# taz.de -- Grüne koalieren mit ÖVP: Ein lang gehegter Traum | |
> Linkes Profil, politischer Pragmatismus und ein starker Parteichef: | |
> Dieser Dreiklang bringt die Grünen in Österreich in die Regierung. | |
Bild: Grünenchef Werner Kogler (Mitte) und seine Mitstreitr:innen am Mittwoch … | |
WIEN taz | Vom „türkis-grünen Neujahrsbaby“ titelten die Boulevardmedien | |
begeistert. Zwar schlüpfte es nicht kurz nach Mitternacht ans Licht und | |
wurde auch keine neun Monate ausgetragen, doch immerhin am Neujahrstag | |
bestätigt. Die Verhandlungsführer Sebastian Kurz (ÖVP) und Werner Kogler | |
(Grüne) hatten im ORF eine Sondersendung nach dem „Traumschiff“ gebucht, um | |
ihre [1][Einigung nach sieben Wochen Verhandlungen zu verkünden]. | |
Mit Details hielten sie sich noch zurück, doch wurde bestätigt, was in den | |
letzten Wochen aus den hermetischen Räumen des Winterpalais des Prinzen | |
Eugen so durchgesickert war: Die Grünen dürfen mit einem großen Klimapaket | |
ihre Duftmarken setzen und das Land mit einer Transparenzoffensive von der | |
Fessel der Amtsverschwiegenheit befreien. „Mehr gläserner Staat als | |
gläserner Staatsbürger“, sagte Werner Kogler. | |
Andererseits will die konservative ÖVP ihre mit der FPÖ verfolgte Politik | |
in Asyl- und Zuwanderungsfragen fortsetzen. Dafür sei sie schließlich | |
gewählt worden, erklärte Kurz in einem kurzen Statement, in dem er die | |
konstruktive Atmosphäre der Verhandlungen und die Ernsthaftigkeit seiner | |
künftigen Regierungspartner lobte. | |
Die gegenseitigen Versicherungen der Wertschätzung erinnerten an den | |
Antritt der [2][Rechtsregierung ÖVP-FPÖ vor etwas mehr als zwei Jahren]. | |
Doch machte man kein Geheimnis daraus, dass die Einigung weit schwieriger | |
und das Finden von Kompromissen schmerzhafter war als einst zwischen den | |
Rechtsparteien, die über die Ängste aus der selbst geschürten | |
Flüchtlingskrise zusammengefunden hatten. | |
## Zurück aus dem Tal der Tränen | |
Für Österreichs Grüne, die vor 33 Jahren erstmals ins Parlament einzogen | |
und inzwischen in den meisten Bundesländern in unterschiedlichen | |
Konstellationen mitregieren oder mitregiert haben, bedeutet der Einzug in | |
die Bundesregierung die Erfüllung eines lange gehegten Traums. Und das, | |
nachdem sie bei den Wahlen von 2017 [3][aus dem Nationalrat geflogen] | |
waren. | |
Ernüchterung folgte auf die [4][Kür von Alexander Van der Bellen], der | |
wenige Monate vorher als erster grüner Bundespräsidenten in die Hofburg | |
eingezogen war. Eine Serie unglücklicher Entscheidungen und die Abspaltung | |
des Veteranen Peter Pilz, der mit einer eigenen Liste den Sprung ins | |
Parlament schaffte, hatten die Öko-Partei ins Tal der Tränen geführt. | |
Klimawandel war damals kein Thema. Wahlen gewann man mit Abwehr von | |
Ausländern und islamfeindlichen Parolen. | |
Österreichs Grüne positionieren sich inhaltlich weiter links als die Brüder | |
und Schwestern in Deutschland, haben aber in besonders konservativen | |
Bundesländern wie Tirol und Salzburg ihre Kompromissfähigkeit unter Beweis | |
gestellt. Pragmatismus geht vor Ideologie. In der öffentlichen Wahrnehmung | |
kamen sie als besserwisserische Verbotspartei rüber, der das Binnen-I | |
wichtiger war als Energiesicherheit und Arbeitsplätze. | |
## Zentraler Player einer umweltbewussten Gesellschaft | |
Werner Kogler, der die Konkursmasse 2017 übernahm, ist es zu danken, dass | |
heute 40 Prozent der Befragten eine grüne Regierungsbeteiligung begrüßen. | |
Gemeinsam mit der von Fridays for Future ausgelösten Klimadiskussion hatte | |
seine energische Hand die Partei zum zentralen Player in einer zunehmend | |
umweltbewussten Gesellschaft gemacht. | |
Kein grüner Parteichef und keine Chefin hatte so viel Autorität wie der | |
studierte Umweltökonom aus der Steiermark, der monatelang mit | |
abgesprungenen Grün-Wählern den Dialog pflegte und sich geduldig die immer | |
gleichen Kritiken anhörte. Das Ergebnis war ein Rekordresultat von fast 14 | |
Prozent der gültigen Stimmen und der Wiedereinzug mit neuem Team und neuer | |
Stärke. | |
Ob die Zusammenarbeit mit einer so zutiefst konservativen Partei wie der | |
ÖVP auf Dauer funktionieren kann, bleibt abzuwarten. Immerhin hat Sebastian | |
Kurz 200.000 Stimmen von FPÖ-Wählern zu verteidigen, die ihn als Garanten | |
für rechte Ausländerpolitik sehen. Noch am Wahltag, dem 29. September, | |
hatte sich nur ein Fünftel der ÖVP-Anhängerschaft eine Paarung mit den | |
Grünen gewünscht, und gerade ein Drittel der grünen Basis konnte sich ein | |
Bündnis mit der ÖVP vorstellen, obwohl diese der einzig mögliche Partner | |
für eine Regierungsbeteiligung war. | |
## Liebgewonnene Vorurteile | |
Während die Grünen in den urbanen Bezirken Wiens und größeren Städten wie | |
Graz oder Innsbruck florieren, haben die Christlichsozialen ihre Hochburgen | |
in den Kleinstädten und Dörfern, wo liebgewonnene Vorurteile gegen „grüne | |
Chaoten“ noch gern gepflegt werden. | |
Unter den Rentnern hat die ÖVP eine absolute Mehrheit. Dürfte nur die | |
Generation unter 30 mit höherer Bildung wählen, könnten die Grünen eine | |
Alleinregierung aufstellen. Die inhaltliche Schnittmenge der künftigen | |
Regierungspartner wurde zu Beginn der Verhandlungen mit 20 Prozent | |
berechnet. Kaum eine solide Grundlage für ein harmonisches Zusammenwirken | |
über eine fünfjährige Regierungsperiode. | |
Dazu kommt die gegensätzliche politische Kultur. Bei der ÖVP hat sich | |
Sebastian Kurz vor seiner Wahl zum Parteichef vor fast drei Jahren volles | |
Durchgriffsrecht zusichern lassen. Er kann nicht nur Kabinettsmitglieder | |
nach Gutdünken berufen, sondern auch die Kandidatenlisten für den | |
Nationalrat frei bestimmen. Wenn er das Regierungsübereinkommen den Gremien | |
vorlegt, hat das Formalcharakter. | |
Die Grünen ihrerseits müssen den mehr als 270-köpfigen Bundeskongress | |
überzeugen, der am Samstag in Salzburg zusammentritt. Schon jetzt werden | |
Stimmen laut, es sei eine Zumutung, über ein Dokument von kolportiert 300 | |
Seiten zu befinden, das keine zwei Tage vorher erst bekannt wird. Zwar gilt | |
die Zustimmung als sicher, doch wäre, so der im Fernsehen omnipräsente | |
Politologe Peter Filzmaier, jedes Ergebnis unter 70 Prozent eine Belastung | |
für Werner Kogler. | |
Es ist bekannt, dass sich in Berlin viele diese Regierung in Österreich | |
gewünscht haben. Ob die deutschen Grünen und Unionsparteien aber Appetit | |
auf ein ähnliches Experiment bekommen, wird davon abhängen, wie konstruktiv | |
und harmonisch die ungleiche Paarung in Wien funktioniert. | |
2 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-Koalition-in-Oesterreich/!5653270 | |
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[4] /Alexander-Van-der-Bellen/!5363165 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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