# taz.de -- Flüchtlingslager Moria auf Lesbos: Die verlorenen Kinder | |
> Sie gehen nicht zur Schule, leben in Zelten und 250 teilen sich eine | |
> Toilette. 8.000 Flüchtlingskinder leben auf der griechischen Insel | |
> Lesbos. | |
Moria no good – Moria ist nicht gut!“ – wie einen Kinderreim ruft sich ei… | |
Gruppe von Jungen im Alter von 7 bis 12 Jahren den Satz immer wieder | |
gegenseitig zu. Sie halten Glasmurmeln in den schmutzigen Händen, ihr | |
Lachen wirkt trotzig. Die Jungen gehören zu den etwa 8.000 Kindern, die im | |
[1][Flüchtlingslager Moria] auf der griechischen Insel ausharren müssen. | |
Rund um Moria ist eine wilde Kleinstadt aus Zelten, Holzhütten und Planen | |
entstanden. Denn das offizielle Lager hat nur eine Kapazität für etwa 3.000 | |
Menschen. Doch mittlerweile leben hier über 21.000 Schutzsuchende. | |
Die Glasmurmeln klicken im Staub, der eine Junge hat verloren und macht ein | |
langes Gesicht. Der andere stupst ihm in die Seite. Lachend rennt die | |
Gruppe den Hügel hinauf, den abgeholzten Baumstümpfen entgegen. Der | |
Kleinste von ihnen kann nicht mithalten, denn er trägt nur Plastikschlappen | |
an seinen bloßen Füßen. „Moria no good“, schallt es erneut. Die Olivenha… | |
rund um das Camp Moria dienen den Menschen als Feuerholz. Die Temperaturen | |
in den letzten Tagen lagen bei um die fünf Grad. | |
## Die Sozialarbeiterin sucht ihre Kinder | |
Sozialarbeiterin Chrissa Papadaki fährt oft die etwa 20-minütige Strecke | |
von der Hafenstadt Mytilini nach Moria. Sie arbeitet für die Jüdische | |
Gesellschaft zur Einwanderungshilfe ([2][HIAS]), einer gemeinnützigen | |
jüdisch-amerikanischen Organisation, die humanitäre Hilfe und Unterstützung | |
für Geflüchtete anbietet. Noch bis vor ein paar Jahren war Papadaki als | |
Kindergärtnerin in Athen tätig. „Doch hier wird man jetzt dringender | |
gebraucht“, sagt die 29-Jährige. Ihre Aufgabe ist es, Kinder in Kontakt mit | |
Aufnahmezentren, ÄrztInnen und AnwältInnen zu bringen. Auch für | |
Familienzusammenführung ist sie zuständig. „In Moria gibt es kaum | |
Informationen für die Geflüchteten“, berichtet die Frau. Deshalb sei sie | |
hier. | |
Mit festen Schritten geht Chrissa Papadaki den sandigen Weg hinauf, der an | |
der Außenseite des vom griechischen Staat betriebenen, hoch umzäunten | |
Flüchtlingslagers vorbeiführt. Sie macht ihre obligatorische Runde, um | |
bereits vermerkte Kinder und Jugendliche an ihre Termine zu erinnern und um | |
neue unbegleitete Minderjährige aufzuspüren. | |
„Hier ist die Einkaufsstraße“, sagt sie lachend und zeigt auf die kleinen | |
Geschäfte, die mit der Zeit entstanden sind. Turnschuhe für zwei Euro, Obst | |
und Gemüse, Eier und Tabak. Die einzelnen Stände sind aus Kisten und | |
Paletten gebaut. Müllberge türmen sich daneben auf. „Ja, die Müllabfuhr | |
kommt hier fast nie vorbei“, sagt Papadaki und bahnt sich den Weg durch | |
eine Traube spielender Kinder, streicht einem Jungen über den Kopf. „Ich | |
suche hier immer wieder nach unbegleiteten Minderjährigen“, erklärt die | |
Sozialarbeiterin. Von den mehr als 21.000 Menschen hier sind über 40 | |
Prozent Kinder, davon sind etwa 1.000 ohne ihre Angehörigen angekommen. | |
Papadaki zeigt auf ein abgeriegeltes Gebiet hinter den hohen Zäunen des | |
offiziellen Camps. „Es gibt für Kinder und Jugendliche 210 Plätzen | |
innerhalb des offiziellen Camp und 147 Plätzen außerhalb des Lagers“, sagt | |
sie, zuckt mit den Achseln und stößt einen Seufzer aus. Das sei nichts, | |
wenn man bedenkt, dass hier etwa 8.000 Kinder lebten. Und selbst in den | |
abgezäunten Distrikten für Minderjährige seien die Kinder und Jugendlichen | |
nicht sicher, sagt Papadaki. „Ich hatte erst letztens mit einem 16-Jährigen | |
Kontakt, der in eine Messerstecherei geraten war – mit neun Stichen hat er | |
knapp überlebt“, berichtet die Sozialarbeiterin. | |
Papadaki hat ihre Runde beendet und geht die staubige Einkaufsstraße mit | |
den kleinen Geschäften zurück, die zur asphaltierten Hauptstraße und zum | |
bewachten Eingang von Moria führt. Heute hatte sie kein Glück. Sie konnte | |
den Jungen, den sie an seinen Termin mit einem Anwalt erinnern wollte, | |
nicht finden. „Manchmal sind die Kinder auch mit einem mal nicht mehr da“, | |
seufzt sie. | |
Im letzten September seien selbst aus dem Sicherheitstrakt im offiziellen | |
Camp mehrere Kinder verschwunden. Wie viele genau, weiß niemand. Mithilfe | |
der sozialen Medien ließ sich der Weg von manchen von ihnen nachverfolgen. | |
Dadurch habe man erfahren, dass sie von Schleppern in ihre Wunschländer | |
gebracht worden seien. „Die Behörden auf Lesbos haben sie dann schnellstens | |
als vermittelt und nicht als verschwunden gemeldet“, sagt Papadaki und | |
lacht bitter. Ein Kind hat man tot in einem Lastwagen gefunden. Es gehörte | |
vermutlich zu einer Gruppe, die auf eigene Faust versucht hatte, ihre | |
Familien zu erreichen. | |
Die Familienzusammenführung ist in den letzten Jahren deutlich erschwert | |
worden. „Noch vor zwei Jahren konnte man leichter, etwa durch Fotos | |
beweisen, dass das Kind zu dieser oder jener Familie gehört. Jetzt fordern | |
die Behörden plötzlich Urkunden – doch die gibt es in bestimmten Ländern | |
gar nicht“, sagt Papadaki. | |
## Der Arzt und seine Versuche, den Kindern zu helfen | |
Mit dem System der Behörden muss sich auch Dimitris Patestos herumschlagen. | |
Der 47-Jährige Kardiologe koordiniert die medizinische und psychische Hilfe | |
der Ärzte der Welt auf Lesbos. Der Sitz der Organisation befindet sich im | |
Zentrum der Inselhauptstadt Mitylini. „Die Zustände in Moria und im wilden | |
Camp sind unmenschlich, dennoch renne ich jeden Tag gegen Mauern“, sagt der | |
Arzt. Etwa als er einen Säugling wegen einer Mundverletzung zu einem | |
Spezialisten nach Athen schicken wollte. „Das Baby hat geweint vor | |
Schmerzen und konnte kaum essen“, sagt Patestos nachdrücklich. Einen Monat | |
habe er gebraucht, um die Behörden von der Dringlichkeit einer Behandlung | |
zu überzeugen. | |
Doch nicht nur die schweren Fälle sind bedenklich. Auch eigentlich harmlose | |
Krankheiten wie die Krätze können schwerwiegende Folgen haben. „Das große | |
Problem sind die katastrophalen hygienischen Bedingungen“, sagt Patestos. | |
Man könne sich nicht immer waschen und frische Kleidung gäbe es auch nicht. | |
Die Ansteckungsgefahr ist groß. „Nachts juckt Krätze wie verrückt und läs… | |
die Kinder nicht schlafen. Und Schlaf ist so wichtig, besonders in diesem | |
Alter“, sagt der Arzt. Erkältungen seien fast nicht zu kurieren, denn kaum | |
etwas schütze vor der Kälte. „Obwohl die Kinder nach Europa gebracht | |
wurden, um ihnen Schlimmes zu ersparen, können sie sich nicht erholen“, | |
sagt Patestos. | |
Er mache sich große Sorgen, denn hier herrschten die idealen Bedingungen | |
für eine Epidemie. Die physische und vor allem die psychische Gesundheit | |
der Kinder gilt als stark gefährdet. Denn viele von ihnen sind schwer | |
traumatisiert. „An meinem Behandlungszimmer fuhr einmal ein Wagen der | |
Müllabfuhr scheppernd vorbei“, berichtet Patestos. Das Kind, dass in seinem | |
Behandlungszimmer saß, begann zu weinen. „Es dachte, das Scheppern käme von | |
einschlagenden Bomben“, sagt der Arzt leise. | |
Aminah, die ihren Nachnamen nicht verrät, weiß, wie schlimm es mit der | |
Hygiene in Moria bestellt ist. Sie schiebt die weiße Plane ihres | |
Zelteingangs zur Seite. Ihr Sohn Mohammad sitzt auf dem Boden. Er hat | |
mehrere Pusteln am Bein und kratzt sich immer wieder. Sachte schiebt die | |
Mutter die Hand des zarten Jungen zur Seite und streicht ihm liebevoll über | |
die Wange. Sie ist nach eigener Aussage mit ihrem Sohn aus Afghanistan vor | |
den Taliban geflüchtet. Vor gut zwei Monaten kamen sie auf Lesbos an. „Mein | |
Vater ist schon so lange weg“, sagt der Neunjährige. „Tot“, fügt die | |
31-jährige Mutter kaum hörbar hinzu. Im Olivenhain neben dem Camp Moria | |
habe sie eines der besseren Zelte erwischt, lächelt Aminah. Die weiße Plane | |
sei etwas dicker als bei anderen Zelten und es regne kaum hinein. | |
Da sie noch vor dem 1. Januar 2020 ankamen, gelten für die kleine Familie | |
die alten Asylregelungen. Denn alle Menschen, die in diesem Jahr ankommen, | |
müssen innerhalb von 25 Tagen klären, ob sie ein Recht auf Asyl haben. | |
Schaffen sie das nicht, droht ihnen die Abschiebung. Obwohl das schnelle | |
Verfahren von MenschenrechtsaktivistInnen kritisiert wird, hat es innerhalb | |
des Flüchtlingscamp eine ganz andere Wirkung. „Es ist so ungerecht, dass | |
die, die später ankamen, schneller vorsprechen dürfen“, sagt Aminah. Sie | |
habe ihren Termin erst in sechs Wochen. Das Leben im Camp sei so | |
kräftezehrend, für alles müsse man sich anstellen. Um auf die Toilette zu | |
gehen, um zu duschen und um Essen zu bekommen. Auf eine Dusche kommen etwa | |
250 Menschen. Dasselbe gilt für die Toiletten. „Wenn man sich zum Essen | |
anstellt, gibt es oft Streit“, sagt die Mutter. Sie mache sich immer Sorgen | |
um ihren Sohn, denn es sei schon häufiger zu Messerstechereien gekommen. | |
„Aber es bleibt mir ja nichts übrig, wir müssen doch etwas essen“, sagt | |
sie. | |
Oft sehe sie Gruppen von Kindern, die sich gemeinsam anstellen – die hätten | |
keinen Erwachsenen, der auf sie aufpassen. Diese Kinder müssen sich | |
durchschlagen und ziehen oft von Zelt zu Zelt, um einen Schlafplatz für die | |
nächste Nacht zu finden. „Ja, ich nehme in unserem Zelt auch immer mal ein | |
Kind zum Übernachten auf“, sagt sie leise. Mohammad lässt sich auf die | |
dünne Matratze plumpsen, zieht sich eine Decke über den Kopf und murmelt | |
etwas in den Stoff hinein. „Er will nach Hause“, übersetzt Aminah und | |
breitet hilflos die Arme aus. | |
Knapp neun Kilometer südlich von Moria liegt das Dorf Skalas Sikountos. | |
Dort betreibt das Paar Nikos Katsouris und Katerina Koveou ihre | |
Organisation Home for one day, die sich durch Spenden finanziert. „Hier | |
kochen Griechinnen und Griechen gemeinsam mit Geflüchteten und Migranten, | |
und jeder der möchte, bekommt etwas zu essen“, erklärt Katsouris und zeigt | |
auf die hohen Stahltöpfe, die auf dem großen Herd vor sich hin kochen. | |
Katerina Koveou ist die Küchenchefin und rührt immer wieder in den | |
verschiedenen Töpfen und häuft Nudeln, Gemüse und Fleischstücke auf die | |
Teller. | |
Eigentlich sei er Fischer, sagt Nikos Katsouris während er einige der | |
Teller zum langen Holztisch trägt. Bis zum Jahr 2015 hatten er und Koveou | |
eine ganz normale Taverne. „Doch dann kamen die ersten Flüchtlinge mit den | |
Schlauchbooten hier an“, berichtet Katsouris und hält kurz inne. Er habe | |
ihnen Essen gekocht, ihnen trockene Kleidung gegeben. „Die geflüchteten | |
Menschen kamen immer wieder zu uns, teilweise einfach um hier zu sitzen“, | |
lächelt der Mann leise. Sie nannten seine Taverne home – „Und so entstand | |
der Name“, lacht Katsouris und stellt den letzten Teller auf den Tisch. | |
Dort sitzt bereits die fünfköpfige Familie Mahboubi aus Afghanistan. Die | |
Kinder rücken mit den Stühlen, ein Lächeln huscht über das Gesicht des | |
sechsjährigen Kianoosh. Nikos Katsouris streicht ihm über den Kopf. „Wir | |
versuchen den Menschen hier ein bisschen zurückzugeben, was ihnen genommen | |
wurde: Wärme, Herzlichkeit, einfach mal wieder ausgehen“, sagt Katsouris. | |
Ahmad Jawad Mahboudi lächelt seinen Kindern zu. „Meine Kinder sind so | |
erschöpft von Moria. Dort ist es kalt und schmutzig. Es ist schön hier | |
wenigstens für ein paar Stunden etwas Normalität zu haben“, sagt der | |
35-Jährige. Der Diplomingenieur arbeitete in seiner Heimat viel mit | |
ausländischen Firmen. „Das gefiel den Taliban nicht“, seufzt der Mann läs… | |
kurz die Gabel auf den Tellerrand sinken. Er schiebt den Ärmel seines | |
Pullovers etwas nach oben und deutet auf eine Einkerbung im Arm. Das sei | |
eine von drei Schussverletzungen, erklärt er. „Ich hatte Glück im Unglück … | |
aber es war klar, dass wir gehen mussten“, sagt Mahboudi. Seit drei Monaten | |
lebe er in Moria. Er habe mit seiner Familie im offiziellen Camp einen | |
Platz ergattert – dort habe man wenigstens Strom. | |
„Natürlich gibt es in Moria Probleme wie Gewalt, Kälte und Krankheit aber | |
ich möchte in die Zukunft schauen, deshalb mache mir große Sorgen um die | |
Bildung meiner Kinder“, sagt der Mann. Die wenigen schulischen Zentren des | |
UNHCR und anderer Organisationen richten sich fast ausschließlich an | |
unbegleitete Minderjährige. Insgesamt werden von den etwa 8.000 Kindern in | |
Moria zur Zeit nur knapp 400 unterrichtet. Aber noch ginge es, seine Kinder | |
seien sechs, drei und ein Jahr alt. „Wir haben noch etwas Zeit“, sagt er | |
und lächelt gequält. | |
Nikos Katsouris und Katerina Koveou statten die Familie noch mit Socken, | |
einem Paar Kinderschuhe und Decken aus. Dann fährt ein weißer Kleinbus vor, | |
der die Familie wieder nach Moria bringt. Nikos Katsouris winkt der Familie | |
zu. „Es ist Wahnsinn, was hier passiert“, er schüttelt immer wieder den | |
Kopf. „Europa lässt uns einfach allein – hier werden Menschenleben | |
zerstört.“ | |
28 Feb 2020 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Theodora Mavropoulos | |
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