| # taz.de -- Eine Weihnachtsgeschichte: Die Legende vom Büderich | |
| > 2019 Jahre schlechte Laune. Eine Geschichte über den Büderich, der es nun | |
| > wirklich sehr deutlich übertrieben hatte. | |
| Bild: Das hatte er getan? So weit war er gegangen? | |
| Der Flecken lag mitten im Dunkel, trotzig, rechtwinklig, in stiller | |
| Überschaubarkeit. Umgeben von Feldern ging ein schwaches Funzeln von ihm | |
| aus. Denn die Hauptstraße, entlang derer seine Bewohner alles fanden, was | |
| sie brauchten, war mit leuchtenden Sternen geschmückt. Haus an Haus | |
| reihten sich Bank, Bäcker, Fleischer, ein kleines Mode- und Schuhgeschäft | |
| (für Damen nur bis Größe 42!), ein Reformladen für die ökologisch | |
| Bewussten, ein Laden für die Trinker und Raucher sowie ein Pizzaimbiss mit | |
| Döner Hawaii im Angebot. | |
| Alles und jeder hatte hier seinen Platz. Und wer keinen fand, ging fort. | |
| Denn dies ist der Lauf der Welt. Nur der Büderich, der hatte es zu weit | |
| getrieben. Der hatte seinen Platz verloren. Die Bäckerin öffnete ihren | |
| Laden allmorgendlich als Erste. Und kaum hatte die Kirchturmuhr viermal | |
| geschlagen, fanden sich die ersten Kunden ein. Allen voran die alte Fuchs, | |
| deren Züge versteinert waren, seit ihr Mann pflegebedürftig und somit | |
| beider Leben in Armut gefallen war. | |
| Gegen fünf trafen die Monteure ein. Auswärtige Männer mit verlebten | |
| Gesichtern und Tätowierungen auf den Händen. Bestellten Kaffee, | |
| versammelten sich mit den dampfenden Bechern und hochgezogenen Schultern | |
| draußen zum Rauchen. Kamen schnaufend vor Kälte und Müdigkeit zurück in den | |
| Laden und frühstückten mit mechanischen Bewegungen. Ihr Arbeitstag hatte | |
| begonnen. Bis sieben blieb es ruhig im Ort. Nur vereinzelt fanden sich | |
| Schlaflose und Gassigeher am Kirchplatz ein, den täglich einmal zu umrunden | |
| zu den Hauptbeschäftigungen der Einwohner des Fleckens gehörte. Dies ist | |
| mein Ort. Vier Ecken und zwei Beine. Die Uhr schlägt uns den Rhythmus. Wir | |
| schlagen Wege ein. | |
| Nur der Büderich, der hatte es, potz Blitz, zu weit getrieben. Das wussten | |
| alle. Selbst solche wie Säbler, der dazu neigte, den Verlauf eines Disputs | |
| geduckt abzuwarten, bis er sicher sein konnte, wem der Sieg gebühren würde, | |
| auf wessen Seite er sich zu schlagen hatte. Selbst der hielt sich fern vom | |
| Büderich, weil er zu weit gegangen war. Und keinen Platz mehr hatte. Ohne | |
| Not. | |
| Gegen halb acht eilten schließlich die Schülerinnen und Schüler, | |
| gelbgesichtige Bankangestellte, gestresste Verkäuferinnen und der | |
| gichtgeplagte Leiter des Reisebüros ihrem Tagwerk entgegen. Endlich wurde | |
| es hell, im Bäckerladen löschten sie die Lichter. Wer spart, gewinnt, dass | |
| wusste schließlich jeder. Nur der Büderich, der hatte es nun wirklich | |
| übertrieben. Selbst mit so einer einfachen Sache wie der Sparsamkeit. Sogar | |
| die Gefühle hatte der sich gespart. Und das war es, was sie ihm am | |
| wenigsten verzeihen konnten. Denn schließlich haben auch Gefühle einen | |
| festen Platz, einen Ort, an den sie hingehören, und an Weihnachten, so viel | |
| stand fest, war dieser Platz nun wirklich klar markiert. | |
| ## Ein Überflüssiger | |
| Ein kräftiger Wind schlug Regentropfen an die Fenster, die zeichneten | |
| schräg stehende Muster, die sich mit jeder neuen Böe veränderten und damit | |
| die Katzen auf den Fensterbänken hypnotisierten. Johann Fuchs, der sein | |
| ganzes Leben der Deutschen Reichsbahn, dem planmäßigen Abfahren und | |
| Ankommen schwerbeladener Güterzüge geopfert hatte, versetzte der Anblick | |
| einen Stich ins Herz. | |
| Seit Monaten hatte er das Haus nicht mehr verlassen. Er, der die | |
| Schienennetze über zigtausende Kilometer hinweg bis ins Mark verinnerlicht | |
| hatte. Der noch immer ruhelos durch die Lande fuhr – nachts, allein. In | |
| seinen Träumen. Um dann, bei Tage, wieder nutzlos zu sein. | |
| Ein Überflüssiger. Dessen körperlicher Verfall so unaufhaltsam wie | |
| unbezahlbar geworden war. Es gab nichts, was hätte schlimmer kommen können, | |
| als es gekommen war. Oder doch. Und er dachte mit Schrecken an den | |
| Büderich, der es zu weit getrieben hatte. Mit dem wollte er nicht tauschen. | |
| So ein Mensch. Nein. Nie. Dabei hatte er ihn einmal gern gehabt. Büderich. | |
| Seinen Bruder. | |
| Die Feiertage führten all jene zurück in das Städtchen, die keinen Platz | |
| darin gefunden hatten. Auch jene, die der Überschaubarkeit entflohen und | |
| sehenden Auges in die großen, verwirrenden Städte gezogen waren. Für ein | |
| paar wenige Stunden würden sie die schöne Ordnung kaputt machen, Zweifel | |
| säen, Streit. Würden mit neumodischem Schnickschnack zu beeindrucken | |
| trachten. Aber das war immer noch erträglicher als das, was Büderich zu | |
| weit getrieben hatte, oder? | |
| ## Mit lautem Gebrüll | |
| Endlich war es so weit. Männer mit tiefen Stimmen, die in roten Uniformen | |
| steckten, liefen von Haus zu Haus. Heiligabend. Die Pfarrersfrau war | |
| glücklich, denn ihr Mann war es auch, einmal im Jahr, wenn das Gotteshaus | |
| voll war und alle darin sangen. Schließlich der Braten, ob mit oder ohne. | |
| Der Gang um die Kirche. Zur Verdauung. Gesellschaftsspiele, die folgten | |
| ungeschriebenen Gesetzen. | |
| Zeit verging. Für die meisten zäh. Dann war es spät geworden im Schweigen. | |
| Eine ganze Schar gebratener Vögel, Bier und Wein und Schnaps hatten nichts | |
| an dem Misstrauen ändern können, mit dem sich die einander Entfremdeten im | |
| Kerzenschein begegneten. Mütter lächelten teilnahmslos, Väter schenkten | |
| immer nach, Kinder verschanzten sich mit den Geschenken in ihren Zimmern. | |
| Die Feuer waren verraucht, und fast wäre man einvernehmlich murrend ins | |
| Bett gegangen. | |
| Da tauchte der Büderich aus dem Dunkel auf. Mit lautem Gebrüll. Vor dem | |
| Bäckerladen, wo alle ihn hören konnten. Erschrocken. Und die Dagebliebenen | |
| erzählten den Weggegangenen, was geschehen war. Das Unglaubliche. Das hatte | |
| er getan? So weit war er gegangen? Der Büderich! Sie lauschten, staunten, | |
| rückten näher zusammen und verschoben die Nachtruhe, an die auch kaum mehr | |
| zu denken war, denn Büderich bespukte den Flecken und hatte nicht vor zu | |
| gehen. | |
| Und so fand wieder jeder seinen Platz am Tisch. Bis auf den Büderich. Der | |
| draußen stand. Im Regen. Wo er hingehörte. Und selten waren sich die | |
| Hiergebliebenen und die Ausgezogenen einer Sache so klar gewesen. | |
| Einträchtig ignorierten sie sein Schreien und Wüten, seine an verschlossene | |
| Türen und heruntergelassene Rollläden trommelnden Faustschläge, das | |
| Klingeln ihrer Telefone in den überheizten Fluren. | |
| Es war Recht, das wussten alle. Bis auf ein paar. Aber auf die hatte noch | |
| nie einer gehört. Die Kinder schliefen zum Gemurmel der bis tief in den | |
| nächsten Morgen hineingreifenden Gespräche der erwachsenen Leute ein. In | |
| den Träumen war es Frieden. Warm und hell. | |
| 23 Dec 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Manja Präkels | |
| ## TAGS | |
| Weihnachten | |
| Osterhase | |
| Berlin Ausstellung | |
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