# taz.de -- Pro und Contra Neuwahl in Thüringen: Nochmal wählen? | |
> Sollten die Thüringer*innen erneut wählen? Oder muss die Regierungskrise | |
> aus dem bestehenden Landtag heraus gelöst werden? Ein Streit. | |
Bild: Blumen im Thüringer Landtag. Sollte das Parlament aufgelöst werden? | |
Kramp-Karrenbauer will sie, die Thüringer Landes-CDU ist dagegen: Neuwahlen | |
in Thüringen. Und was denkt die taz? Die Inlands-Redakteure Pascal Beucker | |
und Tobias Schulze streiten darüber. Wäre es eine gute Idee, die | |
Thüringer*innen ein zweites Mal wählen zu lassen? | |
## Pro: „Die Wählerinnen und Wähler sollten das Urteil fällen“ | |
[1][Nach dem gelb-schwarz-braunen Desaster vom Mittwoch] kann man nicht | |
einfach zur Tagesordnung zurückkehren. Das war kein kleiner Betriebsunfall, | |
den man mit ein paar Aufräumarbeiten wieder korrigiert kriegt. Das war eine | |
Zäsur. Deswegen reicht es auch nicht, wenn der unselige [2][FDP-Mann Thomas | |
Kemmerich] einfach nur seinen Platz in der Staatskanzlei wieder an Bodo | |
Ramelow zurückgibt. | |
Die Bedingungen für eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung haben sich | |
grundsätzlich verändert. Auf welcher Grundlage soll sie der CDU und der FDP | |
denn noch weiterhin die Hand zur Zusammenarbeit reichen? „Ich habe mich zum | |
Trottel gemacht, weil ich dachte, ich rede mit Demokraten“, hat Ramelow dem | |
Spiegel gesagt. Das ist eine bittere Feststellung, der sich leider nicht | |
widersprechen lässt. | |
Zu Trotteln haben sich aber vor allem diejenigen gemacht, die unter | |
falschen Voraussetzungen bei der vergangenen Landtagswahl CDU oder FDP | |
gewählt haben. Also jene aufrechten Demokraten, die den Beteuerungen von | |
Mike Mohring und Thomas Kemmerich geglaubt haben, sie würden unter keinen | |
Umständen mit der AfD kollaborieren. Tatsächlich hat sich bei der | |
Ministerpräsidentenwahl vom Mittwoch gezeigt, dass es jenseits der | |
Abgeordneten von Linkspartei, SPD und Grünen nur noch drei weitere | |
Abgeordnete gibt, die nicht bereit sind, mit Faschisten zu paktieren. | |
Den Wählerinnen und Wählern in Thüringen sollte deshalb die Möglichkeit | |
gegeben werden, an der Wahlurne ihr Urteil über diesen Tabubruch zu fällen. | |
Deshalb sind vorgezogene Neuwahlen die einzig logische Konsequenz, wie es | |
Linkspartei, SPD und Grüne unmittelbar nach der Skandalwahl Kemmerichs | |
bereits gefordert haben. | |
Das bedeutet keineswegs, dass das so ablaufen muss, wie | |
Noch-Ministerpräsident Kemmerich sich das wünscht – also über eine | |
Selbstauflösung des Landtags. Der Herr hat nichts mehr zu wünschen, er | |
sollte einfach nur noch schnellstmöglich seine Sachen packen. Wenn er nicht | |
von selbst die Vertrauensfrage stellt, muss er eben durch ein konstruktives | |
Misstrauensvotum aus dem Amt gejagt werden. | |
Und dann sollte Wiederministerpräsident Ramelow an die Vorbereitungen von | |
Neuwahlen gehen. Das Bundesland ist nämlich nicht braun: Eine übergroße | |
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger steht auf der Seite der demokratischen | |
Kräfte. Wer sich die hohen Zustimmungswerte für Bodo Ramelow anschaut, der | |
kann sich kaum vorstellen, dass die Thüringerinnen und Thüringer das | |
schäbige Manöver der „bürgerlichen“ Parteien goutieren könnten, ihn mit | |
Hilfe von Faschisten abgewählt zu haben. Zu einem demokratischen | |
Verständnis gehört, keine Angst vor den Wählerinnen und Wählern zu haben. | |
Pascal Beucker | |
## Contra: „Das wäre Futter für die AfD“ | |
Was immer die demokratischen Kräfte in Thüringen jetzt machen – eines | |
können sie der AfD tragischerweise nicht mehr nehmen: den Triumph, das | |
parlamentarische System vorgeführt zu haben. Der Antidemokrat Höcke und | |
seine Gefolgschaft haben das demokratische Regelwerk dazu genutzt, einen | |
Mann in die Staatskanzlei zu bringen, der von vornherein keine Aussicht auf | |
eine parlamentarische Mehrheit für sein Regierungshandeln zu finden. | |
Thomas Kemmerichs Scheitern war schon in seiner Wahl angelegt, sein | |
Rückzieher 25 Stunden später war damit folgerichtig – aber deshalb nicht | |
weniger skurril. Die AfD, die gerne Verachtung für den Parlamentarismus | |
schüren möchte, konnte in dieser Woche dafür ihr propagandistisches | |
Munitionslager auffüllen: Seht her, wie kaputt die Demokraten und ihr | |
System doch sind! | |
Würde jetzt neu gewählt, dann könnte die AfD dieses Liedchen fröhlich | |
weitersingen. Mehr noch: Sie erhielte frisches Futter. Wer als Wähler*in | |
zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres ins Wahllokal gebeten wird, | |
gewinnt sicher kein frisches Vertrauen in die parlamentarische Demokratie. | |
Und wer garantiert, dass die Situation nach einer zweiten Landtagswahl | |
weniger skurril wäre? | |
Es ist nämlich gar nicht klar, dass sich die Mehrheitsverhältnisse durch | |
eine Neuwahl grundlegend ändern würden. Die Linke und ihr Märtyrer Bodo | |
Ramelow könnten zulegen, allerdings am ehesten auf Kosten von SPD und | |
Grünen – das rot-rot-grüne Lager würde also nicht gestärkt. Ebenso wenig | |
klar ist, ob die 5-Prozent-FDP aus dem Landtag flöge. Ja, FDP-Kandidat | |
Kemmerich hat sich zum Dressuraffen der AfD gemacht – seine potenziellen | |
Wähler*innen stört das aber nicht zwangsläufig. [3][Eine aktuelle | |
Infratest-Umfrage zeigt, dass der Großteil der FDP-Anhänger*innen] kein | |
Problem damit hat, wenn ihre Partei mit den Rechtsextremen paktiert. Wie | |
sich das Kemmerich-Debakel auf die Wahlergebnisse von FDP und CDU auswirken | |
würde, ist offen. | |
Wenn es ganz blöd läuft, steht am Ende ein neuer Landtag mit exakt der | |
alten Sitzverteilung – also immer noch ohne stabile Regierungsmehrheit. | |
Zurück auf Anfang, die AfD lacht sich schlapp. | |
Die Alternative: Die Demokrat*innen im Landtag zeigen, dass auch sie das | |
demokratische Regelwerk nutzen können. Kemmerich stellt die Vertrauensfrage | |
– und verliert, allein schon deshalb, weil ihn die CDU nicht noch mal | |
unterstützt. Der Landtag führt im Anschluss noch mal eine | |
Ministerpräsidenten-Wahl durch und entscheidet sich diesmal mit der | |
einfachen rot-rot-grünen Mehrheit für Ramelow. Die linke | |
Minderheitsregierung zieht ihr ursprünglich geplantes Programm durch und | |
holt sich durch Kompromisse mit CDU und FDP für einzelne Vorhaben | |
parlamentarische Mehrheiten. | |
Zugegeben, eine gewisse Skurrilität hätte auch diese parlamentarische | |
Extra-Runde. Die Ereignisse dieser Woche würden nicht ungeschehen gemacht, | |
das Regieren wäre mühsam und die Unterscheidbarkeit der demokratischen | |
Parteien würde durch die ständige Kompromisssuche weiter schwinden. Aber | |
immerhin würden die demokratischen Kräfte eines zeigen: dass das System | |
doch funktioniert. Tobias Schulze | |
7 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /FDP-stellt-Thueringer-Ministerpraesident/!5658263 | |
[2] /Nach-der-Wahl-in-Thueringen/!5658340 | |
[3] /ARD-Deutschlandtrend-nach-Thueringen/!5662399 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
Tobias Schulze | |
## TAGS | |
Annegret Kramp-Karrenbauer | |
Christian Lindner | |
Björn Höcke | |
Schwerpunkt Thüringen | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Schwerpunkt Thüringen | |
Schwerpunkt Ostdeutschland | |
Schwerpunkt Thüringen | |
Schwerpunkt Thüringen | |
Grüne | |
Thomas Kemmerich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
CDU und das Thüringer Debakel: Die Abgrenzung nach links ist überholt | |
Die CDU-Bundesspitze fordert zu Neuwahlen auf. Dabei würde die Partei | |
deutlich verlieren. Schlauer wäre es, neue Bündnisse zuzulassen. | |
Hennig-Wellsow über das Thüringer Chaos: „Taktieren bis zum Rücktritt“ | |
Rot-Rot-Grün will jetzt schnellstmöglich eine neue Regierung wählen, sagt | |
die Thüringer Linkspartei- und Fraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow. | |
CDU-Chefin nach dem Thüringen-Desaster: So kühn wie dreist | |
Annegret Kramp-Karrenbauer setzt sich in Thüringen in ihrer Partei nicht | |
durch. Stattdessen stellt sie nun Forderungen an SPD und Grüne. | |
Machtkampf nach Thüringen-Desaster: CDU lässt AKK abblitzen | |
Die Thüringer CDU darf eine Lösung ohne Neuwahl suchen. Kramp-Karrenbauer | |
gibt klein bei. Rot-Rot-Grün setzt Ultimatum für Kemmerichs Rücktritt. | |
AfD-Drama in Thüringen: Grüne Krisengewinner | |
Die Grünen scheinen in Erfurt keine Rolle zu spielen. Doch könnten am Ende | |
ausgerechnet sie am meisten vom „Dammbruch“ profitieren. | |
FAQ zur Regierungskrise in Thüringen: Zwei Wege führen zu Neuwahlen | |
Wie geht es weiter nach dem gelb-schwarz-braunen | |
Ministerpräsidentenwahldesaster im Erfurter Landtag? Antworten auf die | |
wichtigsten Fragen. |