# taz.de -- Kurswechsel in der SPD: Die Mitte tickt ökosozial | |
> Mehr Klimaschutz und mehr staatliche Investitionen, das ist nicht links, | |
> sondern einfach nur vernünftig. Die neue SPD-Spitze hat das verstanden. | |
Bild: Sonntagsspaziergang über den Bremerhavener Weserdeich | |
Für manche sind [1][die neuen SPD-Vorsitzenden] Saskia Esken und Norbert | |
Walter-Borjans so etwas wie der personifizierte Weltuntergang. Die SPD gebe | |
sich auf, urteilt etwa die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, kurz | |
FAS. „Für Deutschland ist das ein politisches Erdbeben.“ | |
Ein Großteil der veröffentlichten Meinungen sieht es ähnlich. Gerade | |
liberalkonservative JournalistInnen überbieten sich mit apokalyptischen | |
Deutungen des angeblichen Linksschwenks der Sozialdemokratie. Das sind | |
durchschaubare Versuche, die Neuen unmöglich zu machen. | |
Schauen wir auf die Inhalte, die das frisch gewählte Duo vertritt. Esken | |
und Walter-Borjans fordern engagierteren Klimaschutz mit einem höheren | |
CO2-Preis und mehr Kompensationen für Niedrigverdiener. Sie wollen den | |
Mindestlohn auf 12 Euro anheben und ein milliardenschweres | |
Investitionsprogramm des Staats auflegen, für Brücken, Bahnstrecken oder | |
Bildung. | |
Ähnliches findet sich auch bei Grünen und Linken. Und die Parteien sind | |
nicht allein. Viele Klimaforscher, Ökonomen und Verbände raten dasselbe. | |
Ein solches Programm ist nicht naiv oder radikalutopistisch. Es ist einfach | |
nur vernünftig – und auf Augenhöhe mit den Herausforderungen der Zeit. | |
## Abschied von der Scholz-Heil-Linie | |
Der Bundesverband der Deutschen Industrie forderte kürzlich staatliche | |
Investitionen von 450 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren, Seit’ an | |
Seit’ mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund. Es würde die Infrastruktur, von | |
der alle profitieren, aufwerten – und die rezessionsbedrohte Wirtschaft | |
ankurbeln. Beide Organisationen, BDI und DGB, sind kommunistischer Umtriebe | |
bisher unverdächtig. | |
Jene, die eine linkere SPD verhindern wollen und gleichzeitig für sich in | |
Anspruch nehmen, für die bürgerliche Mitte zu sprechen, haben das Gefühl | |
für die wahre Mitte der Gesellschaft verloren. Sie wenden Denkschablonen | |
der 1990er Jahre auf das 21. Jahrhundert an, was kognitiv vielleicht | |
nachvollziehbar ist, aber scheitern muss. | |
Gerhard Schröder und Tony Blair unterwarfen die Sozialdemokratie der | |
Marktgläubigkeit, als sie 1999 ihr Konzept der „Neuen Mitte“ propagierten. | |
Die darauf folgende Agendapolitik, dieser Verrat an ihrer Wählerschaft, | |
verfolgt die SPD bis heute, trotz vieler, oft kleinteiliger Reparaturen in | |
den Großen Koalitionen unter Merkel. | |
Wenn Esken und Walter-Borjans es wirklich schaffen, eine [2][Abkehr von der | |
Scholz-Heil-Linie] zu verkörpern, kleine Geländegewinne als maximale | |
Erfolge zu verkaufen, wäre das eine große Chance für die SPD. Ihre Inhalte | |
weisen in die richtige Richtung, auch weil sie keineswegs radikal, sondern | |
mehrheitsfähig sind. Denn die neue Mitte tickt ökosozial. | |
Klimaschutz wird von vielen Menschen endlich als die zukunftsichernde | |
Megaaufgabe begriffen, die er ist. Der dauerhafte Erfolg der Grünen zeigt | |
dies. Die Deutschen sind auch viel solidarischer, als Christian Lindner, | |
FAS und Co. glauben. | |
Die Grundrente finden zwei Drittel der Deutschen richtig, übrigens auch | |
eine Mehrheit der Union-Anhänger. 80 Prozent der BürgerInnen heißen einen | |
Mindestlohn von 12 Euro gut, selbst 72 Prozent der Union-WählerInnen sehen | |
das so. Ein höherer Mindestlohn ist also nicht links, sondern Mitte im | |
besten Sinne. Die ganze Gesellschaft findet es falsch, dass zehn Jahre | |
Wirtschaftswachstum nicht dazu geführt haben, dass man von seiner Arbeit | |
leben kann. | |
Esken und Walter-Borjans haben das verstanden, [3][die Grünen] und ihre | |
Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck auch. Auf seine sehr | |
eigene Art sogar Markus Söder, der inzwischen die Grünen als Hauptgegner | |
sieht statt der AfD. Der Bayer hat erkannt, dass eine nach rechts gerückte | |
Union mehr WählerInnen in der Mitte verlöre, als sie vom rechten Rand | |
zurückgewinnen könnte. Entsprechend streicht er seine CSU grün an. | |
Wer Klimaschutz ignoriert, auf den unregulierten Markt setzt und | |
Bedürfnisse schlecht verdienender Menschen geringschätzt, der steht nicht | |
in der Mitte der Gesellschaft, sondern läuft Gefahr, sich zu isolieren. Das | |
ist doch erst mal eine gute Nachricht. | |
7 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-SPD-Chefs-auf-dem-Parteitag/!5648014 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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