# taz.de -- Hanau nach dem Attentat: Die Zeit der Worte ist vorbei | |
> „Viele haben Angst“, sagt der Hanauer Eren Okcu und fordert echte | |
> Solidarität. Viele Statements von Politikern klingen zu sehr nach | |
> Routine. | |
Bild: Auf dem Paulsplatz in Frankfurt: Zusammenstehen nach dem rassistischen At… | |
Am Freitag liegen noch Blumen vor der Midnight Bar in Hanau, stehen Kerzen | |
im Wind. Dort, wo anderthalb Tage zuvor noch Menschen erschossen wurden. | |
Genauso wie wenig später vor einem Kioskcafé im Westen der Stadt. Zehn | |
Menschen, ermordet. Von dem Hanauer Tobias R., der an Verschwörungen | |
glaubte und erklärte, „Ausländer“, ja ganze Völker, müssten „komplett | |
vernichtet werden“. | |
Ein entsetzliches Verbrechen, ein Schock. Noch am Freitag bleiben eine | |
Schule und Kitas in Tatortnähe geschlossen, die fürs Wochenende geplanten | |
Faschingsumzüge sind abgesagt. Es herrsche „Entsetzen und Trauer“, sagt | |
Hanaus Bürgermeister Claus Kaminsky (SPD). „Zehn unschuldige Menschen haben | |
ihr Leben verloren. Wir sollten ihrer ohne Faschingsrummel gedenken.“ | |
Die zehn unschuldigen Menschen sind nach Angaben von Bekannten: Ferhat U., | |
Gökhan G., Hamza K., Said H., Mercedes K., Vili Viorel P.*, Sedat G., | |
Kalojan W., Fatih S. und die Mutter des Attentäters. Bis auf sie sind es | |
junge Menschen, 21 bis 44 Jahre alt. Hanauer, mit Migrationshintergrund, | |
viele von ihnen kurdisch, eine Romni, Handwerker, Verkäufer, Azubis, eine | |
zweifache Mutter. Menschen, die sich abends treffen wollten, Shisha | |
rauchen, entspannen, sich austauschen. Und dann ermordet wurden. | |
Keine Woche war es da her, als die Bundesanwaltschaft zwölf mutmaßliche | |
Rechtsterroristen festnehmen ließ, die „Gruppe S.“, Fanatiker aus einem | |
Bürgerwehrmilieu, die in kleinen Kommandos Anschläge auf Moscheen geplant | |
haben sollen. | |
Wenige Monate zuvor hatte ein Rechtsextremist in Halle versucht, die | |
Synagoge zu stürmen, und zwei Passanten erschossen. Davor schoss ein Mann | |
im hessischen Wächtersbach einen Eritreer nieder. Bei Kassel wurde der | |
Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet. Und in Sachsen stehen acht | |
Rechtsextreme vor Gericht, die als „Revolution Chemnitz“ ebenfalls | |
Anschläge geplant haben sollen. | |
Was sind das für Tage gerade? | |
Es ist eine unheilvolle Dynamik losgetreten in diesem Land. Und niemand | |
weiß so richtig, wie man sie stoppen kann. Bei denen, auf die sich der | |
rechtsextreme Hass richtet, ist die Verunsicherung riesig. | |
„Das war keine Einzeltat, der Hass wächst immer weiter“, sagt Eren Okcu | |
über das Attentat von Hanau, seiner Heimatstadt. Okcu engagiert sich dort | |
im Internationalen Kulturzentrum, einer Migrantenselbstorganisation. Einer | |
der Toten ist sein Nachbar, auch andere Opfer kannte er. Seit der Tat hält | |
Okcu Kontakt zu den Familien, organisiert Solidaritätsaktionen. „Viele | |
haben Angst, meine Mutter hat Angst, Familien schließen jetzt die Tür | |
doppelt zu“, sagt Okcu. „Beileid reicht jetzt nicht mehr aus.“ | |
Noch am Donnerstagabend waren gut 5.000 Menschen in Hanau spontan auf die | |
Straße gegangen. „Rassismus ist Gift“, stand auf Schildern, Bilder der | |
Getöteten wurden gezeigt. Auch Bundespolitiker reisten an. „Wir stehen als | |
Gesellschaft zusammen. Wir lassen uns nicht einschüchtern“, sagte | |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Man müsse auf die Sprache achten, | |
in der Politik, in den Medien, überall. Und Solidarität zeigen, um den | |
Zusammenhalt zu bewahren. | |
Bürgermeister Claus Kaminsky bedankte sich bei den Teilnehmern: Sie hätten | |
„nicht nur den Hinterbliebenen der Opfer gezeigt, dass wir sie nicht | |
alleine lassen, sie haben auch ein deutliches Zeichen gegen Hass und | |
Rassismus gesetzt“. | |
Und es war [1][nicht nur Hanau]. Auch in rund 50 weiteren Städten | |
versammelten sich am Abend spontan Menschen, wohl Zehntausende insgesamt, | |
und forderten ein Ende der rechtsextremen Gewaltspirale. Vor dem | |
Brandenburger Tor in Berlin standen der CDU-Generalsekretär, die | |
Grünen-Fraktionschefin, der FDP-Chef, Hand in Hand. Ein Stoppzeichen, über | |
viele Lager hinweg. | |
Und dennoch könnte der Vertrauensverlust derjenigen, die jetzt im Visier | |
des Rechtsextremismus stehen, kaum größer sein. Am Freitag lädt Zekeriya | |
Altug, Sprecher des Koordinationsrats der Muslime, zu einer Pressekonferenz | |
nach Berlin. Auch er spricht von einem „mulmigen Gefühl“ in den Gemeinden, | |
beklagt Jahre der „Anteilslosigkeit“ nach Gewalttaten gegen Muslime. „Die | |
Muslime haben Angst, um ihre Liebsten und ihre Kinder. Aber diese Angst | |
wird nicht wahrgenommen.“ Die Zeit der Worte sei vorbei. „Wir müssen | |
endlich handeln.“ | |
Zuvor hatte bereits die Kurdische Gemeinde Deutschlands mitgeteilt, man sei | |
„entsetzt, zutiefst getroffen“. Nie dürfe Deutschland „von Hass zerfress… | |
werden“, nie wieder dürfe „rassistische Ausgrenzung und Gewalt Normalität | |
erfahren“. Die Türkische Gemeinde schrieb: „Nach dem NSU haben wir | |
angeklagt, geweint, gewarnt. Heute müssen wir mit Erschrecken feststellen, | |
dass wir hier nicht sicher sind.“ | |
Am Freitag treten in Berlin auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht | |
(SPD) und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) auf. Beide hatten tags | |
zuvor in Hanau mit Bürgern gesprochen. Nun benennt Lambrecht den | |
Rechtsextremismus als „größtes Bedrohung unserer Demokratie“. | |
Seehofer verkündet, Sicherheitsvorkehrungen hochzufahren: „sensible“ | |
Einrichtungen würden überwacht, die Polizeipräsenz bundesweit erhöht, | |
gerade bei den bevorstehenden Karnevalsveranstaltungen. Und auch er | |
beklagt: „Seit dem NSU zieht sich eine rechte Blutspur durch dieses Land.“ | |
Indes: Die Sätze klingen inzwischen nach Routine. Sie lassen nicht glauben, | |
dass sich tatsächlich etwas ändert. Den Ausspruch mit der Blutspur tat | |
Seehofer schon im Dezember, als er Reformen bei den | |
Rechtsextremismus-Abteilungen beim BKA und Verfassungsschutz vorstellte. | |
Nun setzte sich die Blutspur ungehindert fort. | |
Und die Sicherheitsbehörden müssen sich Fragen stellen lassen. Hätte der | |
Hanauer Attentäter Tobias R. gestoppt werden können? Generalbundesanwalt | |
Peter Frank räumt am Freitag ein, dass der 43-Jährige, der als Sportschütze | |
legal Waffen besaß, bereits im November Briefe auch an seine Behörde | |
schickte, in denen er Anzeigen wegen einer angeblichen geheimdienstlichen | |
Überwachung stellte. | |
Die Mordaufrufe gegen Migranten, die R. vor seinem Attentat aber in einem | |
„Manifest“ festhielt, seien dort noch nicht enthalten gewesen, beteuert | |
Frank. Auch habe man, außerhalb von Ermittlungen, keinen Zugriff auf | |
Waffenregister, wusste also demnach nichts vom Waffenbesitz. | |
Auch Polizei und Verfassungsschutz war Tobias R. vor der Tat nicht | |
aufgefallen. In seinem Schützenverein beschreibt man ihn als unauffällig. | |
BKA-Chef Holger Münch sprach am Freitag von einer „großen Herausforderung�… | |
solche Täter aufzuspüren. Es sei zudem ein Problem, dass solche Personen, | |
auch psychisch Auffällige wie jetzt Tobias R., vermehrt auf rechtsextreme | |
Weltbilder stießen. | |
Tatsächlich hat sich eine fatale Melange zusammengebraut. Halle, Lübcke, | |
die Gruppe S., nun Hanau: So unterschiedlich die Fälle sind, einen sie doch | |
Ideologiefragmente. Hass auf Geflüchtete und Muslime, auf eine liberale | |
Politik, auf „Volksverräter“ allerorten und ein Raunen von einem | |
angeblichen Bevölkerungsaustausch. | |
Dazu kultiviert die rechtsextreme Szene Aufrufe zum Widerstand, die auch | |
Vertreter von AfD und Pegida bedienen. Bis zur Sehnsucht nach einem „Tag | |
X“, nach einem Umsturz, der etwa auch im [2][Hannibal-Netzwerk] von | |
Sicherheitsbehördlern auftauchte, ist es da nicht mehr weit. So erklärte | |
just drei Tage nach dem Auffliegen der Gruppe S. der Thüringer AfD-Chef | |
Björn Höcke bei einem Pegida-Auftritt in Dresden, „die Herrschaft der | |
verbrauchten Parteien und Eliten muss abgelöst werden“. Und: „Wir werden | |
diesen Kampf gemeinsam führen und gemeinsam gewinnen.“ | |
Ein Kampf, den die jüngsten Rechts-Attentäter nun bereits beginnen wollten. | |
Und auch der Hanauer Tobias R. nannte seine Tat in seinem | |
Abschiedsschreiben einen „Krieg“: „gegen die Geheimorganisation und gegen | |
die Degeneration unseres Volkes“. | |
## Entschädigung reicht nicht | |
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil fordert am Freitag, gegen die geistigen | |
Brandstifter vorzugehen, namentlich die AfD: In Hanau habe einer | |
geschossen, ideologisch „munitioniert“ aber habe ihn auch die AfD. Die | |
Partei gehöre komplett vom Verfassungsschutz überwacht. Horst Seehofer sagt | |
dazu, der Verfassungsschutz entscheide autonom. Aber auch der CSU-Mann | |
kritisiert, dass Aussagen, etwa über die NS-Zeit als Vogelschiss der | |
Geschichte, ein Nährboden für Taten wie in Hanau seien. „Solche Thesen | |
verwirren die Köpfe und dann tritt leider Böses hervor. Das ist ein | |
Riesenproblem.“ | |
Lambrecht verweist auf das erst diese Woche auf den Weg gebrachte Gesetz, | |
wonach Provider nun Hasspostings dem BKA melden müssen, um diese | |
konsequenter zu verfolgen. Damit wolle man „den Nährboden für Hass | |
trockenlegen“. Und Lambrecht sichert den Opfern Unterstützung zu. Seit | |
Donnerstag ist Edgar Franke, der Opferbeauftragte der Bundesregierung, in | |
Hanau, koordiniert soziale und psychologische Hilfen. Angehörige der | |
Mordopfer erhielten zudem 30.000 Euro Entschädigung. Dies könne innerhalb | |
weniger Tage an Hinterbliebene gezahlt werden. | |
Eren Okcu, der seine Bekannten bei dem Attentat verlor, reicht das nicht. | |
Es brauche eine „entschlossene Solidarität“ mit den Betroffenen, sagt der | |
Hanauer. Bereits am Freitagabend wollte Okcu mit anderen linken Gruppen | |
durch die Stadt demonstrieren. Für Samstag bereitete sein Verein mit | |
anderen Gruppen eine bundesweite Demonstration in Hanau vor. „Es ist Zeit | |
für Migrantifa“, heißt es in einem Aufruf. Man sei „wütend“ über das | |
Attentat und „wütend über die rechte Stimmungsmache“, die dazu geführt | |
habe. Und: „Wir nehmen uns das Recht, uns selbst zu verteidigen.“ | |
Korrektur | |
Die Auflistung der neun Todesopfer des rassistischen Anschlags enthielt in | |
einer früheren Version des Textes einen Fehler. Bilal G. ist nicht unter | |
den Todesopfern. Dies haben die taz und mehrere andere Medien falsch | |
berichtet. Auch Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, | |
nannte den Namen in der Bundespressekonferenz. Die Quelle der taz am | |
Freitag war einer der Organisatoren der zentralen Trauerfeier in Hanau, der | |
uns sagte, er habe mit der Familie gesprochen. | |
Bereits am späten Freitagabend hat eine Vertreterin des Hanauer Bündnisses | |
Solidarität statt Spaltung, das Bilal G. am Freitagabend ebenfalls kurz zu | |
den Toten gezählt hatte, darauf hingewiesen, dass dies nicht stimmt. Aus | |
Sicherheitskreisen wurde der taz am Samstag bestätigt, dass Bilal G. nicht | |
unter den Toten ist. Für den Fehler bitten wir um Entschuldigung. | |
Unter den Toten ist stattdessen Vili Viorel P., wie die | |
[3][Nachrichtenagentur AP] und die [4][rumänische Zeitung Libertatea] | |
berichten. Dies bestätigten deutsche Sicherheitskreise auf Nachfrage. Auch | |
für die anderen acht Namen haben wir mittlerweile die Bestätigung aus | |
Sicherheitskreisen. Wir nennen die vollen Nachnamen der Opfer weiterhin | |
nicht, da unklar ist, ob die Familien der Opfer das möchten. Die Redaktion. | |
21 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Hanau-Mahnwache-in-Berlin/!5665407/ | |
[2] /Schwerpunkt-Hannibals-Schattennetzwerk/!t5549502/ | |
[3] https://apnews.com/a1535c0b97159ab84d829a35b13f2909 | |
[4] https://www.libertatea.ro/stiri/cine-este-romanul-de-23-de-ani-ucis-in-aten… | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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