# taz.de -- Radfahren in der Corona-Krise: Zwei Passanten ohne jede Empathie | |
> In Mailand ist der Gang zur Mülltonne der einzig legale Ausflug des | |
> Tages. In Berlin kann man schön in der Sonne radeln, doch auch da lauert | |
> Gefahr. | |
Bild: Social Distancing ist mit dem Fahrrad kein Problem. | |
M. steht seit sechs Tagen unter Quarantäne in Italien. Für das ganze Land | |
wurde die Ausgangssperre gegen die Ausbreitung des Coronavirus verfügt. | |
Konkret bedeutet dies, dass man nur aus drei Gründen rausgehen darf: | |
Arbeit, Gesundheit oder Lebensmitteleinkauf. So wird Müllentsorgung für | |
viele zum einzigen legalen Gang außer Haus, den man noch spontan | |
unternehmen kann. Ob ich in Berlin auch schon die Freuden der | |
Müllentsorgung entdeckt hätte, möchte M. von mir wissen. | |
Ich blicke aus dem Fenster. Es ist der erste sonnige Tag nach einer | |
gefühlten Ewigkeit in Berlin und gleichzeitig das erste Wochenende, an dem | |
das öffentliche Stadtleben so gut wie lahmliegt. Der Grund dafür heißt auch | |
hier Corona. | |
Doch während Kulturstätten und Lokale geschlossen, Debattenabende und | |
Konzerte abgesagt oder durch Live-Streams ersetzt werden und die | |
Stadtbewohner*innen sich auf die Quarantäne vorbereiten, hängen die zwei | |
Katzen meiner Nachbarn unbekümmert auf dem Balkon unter dem heiteren Himmel | |
ab. Für sie ändert die eingetretene Notlage nichts. Sie liegen in der | |
Sonne, wälzen sich ab und zu auf dem Rücken und beobachten das Geschehen im | |
Hinterhof. | |
Doch ich muss mich um Lebensmitteleinkauf kümmern. Da der kleine Supermarkt | |
um die Ecke schon gehamstert wurde, versuche ich mein Glück auf dem nahe | |
gelegenen Wochenmarkt. Kurz darauf stehe ich also am Obst- und Gemüsestand | |
und hole Orangen. Dabei fällt mir auf, dass ich „social distancing“ seit | |
Tagen fleißig praktiziere, denn mir kommt die Einkaufssituation schon vor | |
wie ein bedrohliches Gedränge. | |
Schnell erledige ich meinen Einkauf und wechsle abschließend ein paar Worte | |
mit dem Verkäufer. Er sagt so etwas wie „zu Hause bleiben, Mango essen, | |
Abstand halten, bleib gesund und see you“. Wir verabschieden uns. | |
## Klopapier im Kofferraum | |
Auf dem Rückweg komme ich an einem Bistro vorbei, auf dessen Tafel „Eat | |
here or we will both starve“ zu lesen ist. Im Vorbeigehen schnappe ich | |
einzelne Worte aus Passant*innengesprächen auf: „Virus“, „Symptome“, | |
„Ansteckungsgefahr“. Vor mir biegt ein Auto ab, dessen Kofferraum | |
vollgestopft mit Klopapier ist. Bis ich meine Wohnung erreiche, bin ich | |
fertig mit den Nerven. Vielleicht eine Begleiterscheinung des „social | |
distancing“, so wie die Schlaflosigkeit der letzten Nächte. Bewegung und | |
Vitamin D würden guttun. | |
Ich könnte mit dem Rad zum Viktoriapark fahren, ohne Zwischenstopp, um der | |
apokalyptischen Stimmung zu entfliehen und das „social distancing“ | |
einzuhalten. Nur: Normalerweise steige ich nie vor Mai aufs Fahrrad, auch | |
nicht mit Sonne. Doch ich muss an M.s Ode an die Müllentsorgung denken und | |
kurz darauf radle ich schon mit A. Richtung Kreuzberg. | |
Wir fahren durch die lichtdurchflutete Stadt und mir kommt es vor, als | |
würde die Sonne die in der Luft liegende Negativität aufsaugen und der | |
Sauerstoff meine Gedanken neu sortieren. Doch auf einmal ist alles | |
vereitelt. Zwei Passant*innen kommen plötzlich zwischen zwei geparkten | |
Autos hervor und schneiden A. den Weg ab. A. muss scharf abbremsen und | |
fällt seitlich hin. | |
Während ich ihm dabei helfe, wieder aufzustehen, schauen die zwei | |
Passant*innen schweigend von oben auf uns herab und rühren sonst keinen | |
Finger. Ob die beiden gerade coronabedingtes „social distancing“ | |
praktizieren, ist unklar. A. rät ihnen, besser aufzupassen. „Hast du | |
recht“, antwortet der eine trocken, nimmt einen tiefen Zug aus seiner | |
Zigarette und läuft mit seiner Begleitung weiter. | |
Diese Menschen praktizieren einfach nur Empathielosigkeit, das steht für | |
mich fest. Inzwischen sind die guten Auswirkungen von Rad und Sonne weg. | |
A.s Arm schmerzt. Wir schaffen es noch bis zum Park, fahren aber gleich | |
zurück. Ohne Zwischenstopp Richtung Quarantäne. | |
19 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Gloria Reményi | |
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