# taz.de -- Die Wahrheit: Meine Eltern sehen überall tote Kinder | |
> Für Minderjährige ist die Welt ein gefährlicher Ort. Allerdings gibt es | |
> über die wirklichen Risiken sehr unterschiedliche Auffassungen. | |
Bild: Mietendeckel ist überall – egal ob Hamburg oder Berlin | |
Meine Eltern sehen überall tote Kinder. Eigentlich hätten sie in „The Sixth | |
Sense“ mitspielen müssen. Überall sehen sie tote Kinder und immer erzählen | |
sie davon. | |
„Die Nachbarin der Frau, die den Waschsalon besitzt, hat eine Kusine, die | |
ein Kind hatte. Ein gesundes Kind. Und dann entschied die Kusine eines | |
Tages, ihrem Kind eine Weintraube zu geben. Ich weiß nicht, warum. | |
Vielleicht dachte sie, dass Weintrauben ihm schmecken würden? Sie hat ihm | |
jedenfalls eine gegeben. Ein einziges Mal. Und danach nie wieder. Denn das | |
Kind ist sofort gestorben. Es war auf der Stelle tot.“ | |
Was diese Kinder umbringt, probieren sie immer zum ersten und letzten Mal | |
aus: Weintrauben essen, in Waschmaschinen klettern, Autotüren aufmachen, | |
auf Hochstühle klettern, Hunde streicheln, Halloween-Kostüme aus China | |
tragen, Schminke aus China oder vegan essen. | |
Die Frau aus dem Waschsalon hat viele Verwandte und die haben viele | |
Bekannte. Und diese Bekannten hatten einmal viele Kinder, aber die sind | |
alle tot. | |
Sie waren neugierig und tapfer, aber nun sind diese Kinder tot. Ich | |
übertreibe. Tatsächlich sind nicht alle Kinder der Bekannten der Verwandten | |
der Waschsalonfrau tot, manche sind nur gelähmt oder lernbehindert. Aber | |
meist ist der Tod die Pointe der Geschichte meiner Eltern, dann folgt ein | |
Seufzer der Zufriedenheit und anschließend die Moral: Wahrscheinlich würden | |
die Mütter der toten Kinder sich das jetzt noch mal anders überlegen, wenn | |
sie nur könnten. Es gibt aber auch Dinge, von denen meine Eltern einfach | |
nicht glauben wollen, dass sie ein Kind umbringen können. Vor allem glauben | |
sie nicht, dass sie mein Kind umbringen können. | |
„Muss das Baby wirklich in den Kindersitz?“, fragt meine Mama. „Kann er | |
nicht auf deinen Schoß?“ Meine Tante hat auch eine Idee: „Wir können das | |
Baby ja in den Kindersitz setzen, den Sitz aber einfach auf den Boden | |
stellen, oder?“ Ich schaue meine Eltern an und frage mich, wie ich meine | |
Kindheit überhaupt überlebt habe. Sonnencreme respektieren sie übrigens | |
auch nicht. Und dass Kleinkinder Zucker vermeiden sollen, halten sie für | |
eine Verschwörungstheorie. | |
„Möchte das Baby ein bisschen Schokopudding probieren?“, fragen sie. | |
„Denkst du, das könnte ihm schmecken? Würde er es genießen, diesen | |
Schokopudding zu essen?“ | |
„Was?“, frage ich entgeistert zurück. „Würde dem Baby Schokopudding | |
schmecken? Ja, sicher! Weil er voller Zucker und Schoko ist, was denkt ihr | |
denn?“ Ich gucke auf den Pudding und merke, dass er seit einer Woche | |
abgelaufen ist. „Ach“, sagen meine Eltern. „Das schreiben die Hersteller | |
bloß drauf, um die Leute zum Puddingkaufen zu zwingen. Niemand ist je | |
gestorben, weil er einen abgelaufenen Pudding gegessen hat!“ | |
Wenn meine Eltern das sagen, muss es stimmen. Wenn irgendein Kind von den | |
Bekannten der Verwandten der Waschsalonfrau daran gestorben wäre, hätten | |
sie mir das längst erzählt. | |
19 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Jacinta Nandi | |
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