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# taz.de -- Das ultimative Berlin-Buch: Berlin ist doch nur ein Dorf
> Jens Bisky legt mit „Berlin. Biographie einer großen Stadt“ eine manchmal
> ausladende Gesamtdarstellung der Geschichte Berlins vor.
Bild: Nur ein Geschichtsmoment: 13.3.1920; Der Kapp-Putsch – Putschisten am B…
Wenn ich Besuch von Auswärts habe und wir in der Stadt unterwegs sind,
werde ich unbeabsichtigt zum Lokalpatrioten. Auch der Kulturwissenschaftler
Jens Bisky ist so einer, sonst hätte er seine fast tausendseitige
„Biographie einer großen Stadt“ nicht ausgerechnet über Berlin geschriebe…
das verglichen mit den Großstädten der Welt nur ein Dorf ist, weil sie so
wenig Einwohner hat wie die Mongolei, wenn auch auf kleinerem Raum.
Die meisten Bewohner sogar auf viel kleinerem Raum: Bisky berichtet von der
bis heute anhaltende Misere des Wohnungsmangels, der Obdachlosigkeit
infolge von Entmietungen, von Bauspekulanten und „Mietskasernen“ (mit sechs
Hinterhöfen, in denen bis zu fünf Personen in einem Raum lebten). Bekannt
wurde der Nachkriegs-Spruch von Wolfgang Neuss: „Mama über uns ist eine
Kellerwohnung frei geworden.“
Bisky schlägt seinen Stadtbogen vom Anfang bis zum Ende, das heißt von der
ersten Erwähnung Cöllns 1237 bis zur Erwähnung des Clubs „Berghain“ und …
letzten Ausblick die nachhaltige Freundlichkeit der Supermarktkassiererin
in den Friedrichstadtpassagen Frau B. Am besten haben mir in seinem Buch
die über die Jahrhunderte angefallenen Sprüche von Berlinern gefallen:
„Unser Dämel sitzt in Memel.“ (Dorthin war der König vor einer Entscheidu…
gegen Napoleon geflohen) oder – während der Inflation 1923 auf die Frage
„Wie geht’s?“: „Mies mal Index.“ oder die Frage von Architekten an die
Bauherrn am Ku’damm: „Welche Architektur soll’s nun sein?“
Am wenigsten gefallen hat mir die Ausführlichkeit, mit der Bisky die
Gebäude, Gemälde und Planungsdebatten behandelt. Er hat alle
„Stadtgeschichten“ gelesen, (ist allerdings nicht in die Archive gegangen),
seine Literaturliste umfasst 24 Seiten.
## Zwischen slawischen Burgen
An einer seichten Stelle der Spree entstand zunächst als „Stützpunkte für
den Fernhandel“ die Doppelstadt Berlin und Cölln zwischen den slawischen
Burgen Köpenick und Spandau. Mitte des 15. Jahrhunderts nutzt der
brandenburgische Markgraf ein Vermittlungsgesuch des zerstrittenen
Bürgertums, um Besitz und städtische Selbständigkeit an sich zu bringen.
Die Bürger einigen sich und rufen – vergeblich – die Hanse zu Hilfe. Sie
müssen daraufhin erdulden, dass der hohenzollernsche Usurpator 1450 auf
ihre Kosten sein Residenzschloss in der Stadt errichtet (bis heute ein
Streitobjekt).
Der „Berliner Unwille“ ist der erste kollektive Widerstand, der wie alle
nachfolgenden mit einer Unterwerfung endet. Das politische Unglück von 1448
ging einher mit einem wirtschaftlichen: Frankfurt (Oder) wurde wichtiger
als Berlin, das sich erst wieder berappelte, als der Feudalherr dies für
notwendig erachtete – und unter anderem 1662 den Spree-Oder-Kanal bauen
ließ, der Berlin aus seiner abseitigen Lage befreite, sodass sein
Warenaufkommen wieder an das von Hamburg heranreichte.
Alle neuen Innungen waren stets an den Repräsentationsbedürfnissen des
Landesherrn orientiert. Sogar die Berliner Börse wurde vom Hohenzollern und
nicht vom Bürgertum eingerichtet. Und selbst die Teilnahme der
finanzstarken jüdischen Bürger an dieser Veranstaltung musste der König
noch gegen „seine“ Berliner durchsetzen.
## Weltstadt-Werden, Weltstadt-Sein
400 Jahre nach dem „Unwillen“ scheitert das Bürgertum in seiner „Erhebun…
erneut: Die Revolution von 1848 erreicht nicht viel mehr als die Aufhebung
des Rauchverbots im Tiergarten. Die Revolution von 1918 endete blutig, und
auch die „friedliche Revolution“ von 1989 ist eine gescheiterte. Laut Bisky
sprachen die Bürger, Obrigkeit wie Akademiker und Industrielle, ständig von
Weltstadt-Werden, Weltstadt-Sein und Weltspitze. Dieser Größenwahn ist die
Kehrseite ihrer Ohnmacht – nur gelegentlich abgemildert durch Witz.
Als nach dem Ersten Weltkrieg das Stadtleben daniederliegt, fällt den
„Regierenden“ nichts Wichtigeres ein, als die umliegenden Gemeinden zu
„Groß-Berlin“ zusammenzufassen. Bisky hält das für eine Großtat. Noch h…
bemühen sich städtische Ansiedlungen (wie die Charité oder das Adlershofer
Gewerbe), mit irgendwas „führend“ in der Welt zu sein. Für besonders
vorbildhaft hält man die „Aufarbeitung“ der Nazi-Greuel.
Die Anbiederung an die Nachkriegsweltmacht geht so weit, den Redakteuren
des Springer-Verlags zu verbieten, Kritisches über die USA zu schreiben.
Mit der Max-Planck-Gesellschaft beginnend wies man die Wissenschaftler an,
nur noch auf Weltniveau (das heißt Englisch) zu diskutieren und zu
publizieren. Noch eine Unterwerfung. Mit den Worten eines Ostberliner
Straßenfegers auf die Frage eines SPD-Vorständlers, wie er seine
Beschäftigung bei der Westberliner Stadtreinigung (BSR) sehe: „Eijentlich
hat sich nüscht jändert außer det Jesellschaftssystem.“
Das letzte Wort hat der Berlin-Chronist Bisky: „Wer die Geschichte der
Stadt Revue passieren lässt, muss die jetzt an der Spree Lebenden für
Glückskinder halten.“ Zum Glück machen das die wenigsten.
24 Dec 2019
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Berlin Ausstellung
Stiftung Schlösser und Gärten Berlin Brandenburg
Babylon Berlin
Weihnachten
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Brexit
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