| # taz.de -- Community „Free Your Stuff Berlin“: Eine Win-win-Situation | |
| > Schenken macht Freude: Mit Geld & Konsum muss das nichts zu tun haben. | |
| > Und mit Weihnachten auch nicht – das zeigt „Free Your Stuff Berlin“. | |
| Bild: Glühwein zur Nikolausparty: Wolfgang Jäger lädt monatlich seine Klient… | |
| Am Nikolausabend im neunten Stock eines Plattenbaus in Mitte: In dem | |
| kleinen Wohnzimmer ist alles bereit, die Diskolichter leuchten, auf dem | |
| Flatscreen laufen Musikvideos, der Glühwein ist heiß. Um eine | |
| Weihnachtsfeier handelt es sich hier jedoch nicht, Wolfgang Jäger lädt | |
| seine „Klienten“ einmal im Monat ein. Seine Klienten, das sind Leute „mit | |
| Migrationshintergrund“, meist zwischen 25 und 35 Jahre, neu in Berlin und | |
| mit dem ein oder anderem bürokratischen Problem beschäftigt. Und bei diesen | |
| schafft Wolfgang – in der Runde duzen sich alle – Abhilfe. | |
| Egal ob Jobcenterantrag oder -ärger, Arbeits- oder Wohnungssuche, Wolfgang | |
| kennt sich aus. Vor seiner Frühpensionierung hat der 65-jährige | |
| Bewerbungskurse für Arbeitslose gegeben. Außerdem weiß er aus eigener | |
| Erfahrung, wie man sich in diversen Lebenslagen durchschlägt: Nach der | |
| Wende musste der in der DDR ausgebildete Planungsökonom sich anderweitig | |
| Arbeit suchen, war eine Weile arbeitslos und zeitweise selbstständig. Auf | |
| seiner Visitenkarte bietet er neben der Unterstützung in Sachen Jobcenter | |
| und Jobsuche auch englische Übersetzungen sowie Hilfe bei der Erstellung | |
| von Anschreiben und Lebenslauf an. Und das alles: für geschenkt! | |
| Gepostet hat Wolfgang sein Hilfsangebot auf [1][„Free Your Stuff Berlin“], | |
| eine [2][Facebook-Gruppe], die sich ganz aufs Schenken spezialisiert hat: | |
| Ob Möbel, Lebensmittel, elektrische Geräte, Kleider, Kombucha-Pilze oder | |
| Dildos: Es gibt nichts, was hier nicht verschenkt wird. Und anders als | |
| viele der Dinge, die unter dem Etikett „zu verschenken“ auf Berlins Straßen | |
| rumliegen, sind die Gegenstände hier meist gut erhalten, mitunter sogar | |
| hochwertig und könnten woanders noch Geld einbringen. | |
| Auch Wolfgang ist bewusst, dass er für seine Hilfe etwas verlangen könnte. | |
| „So einen umfassenden Service bietet sonst keiner“, sagt Wolfgang. Sein | |
| Terminkalender ist übervoll, jeden Tag hat er mindestens vier Termine. | |
| „Frauen treffe ich zum Erstgespräch in einem Café hier um die Ecke“, sagt | |
| er. „Das wirkt sonst nicht seriös.“ Darauf folgen mindestens zwei bis drei | |
| weitere Termine, häufig auf dem Amt, unzählige Anrufe und Nachrichten. Viel | |
| Arbeit ist das. Geld will Wolfgang dafür aber keins. | |
| ## Rund 169.000 Leuten machen mit | |
| Das eint ihn mit den rund 169.000 Leuten, die sich in der Gruppe „Free Your | |
| Stuff Berlin“ zusammengefunden haben. Die Schenkerei macht den Leuten Spaß. | |
| „Wie jedes Jahr habe ich alle kleinen Fundstücke in meiner Wohnung in einen | |
| Adventskalender verwandelt!“, schreibt etwa Christina am 1. Dezember. „Wenn | |
| du also ein bezauberndes Kind hast (…) und noch keine Zeit hattest zu | |
| basteln – hol ihn gerne ab!“ | |
| „Das hier ist wie ein Halbtagsjob“, verrät Moderator Raluca (42), der sich | |
| mit zwei Kollegen darum kümmert, dass sich bei „Free Your Stuff Berlin“ | |
| alle an die Regel halten: Nur kostenlose Angebote sind gestattet, selbst | |
| Tauschangebote sind verboten. Bis zu 400 Posts bearbeitet der Pianist am | |
| Tag. Neben Angeboten gibt es darunter auch gezielte Gesuche. Da ist zum | |
| Beispiel der Post einer Frau, die kurzfristig ihre Wohnung räumen muss und | |
| eine Bleibe sucht. Innerhalb kürzester Zeit werden Infos für | |
| Kurzzeitvermietungen und Obdachlosenasyle geteilt, Gästezimmer und | |
| Sofaplätze angeboten. | |
| Viele Gesuche stammen von Neuberlinern, die eine leere Wohnung möblieren | |
| müssen. So ging es auch Kentaro, der ebenfalls als Moderator aushilft. „Als | |
| ich nach Berlin gekommen bin, habe ich diese Seite viel genutzt“, erzählt | |
| der gebürtige Japaner, der über „Free Your Stuff Berlin“ jede Menge Möbel | |
| und Hausrat zusammengesammelt hat. Dafür will er sich jetzt erkenntlich | |
| zeigen: Er offeriert der Gruppe nun kostenlose Salsa-Stunden. | |
| Dabei erwartet in der Community gar keiner, etwas zurückzubekommen. | |
| Wahrscheinlich, weil die Leute wissen, dass man als Schenkender nicht nur | |
| was los wird, sondern meist auch was gewinnt. | |
| ## Angst, weil es so viele Probleme sind | |
| „Mir macht das eine solche Freude, Leute aus der Patsche zu helfen“, | |
| antwortet Wolfgang auf die Frage, warum er sich jeden Tag um halb sieben | |
| von wildfremden Leuten aus dem Bett klingeln lässt, um noch vor der Öffnung | |
| des Jobcenters auf der Matte zu stehen. Tausenden Menschen hat er in den | |
| letzten acht Jahren auf diese Weise geholfen, die Nachfrage ist | |
| ungebrochen, ständig piept es in seinen Chats. Nicht selten werden Klienten | |
| zu Freunden. | |
| „Ich bin so froh, Wolfgang getroffen zu haben“, erzählt Micaela (27). Die | |
| argentinisch-italienische Fotografin lebt seit anderthalb Jahren in Berlin, | |
| sie kennt Wolfgang seit drei Wochen und hat nun als erster Gast auf seiner | |
| Couch Platz genommen. „Ich hatte solche Angst, weil ich so viele Probleme | |
| habe“, sagt sie und zählt auf: keine Krankenversicherung, keine | |
| Deutschkenntnisse, keine Wohnung und nicht genug Aufträge. Die deutsche | |
| Bürokratie brachte sie in Panik. | |
| Jetzt ist sie ruhiger. Wolfgang hat ihr genau erklärt, was zu tun ist, und | |
| mit ihr die ersten Schritte gemacht. Der Antrag ist raus, und die Gespräche | |
| beim Amt liefen gut. Wolfgang ist optimistisch, dass Micaela bald einen | |
| positiven Bescheid bekommen wird. Wolfgang: „Und dann kümmern wir uns um | |
| den Rest.“ | |
| Zurück zur Nikolausparty: Nach und nach füllt sich Wolfgangs kleines Zimmer | |
| immer mehr. Dazu gekommen sind junge Leute aus Irland, Kanada, Nigeria und | |
| Litauen. Sie tauschen sich über ihre Situation aus, geben sich Tipps und | |
| tauschen Kontakte aus. Wolfgang sitzt unter ihnen und strahlt. Noch | |
| glücklicher als zu helfen macht es ihn, die Früchte seiner Arbeit zu sehen: | |
| „Es gibt viele Leute, die zu mir gesagt haben: Ohne dich hätte ich das | |
| nicht geschafft.“ | |
| 22 Dec 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Karlotta Ehrenberg | |
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