| # taz.de -- Unterwegs mit Vorsätzen: Sich ein bisschen treu bleiben | |
| > Im Studio der Schaubühne werden Genderhierarchien aufgelöst. Auf ein | |
| > „indigenes Partygetränk“ mit Patrick Wengenroth und seinem Ensemble. | |
| Bild: Bernardo Arias Porras und Patrick Wengenroth über Männlichkeitsbilder i… | |
| Mit guten Vorsätzen ist es ja so eine Sache, meistens werden sie schneller | |
| gebrochen, als man sie ausformuliert hat. Manchen mag es beim gemeinsamen | |
| Essen mit Freund*innen einfach zu lästig sein, als Einzige*r keinen Wein | |
| trinken zu können, für andere ist der wöchentliche Besuch im Fitnessstudio | |
| ein zu großer Einschnitt in ihrer Work-Life-Balance. | |
| Persönlich halte ich nicht viel von derlei Vorsätzen, da ich sie ohnehin | |
| nie verinnerliche und bei der ersten Gelegenheit schlichtweg vergesse. So | |
| ist meine Intention, mich im Januar vegan zu ernähren, bereits am ersten | |
| des Monats vom Neujahrskater und einer Tiefkühlpizza – dem einzigen in | |
| meiner Wohnung befindlichen Nahrungsmittel – zunichtegemacht worden. | |
| Einen anderen Vorsatz habe ich deshalb gar nicht erst offiziell benannt, | |
| aus Angst, ihn rein aus Prinzip gleich wieder zu boykottieren: mehr | |
| unternehmen. Nicht unmittelbar ein Klassiker, wie – Rauchen, Trinken, | |
| Selbstzweifel aufgeben –, aber doch auch nicht besonders originell. Für | |
| mich dennoch eine Herausforderung. | |
| Deswegen ist es beinah überraschend, dass die zweite Januarwoche bereits zu | |
| Ende geht, mein Kalender noch voller Termine ist und ich bisher keinen | |
| davon abgesagt habe. Nur ganz leise beschleicht mich das altbekannte | |
| Gefühl, mir vielleicht doch etwas viel vorgenommen zu haben. Obwohl | |
| psychisch noch hochmotiviert, bemerke ich erste körperliche Anzeichen, die | |
| mich versuchen in meiner Unternehmungslust zu bremsen. | |
| ## Ich bin ein Schnupfen und komme zu Besuch | |
| Pünktlich zum Wochenende begrüße ich also einen Schnupfen als ständigen | |
| Begleiter. Ihm und mir schließt sich P. an, die ich am Freitagabend von der | |
| Arbeit abhole. Wir schlendern durchs Hansaviertel. P. macht mich auf eine | |
| Reihe unscheinbarer Gebäude aufmerksam, die in der spärlichen | |
| Straßenbeleuchtung aussehen wie Garagen. | |
| Tatsächlich handelt es sich bei den Flachdachbauten in der Händelallee aber | |
| um begehrte Einfamilienhäuser, die anlässlich der „Interbau 57“ entstanden | |
| und architektonische Meisterwerke der späten Moderne sind. Leider sind sie | |
| von außen nur schwer bis gar nicht einsehbar – aber P. war kürzlich zu Gast | |
| in einem der Nobelschuppen und zeigt mir beeindruckende Fotos auf ihrem | |
| Smartphone. | |
| Am nächsten Abend bin ich mit L. verabredet. Obwohl eigentlich schon | |
| ausverkauft, haben wir noch Tickets für „He? She? Me! Free.“ im Studio der | |
| Schaubühne ergattern können. Die Bühne ist ein aus Pappe | |
| zusammengebasteltes Tonstudio – überall stehen Instrumente herum. Unsere | |
| Plätze in der zweiten Reihe sind so nah an den Schauspielenden, dass ich | |
| etwas verunsichert bin, was uns erwartet. Genderhierarchien, patriarchale | |
| Machtstrukturen und binäre Rahmen, die es aufzulösen gilt, werden | |
| angesprochen und ich denke erst, das ist mir jetzt doch etwas viel Anspruch | |
| für heute. | |
| ## Von toxischer Männlichkeit und Reproduktionsverantwortung | |
| Doch dann schaffen es Patrick Wengenroth und sein Ensemble ganz ohne | |
| Anstrengung, aber mit furchtbar viel schöner Musik, Komplexes ganz | |
| selbstverständlich zu transportieren. Dank persönlicher Anekdoten, die von | |
| toxischen Männlichkeitsbildern und weiblicher Reproduktionsverantwortung | |
| erzählen, werden die sonst eher theoretischen, gar philosophischen Monologe | |
| erträglicher. | |
| Bevor es sich ziehen kann, ist es auch schon wieder vorbei und ich wünsche | |
| mir ein „indigenes Partygetränk“, wie Bernardo Arias Porras die Club Mate | |
| bezeichnet, die er auf der Bühne trinkt. Stattdessen gibt es Rotwein, für | |
| den L. und ich halb Charlottenburg abklappern müssen. Die Gegend um die | |
| Kantstraße scheint angesagt wie nie: Weder im Hecht noch im Zwiebelfisch | |
| finden wir Platz, vom Schwarzen Café ganz zu schweigen. | |
| Letztendlich landen wir bei Ali Baba, wo es immer noch die beste Mini Pizza | |
| und ganz passablen Wein gibt. Drei Gläser später merke ich, dass meine | |
| sportive Verabredung am Sonntag wohl eher schwierig einzuhalten wird, und | |
| sage in weiser Voraussicht ab. Sich ein bisschen treu bleiben schadet | |
| nicht, neues Jahr hin oder her. | |
| 14 Jan 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Sophia Zessnik | |
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