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# taz.de -- Todesstrafe in den USA: Ein Kreislauf der Gewalt
> Stephen West wurde zum Tode verurteilt und im Jahr 2019 in Tennessee
> hingerichtet. Er war ein Mörder. Und er war psychisch krank.
Bild: Der junge Steve West 1987 mit seinem Anwalt
Nashville taz | Einen Menschen an einen Stuhl zu fesseln und so lange
Stromstöße durch seinen Körper zu jagen, bis er stirbt, erfordert vor allem
eines: Bürokratie. Das Elektrokutionsprotokoll des Bundesstaates Tennessee
umfasst 93 Seiten. Darin steht jedes Detail: Wer anwesend sein muss
(Gefängnisdirektor, Kaplan, Arzt); wie viele Briefe der Häftling noch
schreiben darf (erlaubt sind 12 Blätter Papier, 3 frankierte Umschläge, 3
Bleistifte); welche Kabel wann in welche Kästen gesteckt werden und wer die
Kochsalzlösung anrührt, um Naturschwämme damit zu tränken und sie zwischen
Haut und Elektroden zu schieben.
Im Jahr 2019 wurden in den Vereinigten Staaten 22 als Mörder Verurteilte
hingerichtet. 20 von ihnen starben durch die Giftspritze. Stephen Michael
West zögerte bis zum Abend vor seiner Hinrichtung, dann wählte er [1][den
elektrischen Stuhl].
Wer war dieser Mann? Ein brutaler Gewalttäter, lautet eine korrekte
Antwort. Ein in einem ungerechten Prozess verurteilter
Schwersttraumatisierter, so lautet eine andere, genauso wahr.
Diese beiden Wahrheiten finden sich auch in Dokumenten und Gutachten aus
verschiedenen Phasen von Wests Berufungsprozess, die von einem unsagbar
grausigen Tötungsdelikt zeugen, aber auch davon erzählen, wie physischer
und psychischer Missbrauch in der Kindheit einen Menschen daran hindern,
jemals richtig Mensch zu werden.
## Der Fall stellt die Systemfrage
Man erfährt sie auch, wenn man mit Wests Anwalt spricht, mit dem letzten
Hinterbliebenen der Opfer und mit dem Staatsanwalt, der damals ermittelte.
Es gibt eidesstattliche Aussagen von Wests Geschwistern und von seinem
Vater, und es gibt die heimliche Aufzeichnung eines Gesprächs, in dem ein
anderer gegenüber einem Mithäftling den Mord gesteht, für den Stephen
Michael West zum Tode verurteilt wurde.
In seiner Widersprüchlichkeit stellt der Fall West die Systemfrage: Was ist
das eigentlich für ein Rechtsstaat, der sich von Emotionen wie Rache und
Vergebung leiten lässt? Gleiches mit Gleichem zu vergelten – kann es jemals
so einfach sein?
Die Gewalt, die Stephen Michael Wests Leben bis zu seinem letzten Atemzug
prägen wird, setzt mit seiner Geburt 1962 in einer psychiatrischen Anstalt
ein. Seine Mutter hatte während der Schwangerschaft versucht, sich mit Gas
aus dem Küchenofen das Leben zu nehmen.
Laut eidesstattlichen Aussagen seiner älteren Schwester Debbie wird das
Neugeborene brutal misshandelt, sobald es nach Hause kommt. „Wenn er
weinte, wurde er an einem Arm und einem Bein hochgehoben und gegen die Wand
gehauen, damit er aufhörte. Wenn unser anderer Bruder etwas falsch machte,
bekam Steve die Schläge dafür.“ Schläge mit Fäusten, Gürteln, Besen. Ein…
bekommt Steve einen so heftigen Hieb, dass er zu schielen beginnt.
## Eine Kindheit wie ein Albtraum
Der Vater Vestor ist ein gewalttätiger Alkoholiker. Aber die Grausamkeit
der Mutter kennt keine Grenzen. Wanda West ist tablettenabhängig, bekommt
sie mal keine, dann ist es, als sei „Satan zurück aus der Hölle gekommen“,
gibt Bruder Teddy später zu Protokoll. Keines der Kinder kann sich laut der
Aussagen, die sie für spätere Gnadenersuche ihres Bruders gemacht haben,
daran erinnern, dass Wanda Steve jemals gehalten oder gefüttert hätte.
Sie schmuggeln Babyfläschchen mit verdünntem Ketchup in das dunkle
Hinterzimmer, in dem er auf einer uringetränkten Matratze liegt, und
bekommen dafür Schläge. Manchmal, erzählen sie später, müssen sie draußen
im Schnee stehen und dürfen erst bei Einbruch der Dunkelheit ins Haus,
während Wanda sich einen Vierjährigen aus der Nachbarschaft ins Haus holt,
ihm zu essen gibt und ihn fernsehen lässt.
Alle West-Kinder werden verprügelt und vernachlässigt, aber Wanda hasst
Steve besonders. Es gibt eine bestimmte Hierarchie: Erst isst die Familie,
dann essen die Hunde, und dann bekommt Steve, was übrig geblieben ist.
Aber er protestiert nicht. Er schlägt auch nicht zurück. „Sehr, sehr
passiv“ sei er gewesen, sagt seine Schwester Patty darüber später. „Er hat
alles eingesteckt, egal wer es ihm angetan hat.“
Als Stephen Michael West schließlich austeilt, ist er längst erwachsen, und
es trifft ausgerechnet jemanden, der ihm überhaupt nichts getan hat. Eine
Frau, die mit seiner Mutter nichts gemein hat als den Vornamen. Die eine
Wanda quälte ihn, die andere quälte er.
Das führt zu diesem 15. August 2019, einem sogar für Südstaatenverhältnisse
ungewöhnlich heißen Tag. In Knoxville, East Tennessee, ist es schon kurz
nach sieben Uhr, im drei Autostunden und eine Zeitzone entfernten
Nashville hat Stephen Michael West jetzt noch knapp eine Stunde zu leben.
Am Abend vorher haben die Lokalmedien gemeldet, West habe ein
Käse-Steak-Sandwich und Pommes als letztes Mahl gewählt.
Rund um einen kleinen Park im Zentrum Knoxvilles sitzen Obdachlose zwischen
Einkaufswagen, lauschen den Grillen und Motorrädern und bestaunen die
Männer und Frauen, die mitten auf der Wiese einen Kreis bilden, als wollten
sie ein feierliches Ritual abhalten. In gewisser Weise tun sie das auch.
„Wir kommen zusammen als Menschen, die die Gewalt in der Welt bekümmert.“
Ralph Hutchison führt das Wort, ein freundlicher älterer Mann mit Vollbart
und Gandhi-T-Shirt, der hauptberuflich Umweltaktivist ist.
Seit 2000, als der Bundesstaat Tennessee die Hinrichtungen nach 40-jähriger
Pause wiederaufnahm, veranstalten Hutchison und die anderen am Tag jeder
Hinrichtung eine solche Mahnwache; sie beten und singen und sprechen Leute
an, es ihnen gleichzutun. Oder besser gesagt: Sie versuchen es. Heute sind
immerhin zwölf Leute da, „ist ja auch schönes Wetter“, sagt der Fotograf
der Lokalzeitung, der Reporter ist erst gar nicht gekommen.
## Schwindendes Mitgefühl
Studien ergaben, dass weniger als die Hälfte der Amerikaner*innen die
Todesstrafe gutheißt. Aber nur ein Bruchteil der Gegner*innen geht auch
aktiv dagegen vor. Die Passanten, die stehen bleiben, sie haben gar nicht
mitbekommen, dass heute jemand hingerichtet werden soll.
Dass ein Mann mit psychischer Erkrankung hingerichtet wird, finden sie erst
einmal schlimm. Hören sie aber vom Hergang des Verbrechens, an dem er
beteiligt war, schwindet ihr Mitgefühl rapide – obwohl sie allesamt, wie
sie sagen, eigentlich gegen die Todesstrafe seien.
Am Morgen des 17. März 1986 ist es noch dunkel, als zwei junge Männer an
das kleine blassgelbe Haus der Familie Romines klopfen, hoch oben in der
grün behügelten Einsamkeit East Tennessees. Jack, der Vater, ist schon auf
dem Weg zur Arbeit. Nur Wanda, Mutter von fünf Kindern, und ihre jüngste
Tochter Sheila, 15 Jahre alt, sind zu Hause.
Sheila kennt einen der beiden Besucher aus der Schule: Ronnie Martin, einen
blassen, teigigen Siebzehnjährigen mit Posaunenengelfrisur. Ronnies
Begleiter Stephen Michael West, genannt Steve, ist größer und älter als er,
schlank und schnauzbärtig, ein flüchtiger Bekannter von der Arbeit bei
McDonald’s. Sie haben sich in den vergangenen Morgenstunden nach ihrer
Schicht zugeknallt, so gut es eben geht hier oben am südlichen Rand der
Appalachen, in Union County, wo auch heute noch kein harter Alkohol
verkauft werden darf.
## 32 Jahre in der Todeszelle
Wanda Romines und ihre Tochter sterben noch an diesem Morgen, übersät von
Dutzenden Messerstichen. Der Gerichtsmediziner wird später zu Protokoll
geben, dass die meisten ihrer Wunden nicht tief waren, sondern auffallend
oberflächlich. Flüchtige Stiche und Schnitte, vielleicht am Anfang nur
einer, zwei, dann immer mehr. Beiläufig zugefügt, wie zum Vergnügen.
„Typische Folterwunden“, steht in den Akten. Und Sheila wurde vergewaltigt.
Stephen West stirbt durch wiederholte Stromstöße von 1.750 Volt, nachdem er
32 Jahre in der Todeszelle verbracht hat.
In der Logik des US-amerikanischen Rechtssystems ist die Schuld an allen
drei Toden an ein und derselben Stelle zu suchen: Wer getötet hat, hat es
verdient, getötet zu werden. West wird von einem Geschworenengericht des
zweifachen Mordes, der Vergewaltigung und Freiheitsberaubung schuldig
befunden und zum Tode verurteilt. Ronnie Martin bekommt „lebenslänglich“,
er war zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig.
Für Wests Verteidiger und seine UnterstützerInnen ist es komplizierter.
Warum erzählte Ronnie Martin später einem Mithäftling, dass nicht West,
sondern er selbst die tödlichen Stiche ausgeführt habe? Welche Rolle spielt
die Misshandlung Wests als Kind? Welche die Tatsache, dass er mutmaßlich
schon zum Tatzeitpunkt unter einer schweren – und unbehandelten –
psychischen Störung litt?
## Die Misshandlung kommt ans Licht
Die Jury, die Stephen West zum Tode verurteilt, erfährt nichts von den
Schlägen und dem Hunger und auch nichts von den vermutlich schon 1986
daraus resultierenden gravierenden psychischen Störungen – weil die
Verteidigung nichts davon einbringt. Wieder ist es die Mutter, die Steve
bestraft.
Sie bezahlt einen Anwalt für ihren Sohn, der ihn im Mordprozess verteidigen
soll. Richard McConnell, so heißt dieser Verteidiger, führt ein Vorgespräch
mit den Eltern, in dessen Verlauf die Sprache auf Stephen Wests geistige
Verfassung kommt und Wanda ihm mit sofortiger Kündigung droht, sollte er
Zeugen aufrufen, die über etwaige Misshandlungen in der Kindheit sprechen
könnten.
Erst 1998, nach 11 Jahren im Gefängnis, als Stephen West durch verschiedene
Instanzen erneut Berufung gegen sein Todesurteil einlegt – und
schlussendlich nur einen zeitlichen Aufschub erreicht –, gibt der Vater
eine eidesstattliche Erklärung ab. Darin schildert er nicht nur das
Gespräch mit dem Anwalt von 1986, sondern auch das, was in Wests Kindheit
geschah: „Wir haben ihn mit bloßen Händen geschlagen, mit Stöcken, Flaschen
oder dem, was gerade zur Hand war.
Es gab immer Misshandlungen. Ich hätte das auch vor Gericht ausgesagt, aber
Mr. McConnell ließ mich nicht.“ Der Anwalt habe sich auf Druck Wanda Wests
geweigert, mit ihm zu sprechen. Ähnliches geben die Geschwister zu
Protokoll. Aber diese Aussagen ändern nichts.
1986 hat sich Stephen West in Widersprüche verstrickt. Während die Suche
nach den Tätern läuft, schiebt er seine Schicht bei McDonald’s, als sei
nichts geschehen, was vonseiten der Staatsanwaltschaft als Zeichen
besonderer Kaltblütigkeit gewertet wird. Als er einen Tag später gefasst
wird, erklärt er zuerst, die Frauen seien wohlauf gewesen, als er das Haus
verlassen habe.
Wenig später gibt er zu, bei den Folterungen dabei gewesen zu sein,
schließlich gesteht er auch die Vergewaltigung Sheilas. Auf zwei Punkten
aber beharrt er: Ronnie Martin habe die beiden Frauen schließlich getötet –
und Ronnie habe ihn, West, mit einer Schusswaffe bedroht. Aus Angst also
habe er mitgemacht, aus Angst habe er Martin nicht an dem Mord gehindert.
„Ich könnte nicht mal einen Fisch ausnehmen“, wird er in den Gerichtsakten
zitiert.
Die Jury glaubt ihm nicht. Und weil sie nichts von seiner Vorgeschichte
erfährt, zieht sie auch nicht in Betracht, dass sein von mehreren an dem
Prozess Teilnehmenden beschriebenes Zittern, seine mäandernden Aussagen
über die Tat nicht etwa Kalkül, sondern Ausdruck einer ernsthaften
Erkrankung sein könnten.
Jahre später werden mehrere medizinische Gutachter Stephen West eine
schwere schizoaffektive Störung bescheinigen, die, so heißt es in einem der
Gutachten, „mindestens bis ins Jugendalter“ zurückreiche. Sie vermuten,
dass deren Entwicklung mit Hirnschäden infolge physischer Gewalt in Wests
Kindheit zusammenhängt. Zu den Symptomen gehören Halluzinationen, Paranoia,
manisch-depressive Schübe und das Hören von Stimmen. Bis zuletzt wird West
mit starken Medikamenten behandelt.
## Keine Hoffnung auf Gnade
Hätte so jemand zum Tode verurteilt werden dürfen? Aus europäischer
Perspektive klingt die Frage seltsam. Aber das US-amerikanische
Rechtssystem funktioniert nach diesem Prinzip: Es ist grundsätzlich
gerecht, mit dem Tod zu strafen – bei einigen mehr als bei anderen. So
sieht die Verfassung eine Ausnahme für Menschen mit geistiger Behinderung
vor.
Aber darunter fällt Stephen Michael West nicht, und die besondere
Brutalität seines Verbrechens macht die Hoffnung auf Gnade umso geringer.
Eine Reform des capital punishment scheint unter Donald Trump, der einem
Whistleblower kürzlich unverhohlen mit der Todesstrafe drohte und dessen
Justizminister kurz davor bekannt gegeben hatte, bald wieder
[2][Hinrichtungen auf Bundesebene] durchführen zu wollen, ferner denn je.
Lässt man sich auf die Logik ein, dass es grundsätzlich okay sei, als
strafrechtliche Maßnahme das Leben eines anderen Menschen zu beenden, so
stößt man in diesem Fall trotzdem an ihre Grenzen. Denn die Antworten auf
die Frage, ob das Todesurteil über Stephen Michael West richtig war,
könnten unterschiedlicher nicht ausfallen. Je nachdem, wen man fragt.
Da ist Stephen Ferrell, Wests letzter Verteidiger, der ihn in den letzten
15 Jahren vertrat und bis zum Ende versuchte, geltend zu machen, dass West
bei dem grausamen Verbrechen zwar zugegen war, die Frauen aber nicht
getötet habe. Er sagt: „Steve hat sich Gedanken gemacht über andere. Er war
kein Soziopath, er hatte eindeutig Empathie. Für mich passt das nicht zu
einem kaltblütigen Mord.“
Da ist Sarah McGee von der Tennessean Alliance for the Severe Mental
Illness Exclusion, kurz TASMIE, einer gemeinnützigen Organisation, die sich
dafür einsetzt, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen von der
Todesstrafe ausgenommen werden. Für sie ist Stephen West ein Beispiel für
das, was nicht passieren sollte und dennoch viel zu häufig passiert.
„Jemand, der psychisch krank ist, hat es in der Strafgerichtsbarkeit oft
automatisch schwerer“, sagt McGee.
Da ist aber auch Eddie Campbell, ein entfernter Verwandter des 2008
verstorbenen Jack Romines, Ehemann und Vater der Getöteten, der die Familie
offiziell vertritt. „Ich denke, er lügt“, sagt er über West zwei Tage vor
dessen Hinrichtung schwer atmend ins Telefon. Eigentlich, sagt er weiter,
habe er gegenüber der Todesstrafe gemischte Gefühle. In diesem Fall bedaure
er nur, dass es 33 Jahre gedauert habe, bis West seine gerechte Strafe
bekomme. „Jack hat nie mehr Gerechtigkeit für Wanda und Sheila erfahren.
Aber ich hab ihm versprochen, dass ich dranbleibe.“
Und da ist William Paul Phillips, der damals der ermittelnde Staatsanwalt
von Union County war und noch heute aufbrausend wird, wenn man ihn nach
Wests Schuldfähigkeit fragt. „Ich glaube noch immer kein Wort von diesen
Geschichten“, sagt er im breiten Akzent der Appalachen. „Man musste ihn nur
ansehen. Ronnie Martin war klein und schmächtig. West groß und kräftig.“
Phillips war der Staatsanwalt, der West und Martin damals angeklagt hat. Im
Laufe des Telefonats mit der taz wiederholt er diesen Hinweis auf Wests
Äußeres noch zweimal, als sei es das stärkste Indiz für dessen Schuld.
Hat Stephen West gelogen, als er sich als von Panik getriebenen Mitläufer
schilderte? Oder musste er wirklich Angst vor Ronnie Martin haben?
Tatsächlich wird später eine Pistole in einem Gully gefunden, die offenbar
an jenem Morgen aus dem Haus entwendet worden war.
## Brieffreunde beschreiben West als „respektvoll“
Doch Wests Beteuerungen, Martin habe ihn unter Druck gesetzt, werden ihm
letztlich erst recht zum Verhängnis. Es zeuge von „Feigheit“, dass er, der
körperlich Überlegene, Martin habe gewähren lassen, heißt es im Plädoyer
eines Richters am Tennessee Supreme Court in Nashville, der 1989 Wests
Antrag auf Wiederaufnahme seines Verfahrens ablehnt. Als könnte man durch
körperliche Überlegenheit etwas gegen eine Schusswaffe ausrichten.
Im Grunde ist es aber unerheblich, ob West die tödlichen Stiche ausgeführt
hat oder nicht. Es genügt, dass er sie nicht verhindert hat. In Tennessee
gibt es die Regelung, dass, wenn der Straftatbestand des sogenannten felony
murder vorliegt – eines schweren Tötungsdelikts im Rahmen eines
Raubüberfalls oder einer Vergewaltigung –, die Komplizen eines Mörders die
gleiche Strafe wie dieser bekommen können.
„Der Angeklagte war fraglos maßgeblich an dem Überfall, der Vergewaltigung
und den Morden beteiligt“, schreibt der Tennessee Surpreme Court 1989 über
West. „Sein Geisteszustand ist der einer rücksichtslosen Gleichgültigkeit
gegen den Wert des menschlichen Lebens.“
In dem Flyer, den Ralph Hutchison bei der Mahnwache verteilt hat, wird ein
regelmäßiger Besucher des Todestrakts zitiert: „Stephen liebte es, Blumen
zu zeichnen. Dabei hat er seit 32 Jahren keine Blume mehr berührt.“ Das
Gnadengesuch, das Anwalt Ferrell und seine Kollegen noch wenige Wochen vor
der geplanten Hinrichtung an den Gouverneur von Tennessee schickten,
beschreibt, wie West nach dem Verbrechen zu Gott gefunden habe.
Brieffreunde beschreiben West darin als „respektvoll“ und „weise“.
Die Arbeit, die in diesem 28-seitigen Bittbrief steckt, ist nicht nur ein
letztes Aufbäumen von Wests Unterstützerinnen und Unterstützern, die
jahrzehntelang gegen das Urteil gekämpft haben. Sie zeigt auch, wie sehr
das US-Rechtssystem von Moral und gefühlter Richtigkeit geprägt ist.
Es wirkt beinahe wie ein Ablasshandel: In der einen Waagschale liegen die
Grausamkeit des Verbrechens und der Schmerz der Hinterbliebenen. In der
anderen die Erfahrung von Gewalt und die Krankheit des Täters, aber auch
sein Weg zum Glauben, der hier in den gläubigen Südstaaten genauso Argument
ist wie belegbare Fakten – vielleicht sogar das erfolgversprechendste.
Der Gouverneur hat das Gesuch dennoch abgelehnt. Wie all die anderen
Berufungsverfahren, Petitionen, Briefe Wests in den Jahrzehnten davor blieb
auch dieser Versuch erfolglos. Gewundert hat das niemanden. Nur zu leicht
ist es ja, sich der moralischen Komplexität des Falles zu verweigern.
Am Freitag, dem 16. August, Stephen Michael West ist seit gut 20 Stunden
tot, sitzt Stephen Ferrell auf seinem Sofa in einem der endlosen
Villenvororte von Knoxville. Der Anwalt trägt ein blau gestreiftes Polohemd
und sportliche Shorts. Seit 25 Jahren vertritt er ausschließlich
Todeskandidaten als Pflichtverteidiger. „Mit Steve konnte man so ziemlich
über alles reden“, sagt er.
## Abschied via Telefon
„Über den Fall, klar, aber auch über das Leben, über meine Familie. Einmal
ärgerte ich mich, weil mein Computer mich nicht auf eine Datei klicken
ließ, und er fragte: Klicken? Was ist denn das? Da wurde mir klar: Er hatte
noch nie einen Computer gesehen. Er hatte keine Ahnung, was ich da tat. Das
hat mir das Herz gebrochen.“
Die Frage, wie sehr er von Wests Unschuld überzeugt ist, will er nicht
endgültig beantworten. Aber er möchte erzählen, mit wem Stephen West
zuletzt gesprochen hat: mit seinem Team, zehn Leuten, einer nach dem
anderen kam ans Telefon, um sich zu verabschieden. „Steve hatte Spitznamen
für jeden von ihnen. Meistens hatten diese Namen einen Bezug zu der Stimme
der Person, denn obwohl er seit Jahren regelmäßig mit den Leuten
telefonierte, hatte er ja keine Ahnung, wie sie aussehen. Aber trotzdem
wurden sie Teil seines Lebens. Und er Teil des ihren.“
Der Hinrichtung selbst ist Ferrell ferngeblieben. Aber Eddie Campbell, der
Hinterbliebene der Opfer, hat Stephen West beim Sterben zugesehen. „Ich hab
ihm schon lange vergeben“, sagt er über West. „Jack hat das nie gekonnt,
aber ich glaube, das ist es, was Gott von uns verlangt.
Stephen Michael West wird am 15. August 2019 um 19.27 Uhr Ortszeit für tot
erklärt. Seine letzten Worte spricht er laut Augenzeugen unter Schluchzen:
„Am Anfang schuf Gott den Menschen. Und Jesus weinte. Das war’s.“
31 Dec 2019
## LINKS
[1] /Todesstrafe-im-Bundesstaat-Tennessee/!5547713/
[2] /Hinrichtungen-in-den-USA/!5609107/
## AUTOREN
Johanna Roth
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Todesstrafe
Mörder
USA
USA
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
USA
Kolumne Der rote Faden
Schwerpunkt Rassismus
Saudi-Arabien
Schwerpunkt Rassismus
Kolumne Macht
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