Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gewalt in Indien: Gegen alle Staatsräson
> Modi treibt den Hass auf die muslimische Minderheit an. Die Demokratie
> Indiens und das Selbstverständnis als säkularer Staat geraten in Gefahr.
Bild: Solidarität nach dem Freitagsgebet in Pakistan. Muslim*innen protestiere…
Es waren [1][erschreckende Bilder]. Zwei Wochen ist es her, dass
Hindunationalist*innen mit Stöcken und Eisenstangen im Nordosten der
indischen Hauptstadt Neu-Delhi durch die Straßen rannten und muslimische
Mitbürger*innen jagten. Männer wurden gezwungen, ihre Genitalien zu
entblößen, um zu zeigen, ob sie beschnitten sind. Autos, Häuser und
Geschäfte wurden in Brand gesteckt, ebenso eine Moschee.
Videos kursieren, in denen verletzte Männer auf dem Boden liegen und von
Polizist*innen gezwungen werden, die Nationalhymne zu singen. Mindestens 45
Menschen starben, über 200 Menschen wurden verletzt. Die Opfer waren vor
allem Muslim*innen. Was mit landesweiten Protesten gegen das im Dezember
verabschiedete Staatsbürgerschaftsgesetz begann, mündete in blutiger
Gewalt. Premierminister [2][Narendra Modi] und seine hindunationalistische
Partei BJP bereiteten den Nährboden für die Eskalation.
Das fragwürdige Gesetz Citizenship Amendment Act (CAA) erleichtert die
Einbürgerung von Menschen aus den Nachbarstaaten Pakistan, Bangladesch und
Afghanistan, vorausgesetzt, sie sind keine Muslime. Modis neues
Staatsbürgerschaftsgesetz ist nichts anderes als staatlich verordnete
Diskriminierung. Zum ersten Mal seit Indiens Unabhängigkeit im Jahr 1947
wird die Staatsbürgerschaft an die Religion gebunden.
Das widerspricht der indischen Verfassung und der Gründungslogik des
Landes, das sich bewusst – auch im Gegensatz zu Pakistan – trotz einer
Hindumehrheit für eine säkulare Republik entschieden hat. Unity in
diversity, also Einheit in Vielfalt, ist ein Satz, der immer wieder für die
indische Identität bemüht wurde. Es ist dieser Gedanke, der das Land mit
1,3 Milliarden Menschen in all seinen Widersprüchen zusammenhält.
## Staatlich verordnete Diskriminierung per Gesetz
Diesem Selbstverständnis mag es auch zu verdanken sein, dass die
Rekrutierungsversuche des „Islamischen Staates“ in Indien weitestgehend
gescheitert sind, was insofern erstaunlich ist, als Indien nach Indonesien
und Pakistan die drittgrößte muslimische Gemeinschaft der Welt beheimatet.
Dass so viele Menschen in Indien und auch in der indischen Diaspora so
heftig gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz protestieren – obwohl es die
Rechte indischer Staatsbürger*innen gar nicht betrifft –, ist ein
Hoffnungsschimmer inmitten des hindunationalistischen Kurses von Modi. Die
Wut der Protestierenden richtet sich aber auch gegen andere politische
Schritte der Modi-Regierung:
Bei einem geplanten landesweiten Bürgerregister (NRC) müssten alle
Bewohner*innen des Landes durch Dokumente ihre Staatsbürgerschaft
nachweisen. Können sie das nicht, würden sie Gefahr laufen, staatenlos zu
werden. Auch die Politik in der hart umkämpften Region Kaschmir
verdeutlicht den hindunationalistischen und antidemokratischen Kurs der
Regierung Modis. Im August 2019 entzog die Regierung dem Bundesstaat
[3][Jammu und Kaschmir] seinen teilautonomen Status.
Dieser Status hatte dem mehrheitlich von Muslimen bewohnten Bundesstaat
eine eigene Verfassung und weitgehende politische Rechte zugesichert. Um
Proteste dagegen zu unterbinden, wurden Tausende Menschen festgenommen,
Moscheen geschlossen, das Internet und Telefondienste über Monate
blockiert. Bereits vor dem Amtsantritt im Jahr 2014 warnten Kritiker*innen
aufgrund von Modis Geschichte, dass die Gewalt gegen Minderheiten im Land
unter seiner Regierung zunehmen werde.
In den 70er Jahren war Modi Mitglied in der RSS, einer paramilitärischen
Freiwilligenorganisation von Hindunationalisten, die einen reinen
Hindustaat anstreben. Modis Partei, die BJP, gilt bis heute als politischer
Arm der RSS. Als 2002 im Bundesstaat Gujarat bei einen Brandanschlag auf
einen Zug, in dem viele Hindupilger*innen saßen, 59 Menschen starben,
jagten in den darauf folgenden Tagen hindunationalistische Mobs
Muslim*innen, angestachelt von RSS-Funktionären.
Mindestens 1.000 Menschen, überwiegend Muslime, wurden dabei getötet. In
der Verantwortung stand auch Modi, der zu dieser Zeit Regierungschef von
Gujarat war. Trotzdem ist es mitnichten so, dass es vor Modis Zeit als
Premierminister keine religiös motivierten Konflikte gegeben hätte.
Spannungen zwischen den vielen Religionen in Indien sind so alt wie der
Staat selbst.
Letztendlich wurde Pakistan überhaupt erst als islamischer Staat gegründet,
weil Muslim*innen am Ende der Kolonialzeit fürchteten, in einem Staat mit
einer Hindumehrheit keine politische Repräsentanz zu finden. 1947 wurden
die zwei souveränen Staaten Indien und Pakistan gegründet. Im Zuge dieser
Teilung verließen mehrere Millionen Muslime das heutige Indien und mehrere
Millionen Hindus und Sikhs das Staatsgebiet von Pakistan.
Bei diesen gigantischen Fluchtbewegungen in beide Richtungen starben über
eine Millionen Menschen. Die Teilung in Indien und Pakistan ist ein
gesellschaftliches Trauma, das bis heute nachwirkt. Sie ist die dunkle und
blutige Seite der Unabhängigkeit. Auch nach der Staatsgründung kam es immer
wieder zu brutalen, religiös motivierten Ausschreitungen.
## Modis Partei BJP ist so stark wie nie zuvor
Nach dem Mord an der damaligen Regierungschefin Indira Ghandi, die 1984 von
zwei ihrer Sikh-Leibwächter erschossen wurde, begann eine regelrechte Jagd
auf die Sikh-Minderheit. 3.000 Sikhs fielen dem fanatisierten Mob zum
Opfer. Modis aktuelle Politik berührt eine tiefe Wunde. Sie schürt
religiöse Konflikte, destabilisiert damit nicht nur den inneren Frieden in
Indien, sondern in ganz Südasien. Trotzdem wurde er im vergangenen Mai
erneut gewählt, und die BJP ist so stark wie nie.
Aber auch die Proteste gegen die Regierung bleiben heftig. Dass die
Ausschreitungen stattgefunden haben, als US-Präsident Donald Trump zu
Besuch war, symbolisiert die globale Dimension dieses Hasses. Die
Wegbereiter*innen können Modi, Orban oder Trump heißen.
8 Mar 2020
## LINKS
[1] /Gewalt-gegen-Muslime-in-Neu-Delhi/!5666887
[2] /Indiens-umstrittenes-Migrationsgesetz/!5650899
[3] /Spannungen-im-Kaschmir-nehmen-zu/!5615363
## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
## TAGS
Indien
Narendra Modi
Hindunationalisten
Indien
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Indien
Schwerpunkt Coronavirus
Arvind Kejriwal
Narendra Modi
Indien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Studentische Aktivistin in Indien freigelassen: Gegen Diskriminierung per Gesetz
Für ihr Engagement gegen ein diskriminierendes Staatsbürgerschaftsgesetz
wurde Safoora Zargar inhaftiert – vermutlich unschuldig.
Coronaepidemie in Indien: Fit bleiben mit Yoga
Premierminister Modi empfiehlt seinem Volk, sich mit Yoga gesund zu halten.
Das aber hat wegen der Beschränkungen des Ausgangs ganz andere Sorgen.
Indiens Tagelöhner in der Coronakrise: Flucht zurück aufs Land
Ohne Arbeit können sie sich das Stadtleben nicht leisten. Viele sehen ihre
einzige Überlebenschance im Heimatdorf. Doch es fehlt an Transportmitteln.
Indien versucht das Unmögliche: Die größte Ausgangssperre der Welt
Premierminister Modi verhängt zur Eindämmung des Coronavirus eine
Ausgangssperre in ganz Indien. Betroffen sind über 1,3 Milliarden Menschen.
Indien schließt wegen Corona die Grenzen: Indien macht dicht
Kein Bollywood mehr, Grenzen, Unis und Schulen dicht und eingeschränkte
Mobilität in Mumbai: Das 1,4-Millarden-Land Indien reagiert auf Corona.
Gewalt gegen Muslime in Neu-Delhi: Viele Tote bei Übergriffen
In Indiens Hauptstadt eskaliert die Gewalt bei Protesten.
Hindunationalistische Demonstranten attackieren Muslime, die Polizei greift
erst spät ein.
US-Präsident in Indien gefeiert: Trumps Modi-Show
Der US-Präsident bekommt in Indien den von ihm so sehr gewünschten
triumphalen Empfang, den er zu Hause nie bekommen hätte.
Indiens neues Einbürgerungsgesetz: Die mutigen Musliminnen vom Sit-in
Indiens Frauen blockieren die Straßen – zuerst in Delhi, jetzt auch in
Mumbai. Damit protestieren sie gegen ein diskriminierendes
Einbürgerungsgesetz.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.