# taz.de -- Die Wahrheit: Zeugen des Scheiterns | |
> Am Berliner Pannenflughafen BER beginnt jetzt mit 20.000 | |
> Versuchskaninchen der Probelauf vor der Eröffnung im Oktober. Wenn das | |
> mal gut geht! | |
Bild: Sie haben noch ein paar Koffer in Berlin: BER-Probe | |
Nach acht Jahren ist es endlich wieder so weit: Die Hoffnung auf eine | |
tatsächliche Eröffnung des Berliner Großflughafens im Oktober ist derart | |
groß, dass zum zweiten Mal nach 2012 Komparsen für den Probebetrieb gesucht | |
werden. „Die BER-Eröffnung lässt sich kaum noch verhindern“, titelt Die | |
Welt mit sauertöpfischer Halbironie, und zwanzigtausend Fluggastdarsteller | |
machen sich mit Galgenhumor und Neugier im Gepäck auf den Weg nach | |
Schönefeld, zur längsten Baustelle seit der Chinesischen Mauer. | |
Auf Günter Wallraffs Spuren habe auch ich mich gemeldet, um die Beteiligten | |
an diesem Moment des Aufbruchs zu befragen, ehe die Stimmung spätestens am | |
31. Oktober 2020 wieder in abgrundtiefe Enttäuschung kippt. Denn der BER | |
wird niemals eröffnen. Eher steigt der Heiland zu uns herab und verteilt | |
acht Milliarden Tüten Gummibärchen. | |
Als Premium-Komparsen besonders begehrt sind Bahnkunden. Malheurgestählt, | |
beschwerdefreudig und aggressiv wie Bären, die man mit einer Schrotladung | |
in den Arsch aus dem Winterschlaf geweckt und anschließend mit einer | |
kurzfristigen Gleisänderung für ihre Reiseverbindung konfrontiert hat. Sie | |
werden bevorzugt am Informationsschalter eingesetzt. Jetzt gerade testen | |
sie die Stabilität des Infotresens, indem die Menge wegen eines simulierten | |
Flugausfalls wie eine Atlantikwelle brüllend dagegenschwappt. Das Material | |
hält. Die Prüfer machen ein Häkchen. | |
Auch „Besorgte Bürger“ sind beliebte Testpersonen. Die | |
Flughafengesellschaft hat jeden von ihnen mit einem fetten schwarzen Edding | |
ausgestattet. Ihre Anspruchshaltung bei gleichzeitiger Opferpose | |
prädestiniert sie zur kleinteiligen Verzierung der Unisex-Toiletten, ebenso | |
wie zum Drängeln an den Bierverkaufsständen. Eingestreute Schlägereien | |
dienen dazu, den Sicherheitsdienst anzuwärmen. Und siehe da: Die Jungs sind | |
gut auf Trab. | |
## Das Weg ist das Ziel | |
Für die „stichprobenartigen“ Einreisekontrollen werden Statisten mit | |
sichtbarem Migrationshintergrund bevorzugt. „Ich muss so tun, als ob ich | |
kein Deutsch verstehe“, erklärt Serkan Cengiz (28). „Daraufhin werde ich | |
angebrüllt, in einen Nebenraum geführt, und dort noch weiter angebrüllt.“ | |
Anschließend, so der gebürtige Reinickendorfer weiter, werde er zwangsweise | |
in den nächsten Flieger nach Afrika gesetzt, der exakte Zielort ist egal, | |
Hauptsache bald. „Zum Glück nicht in echt, solange der Flughafen nicht in | |
Betrieb ist.“ Cengiz seufzt erleichtert. „Ich hoffe, das bleibt auch so.“ | |
Hochbetrieb herrscht auch im Abflugbereich. Vor der Prozedur eigens | |
sedierte Komparsen geben Übermüdete und Vertrottelte mit Münzen in den | |
Taschen, halbvollen Plastikflaschen, Nagelscheren und Gaskartuschen, die | |
ihre Gürtel nicht ausziehen und mehrfach durch die Schleuse geschickt | |
werden müssen. Erfolglose Komiker machen vor dem Personal Bombenwitze und | |
werden abgeführt. Er hoffe, bei dieser Gelegenheit von Talentspähern | |
entdeckt zu werden, raunt mir der Lesebühnenautor Lenni Haumann (54) zu, | |
ehe er sich losreißt und am Rande des Rollfelds auf der Flucht erschossen | |
wird. Häkchen Nummer vier. | |
Berlin ruft und wirklich alle packen mit an. So hat die JVA Tegel zwei | |
Dutzend Häftlinge abkommandiert, die als Berliner Busfahrer die Fragen | |
englischsprachiger Fahrgastkomparsen beantworten. „Ick versteh keen Wort“, | |
hören wir Peter Häfner (56) im aus Stuhlreihen improvisierten Bus schreiend | |
seinen Text proben. „Hamse keen Kleinjeld? Nu aber raus hier, sonst kann | |
ick nicht losfahrn.“ Für seine Mitarbeit erhofft sich der Doppelmörder die | |
versprochene Aufhebung seiner Sicherungsverwahrung. Entsprechend engagiert | |
packt er eine amerikanische Studentin am Schlafittchen und schleudert sie | |
hinaus auf den Bordstein der „Haltestelle“. Das sogenannte Berliner | |
Willkommen ist die wichtigste Übung für den Ankunftsbereich. | |
## Failhopping across the world | |
Zu dem gehört unweigerlich auch der Ärger am Gepäckband. Warum die Leute | |
das hier alles auf sich nähmen, möchte ich von Sebastian Linse (36) wissen, | |
der neben mir seit Stunden auf seine Kofferattrappe wartet. Schließlich | |
gibt es nicht mal eine Aufwandsentschädigung, es ist kalt, langweilig und | |
frustrierend, denn realistischerweise funktioniert natürlich gar nichts. | |
Und wenn hier ein Feuer ausbricht, dann schütze uns Gott – die Rauchmelder | |
werden es jedenfalls nicht tun. | |
Der Befragte outet sich als Failhopper. „Tschernobyl, Westberliner | |
Magnetbahn, Stuttgart 21, Elbphilharmonie sowie mehrere Staudammprojekte“, | |
zählt er auf. „Ich war überall mit dabei.“ Der Ehrgeiz der Failhopper, | |
Augenzeuge möglichst vieler Fehlplanungen zu sein, liegt bei Linse in der | |
Familie. So war sein Urahn, Veith der Versager, bereits 1550 beim Bau des | |
Rathauses von Schilda vor Ort. Der BER gilt den Hobby-Unglücksraben als | |
Königsdisziplin des kollektiven Scheiterns. Doch leider ist heute nur Platz | |
für die zwanzigtausend Glücklichsten. | |
28 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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