| # taz.de -- Die Ost-CDU und ihre Anfänge: Vergiss mein nicht! | |
| > In der DDR war die CDU Stütze des Systems. Mit dieser Geschichte haben | |
| > sich die Christdemokraten nie auseinandergesetzt. Das hat Folgen bis | |
| > heute. | |
| Bild: Volkskammerwahl 1990: ZuhörerInnen bei einer Kundgebung der Ost-CDU | |
| Christine Lieberknecht wollte etwas tun. „Irgend etwas!“, erinnert sie | |
| sich. Hinter der jungen Pfarrerin aus Thüringen lag 1989 ein unruhiger | |
| Sommer. Die Kommunalwahlen im Mai waren – für jeden offensichtlich – | |
| gefälscht worden. Seit Wochen verließen Tausende DDR-Bürger das Land. In | |
| ihrer Kirchgemeinde Ottmannshausen, gelegen in Sichtweite des einstigen | |
| Konzentrationslagers Buchenwald, wurde offen über Politik diskutiert. Aber | |
| die CDU, der Christine Lieberknecht angehörte, schwieg zu alldem. | |
| Kein Wunder, denn Lieberknechts Partei war eine von vier Blockparteien, | |
| sicher eingehegt in das politische System der DDR. Die in einem Block, der | |
| „Nationalen Front“ (was für eine Sprache!), zusammengefassten Parteien | |
| ordneten sich der Staatspartei SED unter, sie erkannten deren politischen | |
| Führungsanspruch an. Christine Lieberknecht war 1981 CDU-Mitglied geworden. | |
| Heute gefragt, warum sie sich als junge Pastorin partout in einer Partei | |
| organisieren wollte, antwortet sie, sie habe Christsein stets praktisch | |
| verstanden, als „Weltgestaltung – ich wollte damals was verändern“. | |
| Lieberknechts Satz ist typisch für viele ostdeutsche CDU-Mitglieder. Manche | |
| wollten das Land tatsächlich „von innen heraus verändern“, vielen aber | |
| diente die Mitgliedschaft in einer Blockpartei als politisches Ruhebecken, | |
| um nicht in die SED eintreten zu müssen. | |
| Das Ergebnis war politisches Mitläufertum bis zuletzt. Die Ost-CDU war eine | |
| Stütze des Systems, ihre Funktionäre blieben unkritisch, ihre Mitglieder | |
| weitgehend stumm. Das ungeklärte Verhältnis der CDU zu dieser Vergangenheit | |
| als Blockpartei hat Folgen bis heute. In Thüringen, wo die CDU gerade | |
| zusammen mit der ultrarechten AfD einen FDP-Ministerpräsidenten gewählt | |
| hat, hat sich erwiesen, dass es nicht weit her ist mit den | |
| politisch-weltanschaulichen Grundlagen vieler Mandatsträger. | |
| Christine Lieberknecht ist 1989 noch jung, sie will was tun. Am 10. | |
| September fassen sich sie und drei weitere Thüringer CDU-Mitglieder ein | |
| Herz: Sie schreiben den [1][„Brief aus Weimar“] und verteilen ihn in ihren | |
| Gemeinden. Das Papier verbreitet sich in Windeseile im Land. | |
| In ihrer auf einer Schreibmaschine getippten Erklärung „bitten“ die CDUler | |
| Christine Lieberknecht, Martin Kirchner, Gottfried Müller und Martina Huhn | |
| die „Mitglieder und Vorstände der Christlich Demokratischen Union“, darüb… | |
| „nachzudenken, welchen Beitrag die CDU für die Lösung der akuten | |
| gesellschaftlichen und politischen Probleme leisten kann“. Mehr war es | |
| nicht. Aber in einem Land wie der DDR konnten schon höflich formulierte | |
| Bitten als Subversion gelten. | |
| „Ich habe mit Unannehmlichkeiten gerechnet“, erinnert sich Christine | |
| Lieberknecht heute, dreißig Jahre später, „etwa Untersuchungshaft oder dass | |
| unsere Personalausweise eingezogen werden. Aber wir wussten: Juristisch ist | |
| das ein innerparteilicher Vorgang, da konnte die Polizei nichts machen.“ Zu | |
| ihrem Mann hatte sie noch im Überschwang gesagt: „Wir kippen die CDU!“ und | |
| für den unwahrscheinlichen Fall des Erfolgs Krimsekt besorgt. Passiert ist | |
| ihr zum Glück nichts. | |
| Und tatsächlich, drei Monate später fiel die Mauer und die Verhältnisse | |
| begannen zu tanzen. Natürlich nicht nur, aber durchaus auch, weil vier | |
| Thüringer mutig die Rolle der komplett angepassten Ost-CDU infrage gestellt | |
| hatten. | |
| Noch heute gilt der „Brief aus Weimar“ innerhalb der CDU als Ausweis der | |
| Widerständigkeit im SED-Staat. Das mag daran liegen, dass die Ost-CDU – und | |
| damit die Partei als Ganzes – sonst nicht viel herzuzeigen hat, was auf | |
| eine irgendwie geartete Opposition hindeuten könnte. Aber nach dem | |
| Mauerfall brauchte es eine Erzählung, auf deren Grundlage die West-CDU | |
| rechtfertigen konnte, warum sie ohne weitere ideologische Bedenken die | |
| Ost-CDU an ihre breite Brust ziehen konnte. | |
| Eine Partei wohlgemerkt, deren Vorsitzender Gerald Götting gleich nach | |
| Erscheinen des „Briefs aus Weimar“ angewiesen hatte, „dass die Autos vom | |
| Hauptvorstand der CDU losgefahren sind, um die Bezirke anzuweisen, in die | |
| Kreissekretariate zu fahren und dort unseren Brief wieder einzusammeln“. So | |
| erinnert sich Christine Lieberknecht an diese Zeit des Aufbegehrens. | |
| Die CDU-Frau, die nach der Wende eine steile politische Karriere hingelegt | |
| hat und von 2009 bis 2014 sogar CDU-Ministerpräsidentin in Thüringen war, | |
| bewertet das Ganze heute so: „Der ‚Brief aus Weimar‘ war die willkommene | |
| Grundlage für die West-CDU, im Osten anzudocken. Helmut Kohl brauchte hier | |
| eine Plattform; die konnten wir ihm bieten.“ | |
| Dass der „Brief“ von gerade mal vier Personen ausgegangen war, deren eigene | |
| Parteiführung den umgehenden Ausschluss der Unruhestifter gefordert hatte, | |
| erzählte man nicht so gern. Auch nicht, dass zum Beispiel der erste | |
| Thüringer CDU-Ministerpräsident Josef Duchač nicht nur seit 1957 Mitglied | |
| der Ost-CDU war, sondern auch für die Stasi gespitzelt hatte. Oder dass | |
| selbst Martin Kirchner, einer der Verfasser des „Briefs aus Weimar“, mit | |
| der Staatssicherheit kooperiert hatte. Lieber gefällt man sich seither als | |
| widerständige Gegnerin der SED-Nachfolgepartei Die Linke. | |
| Die Übernahme der Ost-CDU mitsamt ihren 135.000 Mitgliedern und ihrem | |
| Parteivermögen – die Rede ist von umgerechnet mehreren Millionen Euro – kam | |
| seinerzeit gerade recht. Die Strukturen vor Ort waren hilfreich, um im | |
| Wahlkampf auf alte Netzwerke zurückzugreifen und zugleich auch West-CDUler | |
| zu installieren und Ost-CDUler zurückzudrängen. | |
| Wofür die Parteimitglieder stehen, welche weltanschaulichen Prinzipien sie | |
| vertreten, war angesichts der Dominanz der Westpartei zweitrangig. In einer | |
| Partei zu sein, war in der DDR häufig eher Karriereentscheidung denn | |
| Überzeugungstat. Parteien, das waren Machtzentren, denen man aus | |
| persönlichem Kalkül, weniger aus Überzeugung beitrat. | |
| Dass die West-CDU etwas anderes anbieten würde, hat sie nach Mauerfall und | |
| Wiedervereinigung erst einmal nicht zu erkennen gegeben. Die Kohl-Partei | |
| hatte 1989 weitgehend abgewirtschaftet, sie drohte, bei der nächsten | |
| Bundestagswahl abgewählt zu werden. Nun, in der historisch einmaligen | |
| Situation, gab es die Chance, als Partei der Wiedervereinigung zu | |
| reüssieren. In die CDU einzutreten, bedeutete ab 1990 zudem, sich den | |
| Gewinnern der deutschen Einheit anzuschließen. | |
| Der Parteienforscher Michael Lühmann vom Göttinger Institut für | |
| Demokratieforschung spricht von „verordneter Geschichtsvergessenheit“ bei | |
| der CDU. Den politisch links stehenden Mitbewerbern wurde pauschal so lange | |
| und so lautstark Affinität zum Sozialismus vorgeworfen, [2][dass die Frage | |
| nach der eigenen Rolle in der DDR gar nicht erst gestellt werden konnte.] | |
| Im Bundestagswahlkampf 1994 entschloss sich die in Bonn organisierte CDU | |
| gar zu einer „Rote Socken“-Kampagne gegen die PDS, die westdeutsche | |
| antikommunistische Reflexe umfassend bediente. | |
| Seither wird die pauschale Feindseligkeit gegenüber der Linkspartei gut | |
| gepflegt – und zwar bei gleichzeitiger realpolitischer Kooperation auf | |
| lokaler Ebene. Parteienforscher Lühmann spricht von einer „Lebenslüge“. | |
| Beim Bundesparteitag 2008 brachte der Kreisverband Halle einen Antrag ein, | |
| der sich der Verantwortung gegenüber der Vergangenheit stellte, schildert | |
| es Lühmann. „Aber der war der Parteiführung um Merkel dann doch zu | |
| weitgehend und wurde von der Antragskommission bis ins Unkenntliche | |
| abgemildert.“ | |
| Aus der kritischen Selbsterkenntnis: „Wir bekennen uns zur Geschichte der | |
| CDU als Blockpartei, kennen die schuldhafte Mitverantwortung der Führung | |
| der CDU in der DDR an den Verfehlungen und Verbrechen einer Diktatur unter | |
| der führenden Rolle der SED“, sei die so euphemistische wie inhaltsleere | |
| Deutung: „Gleichwohl hat die CDU in der DDR im totalitären System der | |
| SED-Diktatur mitgewirkt“, sagt Lühmann. | |
| Auf dieser Grundlage konnte die SED weiterhin das allein Böse sein. Am Ende | |
| dieses Gedankengangs werde heute etwa in Thüringen oder in Sachsen-Anhalt | |
| „die demokratische Linke in eine Waagschale mit der extrem rechten, | |
| völkischen AfD geworfen“, konstatiert der Parteienforscher. | |
| In Thüringen hat man gerade gesehen, [3][wohin die pauschale Gleichsetzung | |
| der Linken mit der AfD parlamentarisch führt.] In Sachsen-Anhalt und | |
| Mecklenburg-Vorpommern sind für 2021 Landtagswahlen angesetzt. | |
| Christine Lieberknecht lebt noch immer am Fuße des Ettersbergs bei Weimar. | |
| Die CDU-Frau ist heute 61 Jahre alt; die Ereignisse im Erfurter Landtag | |
| haben sie hörbar erschüttert. „Ich habe lange Weimarer Verhältnisse für | |
| unmöglich gehalten“, sagt sie, „aber nun habe ich erstmals richtig Sorge.�… | |
| Ihre Partei, für deren Würde sie vor dreißig Jahren ein hohes Risiko | |
| einging, müsse raus aus dieser Konfrontation zur Linken. „Es muss was | |
| passieren“, sagt Lieberknecht. Ihre Worte klingen ähnlich wie die aus dem | |
| Jahr 1989. | |
| 16 Feb 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/der-brief-aus-weimar-336988 | |
| [2] /Diana-Kinnert-ueber-die-Zukunft-der-CDU/!5659639&s=DDR+und+CDU/ | |
| [3] /Politisches-Erdbeben-in-Thueringen/!5658378&s=Ost-CDU/ | |
| ## AUTOREN | |
| Anja Maier | |
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