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# taz.de -- David Vanns neuer Roman „Momentum“: Hilflose Ausbruchsversuche
> US-Schriftsteller David Vann denkt sich in seinem neuen Werk in seinen
> lebensunwilligen Vater hinein. Das ist so schonungslos wie fulminant.
Bild: Hier lebt der Vater in den Trümmern seines Lebens: im Hinterland von Ala…
Was muss das für ein Gefühl sein, komplett die Kontrolle über das eigene
Leben zu verlieren, ihm ganz und gar hilflos gegenüberzustehen? Diese Frage
beantwortet uns der US-amerikanische Autor David Vann mit seinem Roman
„Momentum“, in dem er sich in die letzten Tage seines depressiven Vaters
Jim hineinzuschreiben versucht.
Es ist das Frühjahr 1980, als der 39-jährige Jim Vann von Alaska nach
Kalifornien fliegt, um in Begleitung seines Bruders Gary einen Therapeuten
aufzusuchen. Denn Jim, der seine 44er Magnum stets an seiner Seite hat,
darf nicht allein gelassen werden.
Nach zwei gescheiterten Ehen, dem geplatzten Traum von einem freien Leben
als kommerzieller Fischer und mit einer Steuerstrafe von mehreren
Hunderttausend Dollar im Nacken hat er Kinder und Familie in seiner Heimat
Kalifornien zurückgelassen und sich im absoluten Nichts des Hinterlandes
von Alaska ein riesiges Haus gebaut, in dessen völliger Verlassenheit ihn
von der illusorischen Sehnsucht nach seiner Ex-Frau Rhoda nur noch
Suizidgedanken kurieren zu können scheinen.
## Ein Leben der Verleugnung
In den Überresten seines alten Lebens soll Jim nun gesunden. Aber ist es
nicht genau dieses Leben, das ihn erst zu dem lebensunwilligen Wesen
gemacht hat, das er ist? Ein Leben der Verleugnung seiner selbst, die er –
zusammen mit dem verhassten Zahnarztberuf – von seinem Vater gelernt hat,
so wie dieser zuvor von seinem.
Verleugnung aber auch der eigenen [1][Cherokee-Abstammung], stets bloß
darauf bedacht, nicht aufzufallen und den (vermeintlich) von außen
herangetragenen Erwartungen zu entsprechen: Heirat, Kinder, Familie
versorgen. Bei Jim folgt aber eine Reihe hilfloser Ausbruchsversuche:
Fremdgehen, Scheidung, wieder Heirat, wieder Fremdgehen, Scheidung, und in
allem unfähig, mit sich selbst und seinem Willen eins zu sein. Kein Wunder,
dass Jim sich am Ende machtlos einer Krankheit ausgeliefert sieht, die
alles in einen Abgrund zu ziehen vermag.
David Vann hat die eigene Familiengeschichte immer wieder aufs Neue
durchleuchtet, meist aus der eigenen Kinderperspektive. Nun versucht er
erstmals, seinem Vater die eigene Stimme zurückzugeben, die zu dessen
Lebzeiten niemand recht hören wollte oder konnte. Er erzählt dessen
Geschichte – zugleich die seiner eigenen letzten Begegnung mit dem Vater,
der Sohn damals 13 Jahre alt – schonungslos, doch dabei voll von dem
Verständnis, das Jim damals schmerzlich verwehrt blieb.
Vann tut das in einer soghaften Sprache, die die Abgründe, aber auch die
euphorischen Momente des Manisch-Depressiven erfahrbar werden lässt. Dazu
den erbarmungslos wahrhaftigen Witz und Aberwitz desjenigen, der angesichts
des eigenen Lebensunwillens endlich eine Art von Freiheit gefunden zu haben
glaubt.
Dabei bleibt Jims Tragödie kein rein individuelles Schicksal. Vann verortet
die Depression sehr präzise an dem historischen Punkt, als mit dem Übergang
in die zweite, neoliberale Moderne diese schließlich auch die letzten
Winkel eines ehemals so sprichwörtlich „freien“ Landes zu durchdringen
beginnt.
## Traum von der Wildnis
Daher der [2][Traum von der Wildnis] als letztem Refugium vor den
Zumutungen einer entfremdenden Zivilisation – aber auch das Selbstbild des
Jägers als in einem souveränen Verhältnis zur Welt stehend, mit der Waffe
als einzigem Instrument der Selbstermächtigung – und sei es gegen die
eigene Person gerichtet. Aber wird Jim am Ende wirklich den Abzug drücken
können, ist sein Leiden denn tatsächlich groß genug?
David Vann hat erneut ein fulminantes Buch geschrieben, voll von feiner
Weisheit, Menschlichkeit und literarischer Meisterschaft.
10 Mar 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Tom Wohlfarth
## TAGS
Literatur
Depression
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US-Literatur
SUV
Gentest
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