# taz.de -- Thüringer CDU-Chef über neue Allianzen: „Die Bonner Republik is… | |
> Die Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten war falsch, sagt Mario Voigt. | |
> Dennoch sei der Stabilitätsmechanismus keine Tolerierung von | |
> Rot-Rot-Grün. | |
Bild: Mit ihm muss Mario Voigt jetzt zusammenarbeiten: Ministerpräsident Ramel… | |
taz: Herr Voigt, machen Sie rückblickend drei Kreuze, dass Thüringen seit | |
dem 4. März einen neuen Ministerpräsidenten hat? Fast wären Sie ohne | |
funktionstüchtige Regierung in die Corona-Krise gerutscht. | |
Mario Voigt: Ich glaube, jeder Thüringer Bürger ist froh darüber. | |
Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement der Ramelow-Regierung? | |
Wir sind alle Getriebene dieser Pandemie. Die Bundesregierung und die | |
Kanzlerin agieren besonnen. Und die Landesregierung fährt einen für sie | |
bestmöglichen Kurs, um das schnellstens in Thüringen umzusetzen. | |
Können Sie die Landesregierung überhaupt richtig kritisieren? Sie sind ja | |
„konstruktive Opposition.“ | |
In Zeiten einer solchen Pandemie geht es weniger um Parteipolitik, sondern | |
darum, das Leben der Bürger zu schützen und Wirtschaft und Beschäftigung zu | |
sichern. Wir haben kritisiert, dass es im Bereich der Wirtschaftshilfen | |
nicht schnell genug geht, und einen Vorschlag für ein Maßnahmenpaket | |
gemacht, auf den die Regierung zum Teil eingegangen ist. Das zeigt, dass | |
die Rolle als konstruktive Opposition funktionieren kann. | |
Sie haben einen sogenannten Stabilitätsmechanismus mit Rot-Rot-Grün | |
beschlossen, der dazu führt, dass Sie für alle Anträge Kompromisse suchen | |
müssen. De facto eine Tolerierung. | |
Nein, es ist keine Tolerierung. Es gibt noch immer eine Trennung: zwischen | |
uns als Opposition und der Regierung. Eine Tolerierung lebt von sehr | |
konkreten Absprachen. Wir haben den Stabilitätsmechanismus, der ein | |
parlamentarisches Vorgehen und einige wichtige Punkte definiert, aber diese | |
nicht im Detail geregelt hat. | |
Das sind rhetorische Windungen, damit er zum Beschluss der Bundes-CDU | |
passt, der eine Zusammenarbeit mit Linkspartei und AfD untersagt. | |
Tolerierung meint die regelmäßige Unterstützung einer Minderheitsregierung | |
durch eine Fraktion, die nicht selbst an dieser beteiligt ist. Genau das | |
machen Sie. | |
Genau diese regelmäßige Unterstützung gewähren wir ausdrücklich nicht. Wenn | |
Sie an das Magdeburger Modell denken... | |
Also die von der SPD geführte und der PDS tolerierte Minderheitsregierung | |
in Sachsen-Anhalt in den 1990ern. | |
Genau, da wurde alles im Detail abgesprochen. Das haben wir nicht gemacht. | |
Wir haben uns auf einen Mindestbestand von Themen geeinigt: darunter der | |
Haushalt, die Reform des kommunalen Finanzausgleichs, der Thüringer | |
Schulfrieden. Aber die Koalition besteht aus Rot-Rot-Grün, und jeder behält | |
seine eigenen Rolle. Alle tragen ihre Themen vor, und dann versuchen wir, | |
einen Kompromiss zu finden. Ist das nicht möglich, bleibt es eben so. | |
Wichtigstes Projekt soll die Verabschiedung des Haushalts sein. Danach | |
endet der Mechanismus, und 2021 soll gewählt werden. Ist der Zeitplan | |
angesichts von Corona zu halten? | |
Derzeit ist alles im Fluss. Niemand weiß genau, was morgen sein wird. Aber | |
klar ist: Wir stehen vor einer riesigen wirtschaftlichen Herausforderung. | |
Deshalb werden wir alles dafür tun, dass wir zu einem vernünftigen Haushalt | |
kommen. | |
Wie macht man überhaupt Politik in Zeiten von Corona? | |
Wir haben natürlich alle Schutzmaßnahmen ergriffen. Die gesamte | |
Fraktionsgeschäftstelle ist digitalisiert worden, wir arbeiten jetzt alle | |
im Homeoffice. Ich komme gerade aus einem Videocall mit einem Referenten, | |
Bürgersprechstunden machen wir digital und am Telefon. | |
Sie haben zwei Söhne, die betreut werden müssen. Wie machen Sie das? | |
Ja, die beiden sind sechs und acht, da hat man noch gut zu tun. Meine Frau | |
ist Ärztin, aber ich kann meine Arbeit in weiten Teilen zu Hause machen. | |
Meine Söhne haben heute Morgen beide Schulaufgaben bekommen, die arbeiten | |
sie nebenan gerade fleißig ab. Das hoffe ich zumindest. | |
Herr Voigt, die Thüringer CDU ist in den vergangenen Monaten durch eine | |
bewegte Zeit gegangen. Was haben Sie in dieser Zeit gelernt? | |
Ich glaube, dass man mit gesundem Menschenverstand eine klare | |
Lageeinschätzung machen muss. Es war ein Fehler, dass wir nach der | |
Landtagswahl – bei der wir erstmals nicht stärkste Kraft, sondern Dritter | |
geworden sind – nicht gleich klar gesagt haben, dass wir Opposition sind. | |
Und mit dem Blinken mal links, mal rechts haben wir für Verunsicherung | |
gesorgt, die uns Vertrauen gekostet hat. | |
Für all das ist vor allem ihr Vorgänger Mike Mohring verantwortlich. Aber | |
nehmen wir mal die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten: Auch | |
Sie haben im dritten Wahlgang wohl für ihn gestimmt, gemeinsam mit der AfD. | |
Obwohl Sie wussten, was passieren kann. Ein Fehler? | |
Rückblickend war das ein Fehler, auch wenn es natürlich eigentlich nicht | |
verwerflich ist, wenn ein [1][CDU-Mann für einen FDP-Politiker stimmt]. | |
Aber dass eine Partei, wie die AfD das getan hat, einen Kandidaten | |
aufstellt und diesem gar keine Stimme gibt, hat es in unserer | |
Parlamentsgeschichte noch nicht gegeben. Das ist von einem Stichwortgeber | |
Höckes selbst als destruktiv gefeiert worden. Deutlicher kann man die | |
Verachtung der parlamentarischen Demokratie kaum ausdrücken. | |
Wenig später dann hat Ihre Fraktion durch Enthaltungen dafür gesorgt, dass | |
der Linke Bodo Ramelow verfassungssicher zum Ministerpräsident gewählt | |
worden ist. Haben Sie da gedacht: Warum haben wir das nicht schon früher | |
gemacht? | |
Zuerst habe ich mich gefreut, dass wir uns geschlossen enthalten haben und | |
nicht ja zu einem linken Ministerpräsident gesagt haben. Außerdem haben wir | |
der AfD so die Möglichkeit genommen, rechtlich gegen die Wahl vorzugehen. | |
Das beantwortet aber die Frage nicht. | |
Aber es macht auch keinen Sinn, immer in den Rückspiegel zu blicken. Wie | |
alle Fraktionen mussten auch wir die Situation nach dem 5. Februar neu | |
bewerten und haben aus meiner Sicht eine vernünftige Entscheidung | |
getroffen. | |
Sie haben damit den [2][Unvereinbarkeitsbeschluss] der Bundespartei | |
aufgeweicht – wer hat Ihnen das übler genommen: die Bundesspitze, ihr | |
Fraktionskollege Michael Heym, der ja lieber mit der AfD reden wollte, oder | |
ihre Basis im Saale-Holzland-Kreis? | |
Ich glaube, keiner davon. Alle haben eingesehen, dass das eine Situation | |
war, die es bislang in Deutschland noch nicht gegeben hat, und auch das | |
Chaos und den Stillstand, die damit einhergingen. Die CDU hat versucht, | |
einen Weg dort heraus zu finden. Die Reaktionen darauf sind überwiegend | |
positiv. | |
Sollte sich die Bundesebene künftig aus solchen Entscheidungen raushalten? | |
Sagen wir mal, nicht jede Einlassung war hilfreich. Wir in Thüringen | |
entscheiden schon selbst über unseren Gang der Dinge. Die Länder bilden den | |
Bund. Daran darf gelegentlich erinnert werden. | |
Sollte der Unvereinbarkeitsbeschluss grundsätzlich überdacht werden? | |
Nein, er positioniert uns da, wo wir hingehören: in der Mitte. Am Ende hat | |
er auch für die Thüringer Situation getaugt. | |
Damit besteht die Gefahr, dass Sie bei den Neuwahlen erneut vor einem Drama | |
stehen – und die CDU in anderen ostdeutschen Ländern wie Sachsen-Anhalt | |
auch. | |
Die Wahlen sind noch eine ganze Weile hin, aber ja, vielleicht haben wir | |
erneut ein solches Ergebnis. Aber nur weil die Lage kompliziert ist, können | |
wir doch keine inneren Überzeugungen über Bord werfen. | |
Herr Voigt, die Thüringer CDU ist seit Langem zerstritten, Sie sind seit | |
vielen Jahren einer der Gegenspieler des ehemaligen Partei- und | |
Fraktionschefs Mike Mohring. Jetzt sollen Sie die Fraktion einen. Wie soll | |
das gehen? | |
Für mich ist Politik ein Mannschaftsspiel, und jeder soll Teil dieser | |
Mannschaft sein. Mein Ziel ist, einzubinden, Dinge gemeinsam zu beraten und | |
dann mit diesem Kurs nach vorne zu gehen. Dass die CDU am 4. März | |
geschlossen abgestimmt hat, ist ein Zeichen, dass das funktionieren kann. | |
Wie wollen Sie die einbinden, die jede Kooperation mit der Linken für | |
Teufelszeug halten und mehr Gemeinsamkeiten mit der AfD sehen? | |
Das geht nur, indem man klar Position bezieht. Und meine Position ist: Die | |
Höcke-AfD ist der politische Hauptgegner der CDU, die anderen sind | |
Konkurrenten – mit denen wir im harten politischen Wettbewerb um den | |
richtigen Weg für Thüringen und Deutschland stehen. Im Übrigen glaube ich, | |
dass diese Extremisten jetzt in der Krise massiv entzaubert werden, weil | |
sie zur Lösung nichts beizutragen haben. | |
Die Thüringer CDU braucht auch einen neuen Landeschef, Sie unterstützen | |
Christian Hirte. Der musste als Ostbauftragter der Bundesregierung auch | |
deshalb abtreten, weil er die Kemmerich-Wahl mit Stimmen der AfD euphorisch | |
begrüßt hat. Warum soll er Landeschef werden? | |
Christian Hirte wird in der gesamten Landespartei geschätzt, ist integer, | |
klug und verbindet gleichzeitig menschlich, er ist ein Mannschaftsspieler. | |
Er ist genau der Richtige, um diese Partei zusammenzuführen und einen | |
Neustart zu wagen. | |
Hirte gilt als einer, der auch mal nach rechts blinkt. Wie passt das zu | |
Ihrer klaren Abgrenzung zur AfD? | |
Wir haben da einen relativ ähnlichen Politikansatz, der lautet: Die CDU ist | |
eine Partei der Mitte. Da mache ich mir keine Sorgen. | |
Soll die Aufgabenteilung sein: Sie stehen für die klare Kante gegen die | |
AfD, Hirte ist für die andere Seite zuständig? | |
Ich will nicht missverstanden werden. Ich habe auch einen klaren Kurs | |
gegenüber der Linken. Die CDU steht in der Mitte. Und so tickt auch | |
Christian Hirte. Aber natürlich hat jeder seinen individuellen Stil, diese | |
Vielfalt macht die CDU ja auch stark. | |
Was lässt sich aus Thüringen auf andere Länder übertragen? | |
Die Erkenntnis, dass die Bonner Republik beendet ist. Deutschland ist in | |
seinen politischen Konstellationen vielfältiger geworden, und der Osten ist | |
ein Brennglas für all die verschiedenen politischen Konstellationen, die | |
entstehen können. Und da sollte man nicht von oben herab agieren, sondern | |
immer darauf achten, dass im Föderalismus die Bundesländer versuchen, die | |
beste Lösung zu finden. | |
23 Mar 2020 | |
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