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# taz.de -- Körperarbeit und Corona: Im Angesicht des Kühlschranks
> Turnen begann als Menschenoptimierung für die Nation. Heute trainiert man
> für den Kapitalismus – oder man geht einfach in die Küche und frisst.
Bild: Felgaufschwung strengstens verboten. Wer turnen will, muss das zu Hause t…
Es sind fette Tage, für alle Menschen, die sich ins Homeoffice
zurückgezogen haben. Der Weg zum Kühlschrank ist nur wenige Meter lang. Der
immer passende Gruß für alle Heimarbeiter ist ohnehin schon immer
„Mahlzeit!“ gewesen. Aufpassen solle man auf sich, raten etliche Leute und
Experten. Sie schicken Bilder von sich beim Turnen auf dem Wohnzimmerboden
über die sozialen Netzwerke in die Welt.
Wer das sieht, der bekommt spätestens beim achten Honigbrot, das er sich
mal eben zwischendurch schmiert, ein schlechtes Gewissen und rollt die
Yogamatte aus, die er sich gekauft hat, als er aus Angst vor einem sich
abzeichnenden Burn-out beschlossen hat, ein wenig achtsamer mit sich selbst
zu sein. Den Beschluss, endlich das Leben umzustellen, mag man vielleicht
nicht wirklich umgesetzt haben, die Corona-Turnstunde auf dem heimischen
Linoleum wird einen indes nochmal darin bestärken, dass er grundsätzlich
richtig war.
„Change“ heißt das Zauberwort der Selbstoptimierer, die in Fitnessstudios,
beim Yoga, einfach nur beim Joggen, beim Sich-Ernähren oder irgendeinem
Trend wie Crossfit an ihren Bodies schrauben. „Aber der Change! kommt nur,
wenn man nicht locker lässt. Ein paar Wochen laufen? Ein paar Atemübungen?
Ein paar Gewichte stemmen? Mal das Weißmehl weglassen? Im Urlaub einfach
mal loslassen? So wird das nichts.“ Mit diesem Worten beschreibt Tim Bindel
die Probleme, die sich stellen, wenn man seinen Körper optimieren will.
Er schreibt dies in einer Aufsatzsammlung namens „Texte zur Turnkunst“, die
jüngst im Verbrecher Verlag erschienen ist. Der Professor für
Sportpädagogik zieht dabei eine Linie von der Wehrertüchtigung der Jünger
von [1][Turnvater Jahn] bis zu den Achtsamkeits- und Sixpack-Apologeten der
Gegenwart. Auch denen nämlich gehe es um Ertüchtigung. „Viele Menschen
turnen wieder“, schreibt er, „sie möchten bereit sein für den Kampf,
weniger den nationalen als viel mehr den kapitalen.“
## Geschichte der Achtsamkeit
Wie lange hierzulande schon gymnastische Übungen im privaten Studio
angeboten wurden, erfährt, wer sich mit dem Leben von Carola Joseph
beschäftigt. Das hat [2][Christoph Ribbat] in seinem neuen Buch „Die
Atemlehrerin“ (Suhrkamp) ausführlich getan. Carola Joseph wird in den
1920er Jahren Gymnastiklehrerin in Berlin. Es ist dies eine Zeit, in der
verschiedene Reformbewegungen durch Turnen oder Tanzen neue Reize setzen
wollen. Nicht wenige dieser neuen Gymnasten finden, dass ihre Turnkunst
sich ganz gut im nationalsozialistischen Bewegungskult machen würde, und
lassen sich einreihen.
Anderen widerstrebt das, und Carola Joseph hat ohnehin keine Wahl. Sie wird
zum jüdischen Flüchtling, und das Leben verschlägt die nun als Carola Spitz
Verheiratete nach New York, wo sie sich Carola Spread nennt und am Central
Park ein „Studio of Physical Re-Education“ betreibt. Bis sie 97 ist, wird
sie Menschen das Atmen lehren, sich kleinen Ruhm verdienen, aber nie
berühmt werden. Wer das großartige Buch über ein Leben, das nicht wirklich
groß war, liest, wünscht sich, mit Carola Spread geschnauft zu haben.
Einmal nur. Es muss ja nicht immer gleich der große Change sein.
Darauf ein neuntes Honigbrot im Homeoffice!
2 Apr 2020
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## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
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