Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte um Meinungsfreiheit: Eine Chance, kein Arschloch zu sein
> Unsere Debattenkultur ist nicht elitär. Diskriminierungsfreie Sprache ist
> keine Frage der Bildung, sondern eine der Offenheit.
Bild: Wo ich aufgewachsen bin, gibt es mehr Schweine als Bücher und mehr Kühe…
Wie laut es in einem Schweinestall ist, wusste ich schon als Kind. Welche
Welt Bücher eröffnen können, erst sehr viel später. Wo ich aufgewachsen
bin, gibt es mehr Schweine als Bücher und mehr Kühe als Menschen. Dass ich
aufs Gymnasium gehen wollte, wurde als „Extrawurst“ bezeichnet, das Thema
„Studium“ war ein rotes Tuch. Das Geld, das mein hart arbeitender Vater
verdiente, reichte immer gerade so und eben nicht für Extrawürste oder rote
Tücher. Als „bildungsfern“ würden einige das Umfeld, in dem ich aufwuchs,
bezeichnen. [1][Ich bin ein Arbeiterkind, sage ich heute.] Den Begriff
musste ich auch erst einmal lernen.
In unserer Straße wohnte auch meine Freundin Anika. Zuerst lebte sie dort
mit ihrer Mutter und ihrem Vater. Irgendwann mit zwei Müttern, denn die
Frau, die ich als ihren Vater kennengelernt hatte, war eigentlich ihre
Mutter. Das erzählte sie uns – also dem ganzen Dorf – bei einem Dorffest.
Ich weiß noch, dass meine Eltern mir erklärten, dass Anikas Vater sich dazu
entschieden habe, als Frau zu leben und jetzt Anikas Mutter sei und einen
anderen Namen habe.
Zu Anika habe ich heute keinen Kontakt mehr, deshalb kann ich sie oder ihre
Mütter nicht fragen, wie das damals für sie war. Ich weiß nicht, wie es
sich angefühlt hat, die Transition in unserem kleinen Dorf zu verbringen.
Was ich aber weiß: Die Leute aus unserem Dorf hielten sich an die Bitte,
Anikas zweite Mutter bei ihrem neuen Namen anzusprechen. Und zwar alle.
Die Frage, wie man heute sprechen soll, stellen sich aktuell viele
Menschen. [2][„Wie war nochmal das korrekte Wort?“], steht über einem
Artikel der Zeit zum Thema Meinungsfreiheit. Die These: Unsere
Debattenkultur sei elitär und schließe Menschen aus bildungsfernen Milieus
aus. Das sehe ich anders.
## Man muss mit einem Echo rechnen
Das Gefühl der Ausgeschlossenheit resultiert aus einem Unwohlsein.
Menschen, die viele Jahre ihres Lebens sprachen, wie ihnen der Schnabel
gewachsen war, bekommen heute Widerspruch zu hören, werden gar kritisiert.
Das fühlt sich dann an, als könne man nicht mehr alles sagen. Dabei kann
man einfach nur nicht mehr jeden Scheiß sagen, ohne mit einem Echo rechnen
zu müssen.
„Die Klage von angeblichen Meinungsverboten kommt auffallend oft von
Leuten, die es gewohnt waren, unwidersprochen zu bleiben. Wenn man
nachhakt, stellt sich meist raus, dass Kritik und Widerspruch mit
Meinungsverbot gleichgesetzt wird“, [3][twitterte die Soziologin Franziska
Schutzbach]. Laut unserem Grundgesetz können wir alles sagen, was nicht die
Würde eines anderen Menschen verletzt. Und das ist der Punkt: Man sollte
nicht alles sagen, wenn man kein Arschloch sein will.
Wenn man das nicht sein will, ist es eigentlich gar nicht so schwer: Es
braucht keinen besonderen Bildungsabschluss, kein Hochschulstudium und
keinen Doktortitel, es braucht einfach nur eine Frage: „Wie ist es gut für
dich?“ Und dann die Offenheit, die Antwort wirklich hören zu wollen und
sich dementsprechend zu verhalten.
Das ist die Grundlage dafür, diskriminierungsfreie Sprache zu nutzen.
Übrigens: Arschloch ist zwar eine Beleidigung, dabei aber nicht
diskriminierend. Diskriminierende Sprache erkennt man daran, dass sie eine
bestimmte Gruppe mit negativen Eigenschaften belegt. Meist sind das
Gruppen, die eh schon von Benachteiligungen betroffen sind. Eine
benachteiligte Gruppe von Arschlöchern gibt es meines Wissens nach nicht.
Schade eigentlich.
## Meine Sprache hat sich angepasst
Ich war vielleicht zehn Jahre alt und mir wäre überhaupt nicht in den Sinn
gekommen, Anikas zweite Mutter nicht als solche anzusprechen. Klar, am
Anfang war das ungewohnt, ich stolperte noch manchmal über den alten Namen
oder sagte, wenn ich mit Anika sprach,„dein Papa“ statt „deine Mama“. A…
dann entschuldigte ich mich dafür. Nach kurzer Zeit hatte ich mich daran
gewöhnt. Meine Sprache hatte sich angepasst. Genau wie es unsere Sprache
macht, wenn wir versuchen, diskriminierungsfreier zu sprechen.
Immer mehr Stimmen werden in den Medien und der Politik sicht- und hörbar,
die lange Zeit nicht gesehen und gehört wurden. Diesen Stimmen haben wir es
zu verdanken, dass wir immer mehr und immer weiter nachdenken können, wie
wir sprechen wollen. Menschen, die von Rassismus betroffen sind, Menschen,
die von Behindertenfeindlichkeit betroffen sind, Menschen, die von Sexismus
betroffen sind. Sie sagen: So wollen wir nicht bezeichnet werden, das tut
uns weh. Oder auch: Wir kommen in den Wörtern nicht vor, wir brauchen neue.
Die sich daraus ergebene neue Vielfalt der Sprache ist für uns alle eine
große Chance. Wir können mit der Entwicklung unserer Sprache mit mehr
Menschen kommunizieren als bisher. Unsere Welt wird größer und auch die der
anderen. Wir schließen nicht mehr aus, sondern schließen Menschen ein. Wir
haben die Möglichkeit, Menschen sicht- und hörbar zu machen. Dadurch, dass
wir Worte verwenden – und auf andere verzichten.
Wir brauchen dafür gar nicht so viel. Wir brauchen dafür nur die Offenheit,
mit Verunsicherungen umzugehen, zu unseren Verunsicherungen zu stehen. Auch
mal zu fragen: „Ist das so in Ordnung?“ Und dann Offenheit für Kritik.
Vielleicht ist es so nicht in Ordnung, dann probieren wir es anders. Dass
wir Fehler machen, wenn wir etwas neu machen, ist okay.
Es geht dann darum, uns bei den Menschen, die wir mit unseren Fehlern
möglicherweise diskriminiert haben, zu entschuldigen. Und darum, aus ihnen
zu lernen. Und nicht darum, diskriminierende Formulierungen, Narrative oder
Bildsprache immer und immer wieder zu reproduzieren, wie es zur Zeit viele
Medien tun.
In den zuletzt erschienen Artikeln wird gern eine Zahl aus einer Umfrage
von Allensbach zitiert, sie soll für die „Angst vor Meinungsäußerung“
stehen: 78 Prozent der Deutschen glauben, man müsse in der Öffentlichkeit
mit Kommentaren zu „einigen oder vielen“ Themen vorsichtig sein. Ich finde
das wunderbar! Ja, wir sollten vorsichtig sein miteinander. In jeder
Hinsicht, auch sprachlich. Übrigens mit allen. Die Debatte, wie wir sie
führen, schließt nämlich tatsächlich Menschen aus.
Zum Beispiel Menschen, die auf Leichte Sprache angewiesen sind. Leichte
Sprache richtet sich an Menschen mit Lernschwierigkeiten, ist aber für alle
gut. Für Menschen mit Demenz, für Kinder und für Menschen, die unsere
Sprache lernen. Diese Menschen werden oft nicht gehört, weil sie sich von
Artikeln nicht angesprochen fühlen (weil sie nicht angesprochen sind).
Politik und Medien richten sich zumeist an Menschen, die schwierige Sprache
verstehen. Dabei macht es alle Debatten gerechter, wenn wir probieren, sie
verständlicher zu formulieren.
## Ein Versuch der Leichten Sprache
Viele Menschen wollen ihre Meinung nicht sagen.
Sie haben Angst davor.
Aber: Es ist nicht verboten, die eigene Meinung zu sagen.
Warum haben viele Menschen Angst davor?
Sie denken: Vielleicht haben andere Menschen eine andere Meinung?
Diese Meinung könnte sie dann auch sagen.
Das nennt man Kritik.
Man kann also auch sagen: Manche Menschen haben Angst vor Kritik.
Aber: Es ist gut, wenn viele verschiedene Menschen mitreden.
Es ist gut, wenn verschiedene Meinungen gesagt werden.
Und wenn sie gehört werden.
## Bewusste Sprachnutzung
Unsere Sprache ist ein großer Schatz. Wir können mit ihr erklären,
aufklären, philosophieren, einschließen, ausschließen, verletzen und um
Entschuldigung bitten. „Sprache ist ein machtvolles Instrument“, sagt die
Autorin Kübra Gümüşay. Die, die dieses Instrument gut spielen können, sind
in der Verantwortung, Sprache bewusst zu nutzen.
Als trans* Person das Jahr [4][vor der Geschlechtsangleichung] in unserem
Dorf zu verbringen, war vermutlich nicht leicht. Was aber leicht war, war,
es ihr leichter zu machen. Es ging um ein paar Worte, neue Formulierungen.
Kurz ungewohnt, irgendwann dann selbstverständlich. Das konnte nicht nur
die – zugegeben sehr kleine – Bildungselite in unserem Dorf, das konnten
alle. Landwirtinnen, Lehrer, Hausmänner, Krankenpfleger und zehnjährige
Kinder.
Dass wir alles sagen dürfen, heißt noch lange nicht, dass wir alles sagen
sollten. Wir haben mit unserer Sprache die Möglichkeit, Menschen nicht zu
diskriminieren. Wir können so formulieren, dass wir verstanden werden. Wir
können sprechen, ohne zu verletzen. Unsere Sprache ermöglicht uns, kein
Arschloch zu sein. Warum sollten wir es dann trotzdem tun?
Beratung zur Leichten Sprache von der Dolmetscherin für Leichte Sprache
Anne Leichtfuß.
4 Dec 2019
## LINKS
[1] /Arbeiterkinder-an-Universitaeten/!5629182
[2] https://www.zeit.de/2019/48/debattenkultur-toleranz-sprachregeln-sensibilit…
[3] https://twitter.com/f_schutzbach/status/1198886759809126401?s=20
[4] /Trans-Filmemacher-ueber-Porno-und-Sex/!5458465
## AUTOREN
Mareice Kaiser
## TAGS
Meinungsfreiheit
Diskriminierung
Dorf
Schwerpunkt Coronavirus
Meinungsfreiheit
Schwerpunkt Rassismus
Margarete Stokowski
Geschichte
## ARTIKEL ZUM THEMA
Leichte Sprache in Corona-Zeiten: „Regeln müssen verstanden werden“
Informationen über Corona zugänglich machen für jede*n: Das ist derzeit
eine Aufgabe der Hildesheimer Forschungsstelle Leichte Sprache.
Umfrage zur Forschungsfreiheit: Bedenkliche Fragen
Das Allensbach-Institut hat Hochschullehrer*innen befragt. Manche Antworten
sind besorgniserregend. Die Fragen aber sind besorgniserregender.
Sprache und Rassismus: Von wegen elitär
In Deutschland wird über die Frage diskutiert, ob Antirassismus elitär sei.
Das ist eine unerträgliche Frage.
Tucholsky-Preis für Margarete Stokowski: „Ich denke dann kurz: Ja, normal“
In ihrer Rede zur Preisverleihung spricht die Autorin über Morddrohungen
und die Untätigkeit des Staates. Die taz veröffentlicht einen Auszug.
Anzeige gegen HU-Prof Baberowski: Gepöbel im Diskurs
Nach Beleidigungen und Shitstorm haben Studentinnen Anzeige gegen HU-Prof
Jörg Baberowski erstattet. Es ist die nächste Eskalationsstufe im Streit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.