# taz.de -- Romanverfilmung „Pferde stehlen“: Wo die Natur sich grün ist | |
> Hans Petter Moland hat den Roman „Pferde stehlen“ mit Stellan Skarsgård | |
> verfilmt. Es wimmelt von Figuren, die es schaffen, mit ihren Traumen zu | |
> leben. | |
Bild: Hat gelernt, mit sich alleine klarzukommen: Trond (Stellan Skarsgard) | |
So ein Baum, eine norwegische Kiefer etwa, ist im Zweifel älter als der | |
Mensch, der sie fällt. Die Kiefer steht seit Jahrzehnten unbeirrt im Wald | |
und wächst. Der Mensch ist dagegen nur kurz vor Ort, begutachtet diese | |
hölzerne Statue und geht die Axt holen. | |
Tronds Vater (Tobias Santelmann) ist so einer: Im langen skandinavischen | |
Sommer bezieht er stets eine kleine Hütte mitten im Wald und kappt Bäume, | |
um sie dem nahe gelegenen Fluss mitzugeben. Denn flussabwärts liegt | |
Schweden, dort kann man die Stämme verkaufen. „Triften“ nennt man die | |
Technik, mit der in Schweden und Norwegen noch bis in die 50er Jahre beim | |
Holztransport die Wasserenergie genutzt wurde. | |
Hans Petter Mollands Adaption von Per Pettersons 2006 erschienenem Roman | |
„Pferde stehlen“ lässt Trond [1][(Stellan Skarsgård)] in die Vergangenheit | |
blicken: Der mittlerweile über 60-Jährige erinnert sich an das Triften, als | |
er im Winter 1999 jenes kleine Dörfchen wieder besucht, in dem er seinen | |
Vater über 50 Jahre zuvor zum letzten Mal sah. | |
Er erinnert sich noch an viel mehr. Daran, wie der Zwillingsbruder eines | |
Nachbarsjungen starb. Wie eine Mutter Trost suchte. Wie bei dem damals | |
15-Jährigen eine erste Liebe aufflackerte und unsanft gelöscht wurde. Wie | |
aus einem Verlust ein Trauma wurde. Wie er selbst später, als Erwachsener, | |
schmerzhafte Verluste hinnehmen musste. Und daran, dass sein Vater ihn | |
lehrte, dass man die Stärke seines Schmerzes selbst regulieren könne. | |
Das mit der Schmerzregulation klappt besser als erwartet. In Mollands Film | |
wimmelt es von schweigsamen, wunderlichen Figuren, die gelernt haben, mit | |
Traumen zu leben: Trond selber sucht nach dem kurz zuvor erfolgten | |
tödlichen Unfall seiner Ehefrau die Einsamkeit der norwegischen Wälder und | |
will sich zur Jahrtausendwende allein volllaufen lassen, „um so tief zu | |
schlafen wie es geht, ohne tot zu sein“. Dazu der Nachbar Lars (Bjørn | |
Floberg), in dem Trond den ehemaligen Nachbarsjungen erkennt, dessen | |
Schicksal einst beide zusammenführte. Und Lars’ Mutter (Danica Curcic), | |
deren Erlebnis eigentlich zu entsetzlich ist, um weiterzuleben. | |
## Herausragende Kamera | |
Auf vier verschiedenen Zeitebenen, die auch im Roman ähnlich verwoben | |
werden, erzählt der Action- und Psychothrillerspezialist Molland diese | |
stille Geschichte von Leid und Leidenschaft – und von Bäumen. | |
Dass die permanent rauschenden Kiefern einen nicht kalt lassen, dass | |
„Pferde stehlen“ nicht ein großangelegter, kitschiger Liebesfilm geworden | |
ist, in dem Elemente und Sentimente aufs Flachste miteinander verknüpft | |
werden (und beim Sex der Blitz einschlägt), liegt vor allem an Mollands | |
Zurückhaltung und Respekt – und an der herausragenden Kamera. Sie stammt | |
von Thomas Hardmeier und Rasmus Videbæk und wurde bei der diesjährigen | |
Berlinale, in deren Wettbewerb „Pferde stehlen“ lief, mit einem Silbernen | |
Bären für eine „herausragende künstlerische Leistung“ ausgezeichnet. | |
Immer wieder entdeckt die Kamera Parallelen zwischen Mensch und Natur und | |
rückt sie unauffällig, aber unübersehbar ins Bild: Wenn die Helfer*innen | |
die Bäume von der Rinde befreien, ihnen quasi „die Haut abziehen“ – und | |
genau in diesem Augenblick eine neue Liebe dem jungen Trond unter dessen | |
pubertäre Haut fährt. Oder wenn Trond und sein Vater im Gewitter vor der | |
Hütte nackt Handstand machen und dabei ein bisschen den kahlen, geraden | |
Stämmen um sie herum ähneln. | |
## Das Unberechenbare von Flora und Fauna | |
Dass Trond einen Baumhaufen, der in der Mitte des Flusses feststeckt, wie | |
beim Mikado zu entwirren versucht, ist ebenfalls ein schönes Symbol für die | |
Kraft der Natur, mit der eigentlich nicht zu scherzen ist – denn jeder der | |
riesenhaften Mikadostäbe kann ein potenziell tödlicher Stamm sein. Die | |
(wilden) Pferde, die dem Film seinen nach tiefer Freundschaft klingenden | |
Namen gaben, stehen eh für das Unberechenbare von Flora und Fauna. | |
Die Natur spielt eine Hauptrolle in diesem Film, aber auf eine sehr | |
unhollywoodeske Weise: Sie bleibt sich schlichtweg grün. Sie ist nicht | |
schuld an Unfällen und Toden, an Lügen und Enttäuschungen. Dramatisiert | |
wird die Situation immer nur von den Menschen. Und Lars’ Vater, den der | |
famose norwegische Schauspieler Pål Sverre Hagen in einer Nebenrolle als | |
gebeugten, gespannten Mann interpretiert, wird irgendwann die Schwere eines | |
solchen Baumstamms zu fühlen bekommen. | |
Es ist glücklicherweise Stellan Skarsgårds angenehme und erkennbare Stimme, | |
die Molland aus dem Off einiges erklären lässt, erklären lassen muss – denn | |
eine Schwäche des poetischen Films liegt in den zu vielen Geschichten, | |
Zeiten und Personen der Handlung, die nur mühsam durch Skarsgårds | |
Off-Kommentar zusammengehalten werden. | |
## Seelische Entwicklung des Protagonisten | |
Einiges fällt unter den Tisch oder geht vielmehr den Bach hinunter – etwa | |
die politischen Verwicklungen von Tronds Vater, der Widerstandskämpfern | |
gegen die Nazis half, und einen dadurch entstandenen Verrat, der schnell | |
und fast einsilbig abgehandelt wird. Molland kleidet die politische | |
Komponente des Dramas nur in eine Sequenz und konzentriert sich dann wieder | |
auf die seelische Entwicklung seines Protagonisten, den er bis tief in die | |
Pubertät (und damit in den ersten Anzug) hinein begleitet. | |
In Pettersons Roman nimmt die deutsche Besatzung Norwegens eine weit | |
stärkere Rolle ein – der Hauptteil spielt 1948, drei Jahre nach Ende des | |
Zweiten Weltkriegs, in einer davon geprägten Gesellschaft, die auch im | |
entlegensten Teil Norwegens das Grauen erlebte und erlitt. Auch das | |
Figurenkarussell des Romans ist umfangreicher. | |
Tronds Familie, die im Film nur in wenigen Rückblenden erwähnte Ehefrau, | |
seine Kinder, die Molland fast ganz herausgekürzt hat, sind im Buch um | |
einiges präsenter. Sich dieses vielfach ausgezeichneten Mammutwerks | |
anzunehmen, ist komplex, und ein auf höchstens zwei Stunden begrenzter | |
Kinofilm muss Abstriche machen. | |
Zudem hat die Kinoadaption trotz der großen visuellen Kraft und der sogar | |
in dieser Form deutlich sichtbaren literarischen Qualität der Vorlage auch | |
etwas Klassisches, vielleicht gar Altmodisches. Denn Mollands Film bewegt | |
sich im wohlbekannten Narrativ des älteren Mannes, der über sein | |
vergangenes Leben nachdenkt, während sein jetziges still steht. Die | |
Beobachtung der französischen Autorin Annie Ernaux über die sich im Alter | |
ändernden Tempi passt auch zum Grundthema von „Pferde stehlen“: Früher, a… | |
junger Mensch, war man zu schnell für die Welt. Jetzt ist die Welt zu | |
schnell für einen. | |
20 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Sportlerdrama-Borg/McEnroe/!5453742 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
## TAGS | |
Literatur | |
Norwegen | |
Spielfilm | |
Lidokino | |
Golden Globes | |
Romanverfilmung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Filmfestspiele mit Monotonie und Lakonie: „Es ist schon wieder September“ | |
Große Gegensätze beim Wettbewerb von Venedig. Auf der einen Seite | |
ausgedehntes Leid, auf der anderen kurz, knapp und lakonisch: die | |
Unendlichkeit. | |
Protest bei den Golden Globes: Frauen in Schwarz | |
Bei den Golden Globes feierte sich die Filmbranche als Spiegel einer | |
Aufbruchsstimmung in der Ära Trump, Post-Weinstein und #Metoo. | |
Agententhriller „Verräter wie wir“: Hilfeschrei aus dem Land der Kälte | |
„Verräter wie wir“ ist ein Film nach einem Roman von John le Carré. Stell… | |
Skarsgård gibt einen verzweifelt ausstiegswilligen Mafioso. |