# taz.de -- Die Wahrheit: Stiller Exzess in der lauten Stadt | |
> Wenn Besuch von außerhalb, also von JWD kommt, geht in Berlin die Luzie | |
> ab, dann tanzt der Bär und kracht das Leder. So auch diesmal wieder. | |
Bild: Nur in Berlin ist die Lebensfreude überhaupt legal | |
Manchmal hat man Besuch vom Land, zum Beispiel aus Hamburg oder München, | |
der bei uns unbedingt was erleben möchte. Nachdem die Kinder mit dem | |
Traktor zur Volksschule gebracht wurden, sitzt der kommende Besuch mit | |
roten Bäckchen in der Eisenbahn nach Berlin. Wenigstens für ein Wochenende | |
möchte der Besuch den Sound der Kleinstadt – das Krähen des Hahns, das | |
Hämmern aus der offenen Schmiede und das laute Rumpeln, wenn der Blockwart | |
um zehn Uhr abends die Bürgersteige hochklappt – gegen den Groove der | |
Metropole eintauschen. | |
Pünktlich eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft am Hauptbahnhof steht der | |
Besuch vor unserer Haustür. Fahrende Smartphone-Händler müssen im Dorf | |
Station gemacht haben, denn offenbar verfügen auch die Buschleute längst | |
über elektronische Devices, die ihnen den Weg weisen. Ich hatte ja fest | |
damit gerechnet, dass sie sich in einer Ortschaft, die aus mehr als Anger, | |
Marktplatz, drei bis vier Querstraßen und allenfalls noch einer | |
Bootsanlegestelle (Hamburg) besteht, hoffnungslos verirren. | |
In der Gewissheit, dass sie es nie und nimmer hierher schaffen, habe ich | |
ihre Abenteuerlust noch mit einer angeberischen Mail angeheizt: „Liebe | |
Freunde, ich freue mich darauf, zusammen mit euch die Nacht zum Jüngsten | |
Tag zu machen. Wir werden derart die Sau rauslassen, dass sie, wenn sie | |
überhaupt jemals wieder in den Stall zurückfindet, ihn bis zum Lebensende | |
nur noch verlassen wird, um viertelstündlich zum Kotzen aufs Klo zu wanken. | |
Ich habe mir mehrere Liter Eigenblut abzapfen lassen, weil ich im Anschluss | |
an unsere kleine Sause garantiert eine Blutwäsche brauche. | |
Wir werden feiern from Dusk till Death. Ich werde euer Alleinunterhalter | |
sein, euer DJ, Führer und Drogenberater. Ich werde euch beim Tanzen die | |
Haare aus dem Gesicht halten und beim Euch-die-Haare-aus-dem-Gesicht-Halten | |
tanzen. | |
Und so sieht der Plan aus. Ich hab ein Blech Ketaminplätzchen gebacken, die | |
pfeifen wir uns rein, während wir achtmal mit der S-Bahn um den Ring | |
fahren. Danach Billard-Rundlauf im Taubenhaucher. Gegen 4 a. m. schlagen | |
wir im Berghain auf – a. m. heißt ‚am Morgen‘, nur zu eurer Info, exakt … | |
Zeit, zu der ihr sonst zu Hause die Kühe melkt. Die Gästelistenplätze sind | |
reserviert, mit Goldrand – ich bin ja der Patenonkel von Kevin Marquardts | |
Tochter – wir kommen natürlich in den VIP-Bereich, wo wir von der Empore | |
aus die Blaskapelle dirigieren dürfen. In der Clubszene bin ich bekannt wie | |
ein bunter Hund. | |
Mittags dann in den Puff zum Autoscooterfahren. Bushäuschen entglasen, | |
Klingelstreiche, Kokstaxi, dann Wodka von der Tanke und Touris klatschen im | |
Kiez. Kiez nennen wir Berliner die Einheit, die entsteht, wenn wir die | |
Stadt in winzige Parzellen, etwa in der Größe von, sagen wir, Köln | |
einteilen, wo wie dort dann praktisch jeder jeden kennt. Das wirkt der | |
Anonymität der Großstadt entgegen. Zwischendurch klauen wir in der Apotheke | |
öfter mal frische Nadeln, oder wir nehmen alle dieselbe, kommt eh nicht | |
mehr drauf an. Spaß muss sein; wer schläft, sündigt; wer sich erinnern | |
kann, war nicht dabei. Mit sattsam bekifften Grüßen, euer Grand Master of | |
Ceremony.“ | |
Spätestens jetzt, da ich das erwartungsfrohe Blitzen in ihren Äuglein sehe, | |
nachdem sie ihre Kraxen im Zimmer abgestellt und die mitgeführten Hühner | |
gefüttert haben, merke ich, dass ich den Mund etwas zu voll genommen habe. | |
Ich werde meine Gäste enttäuschen müssen: Mit leiser Stimme bitte ich sie, | |
sich hinzulegen oder wieder nach Hause zu fahren. | |
## Netflixen ist das neue Liebficken | |
Denn in Wahrheit bin ich in der Szene so unbekannt wie eine graue Maus. | |
Macht aber nichts, weil ich möchte die umgekehrt ja auch nicht | |
kennenlernen. Ich gehe ja nicht mal mehr in die Kneipe. Sobald man in | |
Berlin wohnt, geht einem das Kaspertheater dort draußen nur noch am Arsch | |
vorbei. Fenster zu, Jalousie runter, Kopfhörer auf, Pulle angesetzt und | |
Druckbetankung. Der Nasenkontroletti vom Berghain heißt außerdem Sven und | |
nicht Kevin. | |
Außerdem kannst du zwar den Besucher aus München holen, aber München nicht | |
aus dem Besucher. Den Geruch der Provinz wird man niemals los: dieses Aroma | |
aus frischem Mist, Sauerbier, billiger Hautcreme und dem Angstschweiß im | |
Angesicht eines Berliner Türstehers. So lassen sie uns hier nicht mal in | |
den Supermarkt. Das ist so ein Laden in Berlin, der praktisch alles hat, | |
also Bäcker, Metzger, Drogerie, Gemüse- und Kolonialwarenladen in einem. | |
Davon könnten die Provinzler zu Hause noch jahrelang erzählen. Am Ende | |
ernennt man sie dafür zum Ortsvorsteher. | |
Der Vorteil wäre, dass man so einen Supermarkt auch tagsüber aufsuchen | |
könnte. Am Abend wollen wir auf dem Sofa netflixen und dann früh ins Bett, | |
wir sind ja nicht mehr die Jüngsten. Dazu eine gute Tasse Fencheltee, und | |
an Neujahr werfen wir eine halbe Aspi ein. | |
3 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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