# taz.de -- Europa im Corona-Schock: Gemeinsam durch die Krise | |
> Das Corona-Virus legt die europäischen Hauptstädte lahm, Grenzen werden | |
> geschlossen. Wie gehen die Menschen damit um? Ein Blick in vier | |
> Metropolen. | |
Bild: Ungewohnte Leere: Der Berliner Gendarmenmarkt am Montag | |
Berlin: „Do you want to take a tour?“, fragt die Ticketverkäuferin für die | |
Sightseeing-Touren am Checkpoint Charlie ohne große Hoffnung das | |
amerikanische Pärchen, das da am Montagmittag etwas unschlüssig auf der für | |
Checkpoint-Verhältnisse beinahe menschenleeren Kreuzung steht. „You can | |
have a whole bus for yourself!“ Doch die beiden laufen zu Fuß weiter in | |
Richtung des geschlossenen Mauermuseums. | |
Bianca Shamrahl, die Tickets für die Unternehmen Top Tour und City | |
Sightseeing verkauft, seufzt: „Das Virus ist eine Katastrophe für uns.“ | |
Normalerweise würde jetzt die Saison langsam losgehen, sagt sie an diesem | |
ersten warmen Vorfrühlingstag. Stattdessen würden die Fahrer die | |
Doppeldeckerbusse jetzt leer durch die Stadt steuern. Sie als Verkäuferin | |
bekomme den Mindestlohn plus Provision für verkaufte Tickets. „Das sind | |
rund 600 Euro, die ich weniger haben werde im Monat“, schätzt Shamrahl. Die | |
Konkurrenz habe bereits „drei, vier Leute auf die Straße gesetzt“, will sie | |
gehört haben. | |
In einem Straßencafé ein paar Meter weiter die Friedrichstraße entlang | |
schätzt der Inhaber, dass ihn die Einschränkungen wegen des Coronavirus | |
„mindestens 70 Prozent“ der täglichen Einnahmen kostet. „Die Stammkunden | |
kommen nicht mehr, weil sie zu Hause im Homeoffice sitzen. Und die | |
Touristen sind auch nicht mehr da.“ Der [1][Senat hatte am Freitagabend | |
verfügt, dass alle Clubs, Kneipen und Bars am Samstag um Mitternacht | |
schließen mussten]. Restaurants und Cafés dürfen bisher öffnen, so sie denn | |
ihre Tische mindestens 1,5 Meter auseinanderrücken. Vor dem Straßencafé | |
stehen die Tische eindeutig noch zu dicht auf dem Gehweg – „aber gucken | |
Sie, ist ja ohnehin niemand da.“ Das stimmt, nur eine Frau löffelt eine | |
orangefarbene Suppe. | |
Weiter in Richtung Gendarmenmarkt sind die Straßencafés zumindest an den | |
Außentischen noch gut besetzt. „Alle Gerichte auch zum Mitnehmen!“, hat | |
eine Pizzeria groß an die Fenster geklebt. Die Gesprächsfetzen, die man im | |
Vorübergehen aufschnappt, haben nur ein Thema: „Corona... crazy“. Auf dem | |
Platz hinter dem Konzerthaus nippt ein britisches Paar am Bier: „So | |
freundlich und ruhig hier!“, sagt er glücklich. So kann man es auch sehen, | |
jedenfalls wenn man nur auf der Durchreise ist und nicht im Ausnahmezustand | |
festhängt. Auf dem Gendarmenmarkt gurren die Tauben. Jetzt kann man sie | |
hören. Anna Klöpper, Berlin | |
*** | |
Rom: Wie Fliegende Holländer rollen derzeit die Busse durch Rom: Genauso | |
wie auf dem Geisterschiff ist keine Menschenseele an Bord. Das erste Mal | |
seit Jahrzehnten funktioniert der öffentliche Nahverkehr in Italiens | |
Hauptstadt vorbildlich, alle paar Minuten kommt ein Bus, die App verrät, | |
dass er nur wenige Minuten ins Stadtzentrum braucht. | |
Das erste Mal seit Jahrzehnten aber auch braucht schier niemand den | |
öffentlichen Personennahverkehr – wenn zwei Passagiere an Bord sind, ist es | |
schon viel. Was die Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern [2][mit den | |
am härtesten vom Coronavirus betroffenen Patienten machen] – sie in ein | |
künstliches Koma versetzen –, das hat die Regierung mit ganz Italien | |
unternommen. | |
Schon seit Donnerstag liegt das öffentliche Leben völlig brach, sind 60 | |
Millionen Menschen zum Hausarrest verdammt, dürfen sie nur noch vor die | |
Tür, um das Notwendigste zu erledigen, zur Arbeit zu gehen oder stundenlang | |
vor den Supermärkten, den Metzgereien und Bioläden – die alle den Einlass | |
strikt kontingentieren – Schlange zu stehen. | |
Die Folge: Eine unwirkliche Stille hat sich über die sonst eigentlich immer | |
laute Stadt gelegt, verschwunden ist das Grundrauschen des Verkehrs, | |
verschwunden der Lärm der getunten Motorräder, verschwunden die | |
Hupkonzerte, wenn der Verkehr stockt, und auch im Hof klacken nicht mehr | |
die Stöckelschuhe der Mädchen, die abends ausgehen. | |
Um 18 Uhr allerdings ist es mit der Stille vorbei – seit Freitag verwandelt | |
sich Rom in einen gigantischen Chor, treten Tausende Menschen an ihre | |
Fenster, auf ihre Balkone, schmettern gemeinsam vertraute Lieder. Los ging | |
es am Freitag mit der Nationalhymne, am Samstag gab es Adriano Celentanos | |
„Azzurro“, am Sonntag Rino Gaetanos „Il cielo è sempre più blu“. | |
Und Nachbarn, die sich über Jahre hinweg oft nicht einmal gegrüßt haben, | |
entdecken einander plötzlich, halten Schwätzchen von Balkon zu Balkon. | |
Wohl 20 Minuten geht das so, dann sind alle wieder im Hausarrest. Ein | |
Entkommen gibt es nicht, seit Samstag sind auch die städtischen Parks und | |
Grünanlagen geschlossen. | |
Was bleibt da noch zu tun? In den WhatsApp-Chats outen sich Römerinnen und | |
Römer zuhauf mit einem neuen Hobby: ihre Wohnung, unter Einsatz aller | |
verfügbaren Putzmittel, geradezu manisch auf Hochglanz zu bringen. Michael | |
Braun, Rom | |
*** | |
Kopenhagen: „Du kennst das Buch doch sicher auch“, fragt Lene: „Palle ale… | |
i verden“? Stimmt, Paul hieß dieser Palle, der plötzlich allein auf der | |
Welt war, und es ist eines der Kinderbücher, die man nie mehr aus dem Kopf | |
herausbekommt. „So ist es natürlich nicht, aber ein wenig fühlt man sich | |
so“, fährt Lene fort: „Du sitzt alleine oder mit zwei Leuten im | |
S-Bahn-Wagen und manche Bahnsteige sind menschenleer. An den Waggontüren | |
hängen Plakate, die mahnen, Abstand zu den Mitreisenden zu halten. Aber man | |
schafft es gar nicht, jemand zu nahe zu kommen.“ | |
Eigentlich hatten wir ein Treffen vereinbart, doch die dänische Regierung | |
vereitelte mit ihrer Grenzschließung diesen Plan. Nun berichtet Lene am | |
Telefon, wie es in Kopenhagens „Palle-Welt“ aussieht. „Mein Hauptproblem | |
ist, dass ich ständig am Smartphone hänge“, berichtet die pensionierte | |
Krankenschwester: „Da kriegst du dauernd die ganze Ladung von | |
Paniknachrichten.“ Für Panik hält sie auch [3][den dänischen | |
Grenzschließungsbeschluss]: „Alle Experten haben der Regierung davon | |
abgeraten und kritisieren diesen Schritt nun auch ganz offen.“ | |
Gegen die Smartphone-Sucht helfe, etwas Sinnvolles zu tun. Sie habe auf | |
einen Aufruf der Gesundheitsbehörde reagiert, die pensioniertes Medizin- | |
und Pflegepersonal, aber auch Medizinstudenten aufgefordert habe, sich zu | |
registrieren, wenn sie bei Bedarf einzelne Tätigkeiten in den | |
Krankenhäusern übernehmen könnten. Das sei derzeit aber offenbar noch nicht | |
nötig. | |
Und auf einen Zettel im Treppenhaus, dass sie gern für Mitbewohner | |
einkaufen oder andere Hilfe leisten würde, hätte eine Nachbarin reagiert | |
und einen Einkaufszettel in den Briefkasten gesteckt. Da wolle sie nun | |
gleich los. Einkaufen solle man am besten am frühen Vormittag, da seien die | |
Regale frisch gefüllt. Abends gebe es nach wie vor manche Lücken: „Das | |
Hamstern hat noch nicht ganz aufgehört. Aber es ist schon besser geworden. | |
Die Leute rasen nicht mehr wild durch die Gänge. Es geht wieder höflich zu | |
und man hält Abstand.“ | |
Ja, und am Abend will Lene dabei sein bei „Dänemark klatscht und lärmt“. … | |
gibt einen Aufruf, den Beispielen in Italien und Spanien zu folgen und | |
jeden Abend um 19 Uhr von Fenstern und Balkons aus zu singen, zu klatschen, | |
Töpfe zu schlagen und nach drei Minuten zu rufen: „Vi ses i morgen!“: Wir | |
sehen uns morgen wieder. Reinhard Wolff, Kopenhagen | |
*** | |
Madrid: Jeden Tag um 20 Uhr bricht in Madrid (und im restlichen Spanien) | |
tosender Applaus die Stille der Ausgangssperre. Die Menschen stehen | |
klatschend an Fenstern und auf Balkonen. Am Sonntagabend sangen sie | |
erstmals gemeinsam einen Hit aus den frühen 1990er Jahren. „Ich werde | |
standhalten, wenn ich alle Spiele verliere, wenn ich in Einsamkeit schlafe, | |
wenn die Ausgänge für mich geschlossen sind (...) wenn ich Angst vor der | |
Stille habe...“, lautet der Text. | |
Der Beifall, der Song, die Bravorufe gelten dem Personal des | |
öffentlichen Gesundheitssystems. Es soll ihnen angesichts der | |
Coronavirus-Krise, die sie an die Grenzen bringt, Mut machen – und denen | |
auf den Balkonen selbst. | |
[4][Seit Samstagabend herrscht in ganz Spanien Ausgangssperre]. Nur wenn es | |
gar nicht anders geht, darf die Wohnung verlassen werden. Der | |
Einfallsreichtum, um dies erträglicher zu machen, verblüfft. In den großen | |
Wohnblocks spielen die Menschen mit lauter Stimme stundenlang über die | |
Innenhöfe hinweg „Ich sehe was, was du nicht siehst“ oder das beliebte | |
Lotteriespiel Bingo. | |
Allerdings gibt es auch diejenigen, die partout nicht zu Hause bleiben | |
wollen. 199 Personen wurden allein in den ersten 36 Stunden der | |
Ausgangssperre mit Bußgeldern belegt. Normalerweise sind es 600 Euro. Doch | |
für besonders schwere Verstöße können die Strafen in die Hunderttausende | |
gehen. Selbst Haft ist nicht ausgeschlossen. | |
Die Region Madrid ist so etwas wie Ground Cero des Covid-19 in Spanien. Bei | |
Redaktionsschluss waren in Spanien 9.191 Infizierte registriert, knapp die | |
Hälfte davon in der Hauptstadtregion. In Madrid waren 213 der insgesamt 309 | |
Tote zu beklagen. | |
Schon Tage vor dem Alarmzustand hatten die Madrilenen ihre Gewohnheiten | |
geändert. Plötzlich hielten die Menschen einen Mindestabstand, der vor der | |
Covid-19-Epidimie selbst in Mittel- und Nordeuropa übertrieben gewesen | |
wäre. Keine Küsschen zur Begrüßung, kein Schulterklopfen, kein Handschlag. | |
Anrempeln auf den schmalen Gehsteigen in der Altstadt, Drängeln auf den | |
Rolltreppen der U-Bahn … all das gab es plötzlich nicht mehr. Waren bis | |
dahin noch verwunderte Kommentare über die Deutschen und ihre Hamsterkäufe | |
die Regel, stürmten die Madrilenen jetzt selbst die Supermärkte, als gäbe | |
es kein Morgen. Und als Erstes war – richtig – das Klopapier ausverkauft. | |
Reiner Wandler, Madrid | |
16 Mar 2020 | |
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