| # taz.de -- Von der hässlichen Seite der Feiertage: Wir shoppen uns zu Tode | |
| > Nichts wünscht sich der Konsument nach der größten Shopping-Orgie des | |
| > Jahres mehr, als noch mehr Shopping – und noch mehr Feuerwerke. | |
| Bild: Immer mehr Pakete, immer mehr Müllwagen – und kein Ende in Sicht | |
| Drei Prozent Umsatzsteigerung gegenüber dem Vorjahr soll der Einzelhandel | |
| in Hamburg im Weihnachtsgeschäft gemacht haben. Und das trotz des | |
| Onlinehandels. Der Onlinehandel geht mir sehr, sehr auf die Nerven. Der | |
| Onlinehandel findet nämlich vor meiner Tür statt. Er braust durch meine | |
| kleine Straße, hält vor meinem Fenster, mit laufendem Motor, er klingelt an | |
| meiner Tür, er trampelt durch mein Treppenhaus, er ist laut und nervös, er | |
| raubt mir den Schlaf, er stört meine Arbeit. | |
| Am Anfang ist er leise und bequem, aber dann weitet er sich aus, zu einer | |
| brüllenden, stinkenden, asozialen Maschinerie. Fein und gemütlich beginnt | |
| er auf dem Sofa, nervend wächst er sich aus, vor meiner Haustür, in meinen | |
| Ohren, vor den Müllcontainern, wo sich die Versandkartons stapeln, in denen | |
| kleine Sachen in große Kartons verpackt, die in noch größeren Kartons | |
| verschickt wurden, jetzt der Entsorgung harren durch die noch lautere, | |
| extrem rumpelnde und kreischende Müllabfuhr. Das ist der Preis für diesen | |
| Versandscheiß, meine Nerven, mein Schlaf, meine Gesundheit. | |
| Drei Prozent Umsatzsteigerung gegenüber dem vorigen Jahr also | |
| wahrscheinlich und ungefähr. Und im nächsten Jahr? Und im übernächsten? | |
| Immer weiter noch mehr Prozent, noch mehr Einkauf? Wie viel können Menschen | |
| kaufen? Wann haben sie genug, wann können sie nicht noch mehr einkaufen? | |
| Gibt es eine Grenze, oder können wir immer noch schneller kaufen, wegwerfen | |
| und wieder neu kaufen? Wird die Müllabfuhr eines Tages mehrmals täglich | |
| kommen, um all die Gegenstände, die wir gekauft haben, wegzufahren, | |
| zusammenzuquetschen, und zu verbrennen? Ist das die Zukunft? Jedes Jahr | |
| drei Prozent, vier Prozent, fünf Prozent, jedes Jahr mehr Lieferwagen, mehr | |
| Pakete, mehr Müllautos? Bis wir alle nur noch mit Gehörschutz auf unseren | |
| Sofas sitzen können, um noch mehr zu kaufen? | |
| Das ist die widerliche, hässliche, stinkende Seite der Feiertage, die | |
| Überstunden machenden armen VerkäuferInnen im Einzelhandel, die armen | |
| Menschen in ihren Lieferwagen, – von den noch ärmeren Menschen in fernen | |
| Ländern, die all diesen Dreck, den wir kaufen, produzieren müssen, will ich | |
| gar nicht erst anfangen, und wir wissen es ja sowieso schon alle, wo das | |
| ganze billige Zeug, und sogar das teure Zeug herkommt, das wir kaufen, aus | |
| den Armutshöllen dieser Welt. | |
| Nachdem nun also die heiligen Feiertage vorüber sind, die ich trotzdem | |
| liebe und an denen ich auf sehr sentimentale Weise hänge, beginnen viele | |
| Menschen um mich herum das neue Jahr in nüchtern gesunder Weise, mit | |
| Verzicht. Sie verzichten auf Alkohol, sie verzichten auf Zucker, sie | |
| treiben Sport und beginnen frohgemut, ihre guten Vorsätze umzusetzen. Im | |
| Januar soll endlich Schluss sein, mit der Völlerei, dem Überfluss, der | |
| Verschwendung. Im Januar soll es sauber beginnen, das neue Jahr. Ein wenig | |
| Fasten, ein wenig Ausspucken, sich rütteln und schütteln, die Sportsachen | |
| anziehen, den schalen Wein loswerden. | |
| Und was macht diese Prachtstadt, in der ich wohne? Wie beginnt sie, da der | |
| Müll kaum entsorgt wurde, das neue Jahr? Es klingt wie ein Witz, und ist | |
| aber wahr: Sie treibt die geplagten, im Weihnachtsgeschäft überarbeiteten | |
| Angestellten des Einzelhandels gleich am ersten Sonntag des Jahres wieder | |
| zur Arbeit, wegen der abscheulichsten Erfindung dieses raffgierigen Volkes: | |
| dem verkaufsoffenen Sonntag. | |
| Denn nichts wünscht der Konsument sich nach der größten Shopping-Orgie des | |
| Jahres mehr, als – noch mehr Shopping. Und das ist noch nicht alles. Ich | |
| haben einen ganzen Tag das Fenster nicht öffnen können, weil die Luft so | |
| dick und stinkend war, verschlammte Reste von Feuerwerk säumen noch die | |
| Straßen und Wege, die Welt diskutiert über Feinstaub und den Verbot von | |
| Feuerwerk, und was macht unsere wunderbare Einkaufsstadt? Sie veranstaltet | |
| – fünf Tage nach dem großen Feuerwerk – ein Feuerwerk! Was für eine | |
| grandiose Idee! Was für ein Traum. Ich träume, wir shoppen und shoppen und | |
| feuern dann alles in die Luft, um von neuem shoppen zu können. Ich träume. | |
| Ich kann gar nicht mehr aufwachen, es ist gar kein Traum. | |
| 8 Jan 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
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