| # taz.de -- Die Wahrheit: Klassenkampf im Zufallsdampf | |
| > Die Schande von Berlin: Der neue Mietendeckel raubt sämtlichen Insassen | |
| > der Hauptstadt den Schlaf – besonders den bedauernswerten Vermietern. | |
| Bild: Mietendeckel ist überall – egal ob Hamburg oder Berlin | |
| Berlin war immer arm. Früher war die Stadt einmal arm und sexy, jetzt ist | |
| sie nur noch arm. | |
| „Ich mache mir Sorgen um diese Stadt“, sagt Kurt Hellmann, Streetworker in | |
| einem großen Obdachlosenheim. Wie so viele Sozialarbeiter, Armutsexperten | |
| und Suppenküchenmitarbeiter ist Hellmann sicher, dass der Mietendeckel eine | |
| Katastrophe sein wird. | |
| „Ich mache mir Sorgen um die ganz normalen Menschen“, erklärt Kurt. „Es | |
| geht nicht um Immobilienhaie oder Milliardäre, die Menschen ausbeuten, | |
| indem sie teure Wohnungen vermieten. Es geht um ganz normale Menschen, die | |
| bloß zufälligerweise Wohnungen besitzen.“ | |
| Die Experten sind sich einig – wenn der Mietendeckel kommt, müssen diese | |
| normalen Menschen um ihre Zukunft fürchten. Menschen wie Irma Pfaff: | |
| Seniorin, zierlich, nett, Fielmann-Brille, mit wenig schmeichelhafter | |
| Frisur. Würde man Irma Pfaff auf der Straße sehen, würde man denken: „Oh, | |
| sie sieht aus wie eine ganz normale deutsche Omi, die nicht besonders reich | |
| ist.“ Und Irma Pfaff ist nicht reich, sondern eine Frau, die | |
| zufälligerweise drei schäbige Wohnungen geerbt und sie ganz brav an arme | |
| Studenten vermietet hat. | |
| ## Inneres Elend unübersehbar | |
| Irma Pfaff seufzt wehmütig, nippt nachdenklich an ihrem ganz normalen | |
| deutschen Salbeitee: „Ich habe das alles nicht getan, um reich zu werden“, | |
| erklärt sie uns. Man sieht ihr das innere Elend deutlich an. „Ich habe es | |
| getan, um anderen zu helfen. Ich verfolge nur wohltätige Zwecke. Aber mit | |
| dem Mietendeckel bin ich so gut wie enteignet!“ Sie schüttelt den Kopf. | |
| „Ich wollte jungen Leuten ein Zuhause geben!“ Jetzt flüstert sie: „Aber … | |
| werde bestraft, bloß weil ich eine Frau bin, die drei Wohnungen besitzt!“ | |
| Doch es sind nicht nur normale ältere Damen, die betroffen sind. Auch | |
| junge, durchschnittlich verdienende Familienväter leiden schon jetzt unter | |
| dem Mietendeckel. Jens Barten, 32, Hipsterbrille, Hipsterbart, etwas zu | |
| dicker Hipsterhintern, ist auch betroffen – und zwar richtig! Er sieht aus, | |
| als ob ihn jemand überfahren hätte – müde, gedemütigt, erschüttert eben. | |
| Die schwarzen Augenringe, die lilafarbenen Stellen am Mund, wo er aus | |
| Nervosität alles weggekaut hat, sind Zeichen brutaler Sorge. | |
| „Ich habe zufälligerweise vier schäbige Wohnungen geerbt – zufälligerwei… | |
| weil … es war reiner Zufall, irgendeine reiche Verwandte ist gestorben, | |
| dann kam eines zum anderen … und schwupps, stand ich da, junger | |
| Familienvater und Besitzer von vier schäbigen Wohnungen. Ich musste Zeit, | |
| Energie, Geld und Liebe investieren, um diese Wohnungen wohntauglich zu | |
| machen. Und dann so was: Mietendeckel! Das ist einfach nur Klassenkampf, | |
| sage ich Ihnen!“ | |
| ## Klassenkampf mit Wohlstandsplauze | |
| Aber wie kann das Klassenkampf sein, wenn die Besitzer dieser schäbigen | |
| Wohnungen gar nicht wirklich reich sind und nur durch Zufall ans Vermieten | |
| gekommen sind? Darauf bekommen wir keine Antwort, dafür ist Jens Barten | |
| bereits zu sehr gedemütigt. Der alte Hipster mit der zufälligen | |
| Wohlstandsplauze starrt in die Ferne, seine Augen sind so leer wie seine | |
| Zukunft. | |
| Tania Weishaupt ist eine Alleinerziehende, die von Hartz IV lebt. Im Moment | |
| sucht sie eine Wohnung für sich und ihre Kinder. Gefunden hat sie bislang | |
| keine, niemand möchte einer Frau ohne Job, ohne Mann, aber mit Kindern eine | |
| Wohnung vermieten. Dabei ist der Mietendeckel, der so vielen normalen | |
| Menschen Schlaf und Zukunft raubt, für Loser … nein, für Frauen wie Tana | |
| und ihre Familien gedacht. Die Idee ist einfach: Die Menschen sollen sich | |
| eine Wohnung leisten können, auch wenn sie nicht viel Geld verdienen. Aber | |
| selbst Tania Weishaupt ist unterbegeistert. | |
| „Im Moment haben wir keine eigene Wohnung und leben immer noch zusammen mit | |
| meinem gewalttätigen Ex. Das macht echt keinen Spaß. Früher konnte ich gut | |
| schlafen, weil er meist so besoffen war, dass ich wusste, der wacht nicht | |
| auf bis Mittag. Aber seitdem ich vom Mietendeckel gehört habe, krieg ich | |
| kein Auge mehr zu. Bald werde ich wie Michael Jackson enden, sage ich | |
| Ihnen.“ Doch worüber macht sich Frau Weishaupt so viele Sorgen? „Was | |
| passiert mit mir und meinen Kindern, wenn ich mal zufällig eine schäbige | |
| Wohnung erbe? Wären wir dann auch betroffen? Wie stünde es dann um unsere | |
| Zukunft?“ | |
| Der Mietendeckel bleibt eine deprimierende Nachricht für eine arme Stadt | |
| wie Berlin. Egal ob Obdachlose, Alleinerziehende, Suppenkasper, Omis oder | |
| Familienväter – Berlin war noch nie so sehr einer Meinung: Der Mietendeckel | |
| ist keine Lösung! Denn wer will schon weniger Miete zahlen? Kein Mensch! | |
| Deshalb sollten alle zusammenhalten und den bedauernswerten Vermietern | |
| helfen, deren einziges Verbrechen es ist, zufälligerweise drei bis vier | |
| schäbige Wohnungen zu besitzen! Nur mit vereinten Kräften kann auch für | |
| diese bitterarmen Menschen alles ein bisschen ein… nein, erträglicher | |
| werden! | |
| 13 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Jacinta Nandi | |
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