenden | |
| Straßenkämpfe. Das war sogar „Tagesschau“- und „Heute“-fähig, das Er… | |
| weckte das Interesse der elektronischen Medien. Gut so, das muss als | |
| Fortschritt in der Wahrnehmung der Redaktionen genommen werden. | |
| Immerhin, eher nur lokal registriert, fanden auch [3][CSD-Paraden in | |
| Schwerin] und [4][in Mainz] statt: Es ist eben die Saison der „Sexual | |
| Otherness“, die Zeit der medialen Präsenzorganisation: „Queerness“ kann | |
| überall sein, das ist keine zentrale Demoangelegenheit, Schwules und | |
| Lesbisches und Trans*mäßiges braucht das Bewusstsein, bis ins letzte Dorf | |
| zu reichen. Ja, es sogar zu müssen: In jeder Stadt muss die abwegige Idee, | |
| das Leben spiele sich in den (einst) klassischen heteronormativen Bahnen | |
| nur ab, Schwules oder Lesbisches bleibe besser den Undergrounds | |
| vorbehalten, unterspült und getilgt werden. | |
| Und wie das klappt, der Fortschritt ist zwar eine Schnecke, aber sie kommt | |
| trotzdem vom Fleck. In der Türkei – [5][besser: In Istanbul] – fand am | |
| Wochenende ebenfalls ein von der Polizei zunächst nicht mit Tränengas und | |
| Schlagstöcken verhinderter CSD statt. Sehr viele beteiligten sich, in | |
| Bezirken, in denen die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht das | |
| Sagen hat, riefen sogar Politiker*innen zum CSD auf. Eine Woche zuvor wurde | |
| in der türkischen Stadt Izmir ein CSD von der Polizei zerkloppt, in der | |
| Hauptstadt Ankara waren queere Umzüge ebenfalls nicht erlaubt. Die queere | |
| Frage scheint aktuell die Scheidelinie zwischen offenen und autokratischen | |
| Formen von Politik und Gesellschaft zu markieren – nicht nur in der Türkei. | |
| In einem [6][CSD-Manifest] heißt es: Vor 50 Jahren, ausgehend vom | |
| „Stonewall Inn“, sei der „Funke“ gesetzt worden: für den Kampf für ein | |
| „stolzes“ Leben, einen, „den wir für unsere Körper, unsere Wünsche, Re… | |
| und unser Dasein führen“. Wie eine Kampfansage klingt dann auch diese | |
| Aussage: „Wir sind hier! Gewöhnen Sie sich daran – wir gehen nicht weg!“ | |
| Dass Erdogan und die Seinen den politischen Zenit überschritten zu haben | |
| scheinen, spielt dem Selbstbewusstsein der LGBTI*-Szenen (nicht nur) am | |
| Bosporus in die Hände: prima. | |
| Sie zehren jedoch nicht allein von der politischen Lage in der Türkei, | |
| sondern auch von ihren LGBTI*-Freund*innen in aller Zeit, vor allem der | |
| reichen. Wer die queeren Szenen auch nur oberflächlich kennt, wer | |
| Freund*innen und Bekannte dort hat, weiß, wie couragiert deren Kämpfe sind | |
| – und wie stark sie darauf hoffen, dass CSDs in den queerpolitisch schon | |
| stabil freiheitlichen Ländern im Maßstab von Hunderttausenden, medial | |
| akkurat berichtet, weiter stattfinden. Wie jetzt in New York City, bald in | |
| Köln und Berlin, am nächsten Wochenende in London. Oder in Madrid, Paris | |
| oder Stockholm: Alle CSD-Paraden sind öffentliche Mega-Sichtbarkeiten – und | |
| sie sind gerade für queere Demos in Ländern wie der Türkei, Polen, der | |
| Ukraine oder Nordmazedonien extrem ermutigend. Gerade die CSD-Feste im | |
| Massenmaßstab sind direkte Botschaften an alle, die in Ländern leben, in | |
| denen es wenigstens kleine Spielräume fürs öffentliche Zeigen und | |
| Sich-sichtbar-Machen existieren. | |
| Weshalb es gerade in Deutschland einen so gediegene Aversion gegen | |
| gutgelaunte, grelle, flamboyante und lebensfrohe CSDs gibt, von linker wie | |
| von queertheoretischer Seite, ist verblüffend ungeklärt. Im [7][Interview | |
| von „Spiegel Online“ mit dem Historiker Rainer Nicolaysen] heißt es in | |
| einer Frage zu den CSD-Umzügen, ob diese in Deutschland nicht etwas | |
| „Karnevaleskes“ hätten. Tja, haben sie das? Und wenn ja: So what? Als ob | |
| Demos unter Verdacht des Antipolitischen stehen, wenn sie nicht mehlig-grau | |
| daherkommen – und als ob die CSD-Manifestationskultur nichts mehr wert sein | |
| kann, wenn sie atmosphärisch nicht wie Straßenschlacht à la mode „Ende | |
| Gelände“ schmeckt und riecht. | |
| 1 Jul 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.queer.de/detail.php?article_id=33965 | |
| [2] /50-Jahre-Stonewall-Unruhen/!5605736 | |
| [3] https://www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/rund-1000-demonstranten-in… | |
| [4] https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/mainz/LGBTQ-Community-protest… | |
| [5] https://www.queer.de/detail.php?article_id=33964 | |
| [6] https://www.facebook.com/istanbulpride/photos/a.191888724272082/21990989035… | |
| [7] https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/50-jahre-stonewall-proteste-zum-… | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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