# taz.de -- Die Wahrheit: Therapie mit roter Linie | |
> Der Weihnachtsmann auf der Couch. Woher hat er nur seinen Knacks weg? Und | |
> was hat der Osterhase damit zu tun? Die Wahrheit-Weihnachtsgeschichte. | |
Bild: Irgendwann muss selbst der Weihnachtsmann zum Psychiater | |
Der Patient war ekelhaft. Das überstrapazierte Schlagwort vom alten weißen | |
Mann, das einem normalerweise bei jeder weiteren Erwähnung nur noch die | |
Tränen des Überdrusses und der Fremdscham in die Augen trieb, passte | |
plötzlich wieder wie die Faust aufs Auge: der feuerrote Mantel des ewigen | |
Berufsjugendlichen; das völlige Verkennen, wer und wie er war, und vor | |
allem auf andere wirkte; die unangebrachte Hybris. | |
Als er dann auch noch im Duktus des altersgeilen Blenders von den „heftigen | |
Avancen“ des Christkinds nach einem gemeinsamen Barbesuch fabulierte, wand | |
sich Dipl.-Psych. Friedrich Mutschler, als hätte man ihm ein Wiesel in den | |
Kragen geschoben. Doch rasch erlangte er seine professionelle Distanz | |
zurück. Schließlich war es im Dienste der Allgemeinheit wichtig, dass diese | |
tickende Zeitbombe aus faulendem Menschenfleisch unter Beobachtung blieb. | |
„Wer hat mich Ihnen eigentlich empfohlen?“, fragte er stattdessen. Auf die | |
Wahrheit war er nicht gespannt, sondern auf die Lüge. Die würde ihm weit | |
mehr über die Psyche des Weihnachtsmanns verraten. | |
„Ein Bekannter: der Osterhase. Sie erinnern sich bestimmt: Felljacke, | |
Johnny-Depp-Schnurrbart und Ohren wie ein Segelflieger. Das kennt man ja, | |
wie so ein Außenseiter auf Mobbing reagiert: Die einen latschen mit | |
brüllendem Ghettoblaster durch den Park, die anderen werden Comedian, | |
Nazischläger oder eben Osterhase. Frei nach dem Motto: Ihr seid schuld, | |
dass ich so scheiße bin, und jetzt bin ich auch noch stolz drauf.“ | |
„Der Osterhase. Ja, ich erinnere mich an Ihren Freund.“ Der Therapeut | |
spielte das falsche Spiel mit. „Das war der mit dem ‚Hide & Hop Syndrome‘… | |
## Psychos in Betroffenenforen | |
Wie kamen die bloß alle darauf? Der legendäre Osterhase hatte seine Praxis | |
nie betreten. Nach jener schauderhaften Sache mit der Kreissäge war das | |
Einzige, was von ihm und seinem Namen blieb, eine allseits bekannte | |
Fallstudie in der forensischen Fachliteratur. Trotzdem kam ihm hier | |
weiterhin jeder Zweite mit der angeblichen Empfehlung. Wahrscheinlich | |
tauschten sich die ganzen Psychos in Betroffenenforen aus: | |
„Weihnachtsmänner“, „Nikoläuse“ und andere Incels versorgten einander… | |
Insiderwissen; die irrsten Freaks wurden dort abgefeiert wie Stars. Der | |
Manson-Effekt war eine Katastrophe für seinen Berufsstand, und das Internet | |
war der Teufel. | |
Warum konnten die nicht einfach zugeben, dass sie seine Adresse von | |
Plattformen wie Yelp oder Jameda hatten. Das war doch keine Schande. Aber | |
egal, woran die Kranken jeweils litten – pathologisches Lügen passte bei | |
den meisten als Nebendiagnose. | |
„Genau der! Freundschaft kann man allerdings nicht mehr dazu sagen. Wenn du | |
an jedem Heiligabend erst mal wie ein Volldepp Schlitten, Gabensack und | |
sämtliche Klamotten suchen darfst, belastet das auf Dauer jedes Verhältnis. | |
Wirklich wahnsinnig witzig. Den Rasierapparat habe ich bis heute nicht | |
wiedergefunden.“ Mit nikotingelben Fingern befummelte der Patient seinen | |
ungepflegten, weißen Bart. | |
„Verstehe“, murmelte Mutschler und machte sich Notizen. Das war nicht | |
ungewöhnlich: Viele, deren seelischer Zustand Körperpflege oder saubere | |
Kleidung nicht mehr zuließ, bewahrten dennoch so viel Schamgefühl, dass sie | |
bizarre Ausreden für ihr vernachlässigtes Äußeres erfanden. „Osterh.“, | |
kritzelte Mutschler auf den Zettel, „Ras.app. verst.“ und „n. gef.“ | |
Schüttelte den Kopf. Strich alles wieder durch. | |
## Demütigung durch Gedichte | |
„Reden wir doch über den Gabensack.“ Er wechselte das Thema. „Die | |
Zusammenhänge haben wir ja bereits in der vorigen Sitzung angerissen. | |
Implizit zwingen Sie also dort, wo Sie – unterbrechen Sie mich ruhig, wenn | |
ich etwas falsch verstanden habe – de facto einbrechen, die Kinder dazu, | |
‚Gedichte‘ aufzusagen. Warum? Was haben die Ihnen denn getan? Haben Sie nur | |
mal eine Sekunde lang darüber nachgedacht, wie die sich dabei fühlen? | |
Geschenke können diese Demütigung doch überhaupt nicht kompensieren. Eher | |
vertiefen sie noch das Bewusstsein völliger Machtlosigkeit. Und wieso | |
lassen die Eltern das zu?“ | |
Wie erwartet ging der Weihnachtsmann mit keiner Silbe auf die Fragen ein. | |
Stattdessen laberte er weiter über den Osterhasen. „Bei Ihnen hat er | |
überhaupt erst angefangen, an seinem Grundtrauma zu arbeiten. Die Mutter | |
vor seinen Augen auf freiem Feld mit der Schrotflinte erschossen, in der | |
Folge klassische Borderline-Symptomatik wie Sexsucht, Drogenabhängigkeit | |
und am Ende das zwanghafte Verstecken von Eiern als übertragene Negation | |
seiner Männlichkeit, ja, in letzter Konsequenz auch ein Verbergen vor sich | |
selbst …“ | |
„Na, na.“ Mutschler lächelte schmallippig. „Wer ist denn von uns beiden | |
hier der Therapeut?“ Am anstrengendsten waren immer diese neunmalklugen | |
Patienten, die begierig nach jedem irgendwo zwischen Klapsmühle und | |
ambulanter Nachsorge aufgeschnappten Versatzstück der Küchenpsychologie | |
griffen, um es auf sich und andere anzuwenden. Oft war es der Typus | |
therapieresistenter Akademiker, der sich ihm, dem Fachmann, stets um eine | |
Nasenlänge voraus wähnte. | |
„Ich weiß.“ Der Weihnachtsmann keckerte. „Am unbequemsten sind für Sie | |
immer die Patienten mit einschlägigem Vorwissen. Die lassen sich nämlich | |
nicht so leicht ein X für ein U vormachen.“ | |
## Schornsteinfetisch als Kernproblem | |
Mutschler seufzte genervt. „Konzentrieren wir uns doch wieder auf Ihr | |
Kernproblem.“ Die massiv gestörte Sexualität des Weihnachtsmanns | |
kulminierte in dem ausgeprägten Schornsteinfetisch. Denn bei ihm wuchs sich | |
der in seiner Altersklasse gern gepflegte Penetrationsmythos auch noch zur | |
phallokratischen Allmachtsfantasie eines quasigöttlichen Zwitterwesens aus. | |
Stumpfsinnig und mechanisch fuhr er in den engen Schornstein ein und kam im | |
Kamin wieder heraus, so dass er sich in einem manischen, aggressiven Akt an | |
nur einem Weihnachtsabend wohl an die tausendmal symbolisch selber zeugte | |
und gebar: Vater, Mutter, Sohn und Weihnachtsmann in einem. Rein, raus, | |
rein, raus – das war alles, was er kannte. Zärtlichkeit, Zugewandtheit oder | |
Empathie waren im Jugendwerkhof Himmelpfort nie vermittelt worden. | |
Das Opfer war zum Täter geworden; typisch für Patienten, deren Therapie | |
Bestandteil der Bewährungsauflagen war. Die erlernten Gewaltmuster | |
reproduzierte er im Umgang mit den Engeln, die er zugleich begehrte und | |
verachtete, und den Rentieren, von denen er systematisch die neugeborenen | |
Weibchen schredderte. | |
Eine Kontaktsperre gegenüber Kindern sowie ein absolutes Tierhaltungsverbot | |
wäre dringend angezeigt. Die Schweigepflicht war Friedrich Mutschler an | |
sich heilig, doch sobald eine rote Linie überschritten wäre, würde er | |
persönlich dafür sorgen, dass die Behörden einen anonymen Tipp erhielten. | |
25 Dec 2019 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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