| # taz.de -- Soziale Proteste in Chile: Es geht um alles | |
| > Vor allem junge Leute protestieren in Chile gegen soziale | |
| > Ungerechtigkeit. Die Älteren erinnert das Militär auf den Straßen an die | |
| > Diktatur. | |
| Bild: Santiago am Montagabend: Die Proteste bleiben nicht immer friedlich | |
| Santiago taz | Chile steht in Flammen. Rauchwolken schweben über der | |
| Hauptstadt Santiago, Barrikaden brennen, es riecht nach verbranntem Plastik | |
| und Tränengas. Trommeln, Trillerpfeifen und Kochtöpfe lärmen überall in der | |
| Stadt bei den sogenannten „cacerolazos“. Am Plaza Italia haben sich am | |
| Montag geschätzt Zehntausende Menschen versammelt, offizielle Zahlen gibt | |
| es nicht. „Chile despertó“ – Chile ist aufgewacht – singen sie aus vol… | |
| Hals. | |
| Besonders viele junge Menschen sind hier zusammengekommen. Sie sind es, die | |
| die Protestwelle angestoßen haben. Alles fing an wegen der [1][Erhöhung der | |
| Fahrpreise der U-Bahn] von 800 auf 830 Pesos, umgerechnet etwa vier | |
| Euro-Cent, Anfang Oktober. Schüler riefen zur „evasión“ auf, zum | |
| kollektiven Schwarzfahren. | |
| Innerhalb weniger Tage breiteten sich die Proteste auf alle | |
| U-Bahn-Stationen aus, anschließend auf die gesamte Stadt und dann aufs | |
| ganze Land. Um die Fahrpreise geht es schon lange nicht mehr. | |
| „Wir protestieren nicht nur wegen der U-Bahn. Die Leute haben die Nase voll | |
| von den niedrigen Löhnen und Renten, von den hohen Studiengebühren und | |
| Krankenversicherungen“, sagt die 25-jährige Fernanda. Sie ist mit ihrer | |
| Schwester und mit ihrer Mutter zum Plaza Italia gekommen. „Ich verstehe | |
| nicht, warum die Regierung die Militärs auf die Straße geschickt hat, wenn | |
| wir doch angeblich in einer Demokratie leben.“ | |
| ## Der Ausnahmezustand bedeutete den endgültigen Bruch | |
| In den Protesten entlädt sich die jahrzehntelang angestaute Wut der | |
| Bevölkerung. Das neoliberale Wirtschaftssystem, das seinen Ursprung in der | |
| Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) hat und anschließend von | |
| den demokratischen Regierungen verwaltet wurde, hat die Kluft zwischen Arm | |
| und Reich immer weiter vertieft. Strom, Wasser, Bildung, Gesundheits- und | |
| Rentensystem – alles ist privatisiert. | |
| Chile ist eines der Länder mit der höchsten sozialen Ungleichheit weltweit: | |
| Ein Prozent der Bevölkerung konzentriert fast ein Drittel des Reichtums, | |
| wie Zahlen der Cepal belegen. Die Hälfte der Bevölkerung Chiles verdient | |
| weniger als 400.000 Pesos im Monat, umgerechnet etwa 500 Euro. | |
| Der Großteil der Bevölkerung gibt also etwa zehn Prozent seines Monatslohns | |
| dafür aus, zur Arbeit und wieder nach Hause zu kommen. Die Mindestrente | |
| liegt umgerechnet zwischen 100 und 200 Euro. Viele Studenten müssen sich | |
| verschulden, um die Universität zu bezahlen. „Es geht nicht um 30 Pesos, | |
| sondern um 30 Jahre“, ist deshalb einer der Protestrufe. | |
| Als Präsident Piñera am Freitag [2][den Notstand ausrief] und das Militär | |
| losschickte, um die Proteste zu kontrollieren, kam es zum endgültigen Bruch | |
| zwischen den Demonstrierenden und der Regierung. Am Samstag folgte dann die | |
| Ausgangssperre. Diese Maßnahmen wurden in Chile das letzte Mal 1987 während | |
| der Militärdiktatur von Pinochet ergriffen. Mittlerweile hat die Regierung | |
| in fast allen Regionen des Landes den Notstand ausgerufen und | |
| Ausgangssperren verhängt. 9.500 Soldaten patrouillieren mit Panzerwagen auf | |
| den Straßen. | |
| ## Militärhubschrauber kreisen über der Menge | |
| „Für mich ist Piñera ein Diktator“, sagt die 58-jährige Claudia, die auch | |
| zum Plaza Italia gekommen ist. Sie trägt eine Brille und kurze Haare. „Ich | |
| habe die Diktatur miterlebt. Was hier passiert, ruft bei mir viele | |
| Erinnerungen wach. Deshalb bin ich hier, für die jungen Generationen, um | |
| ihnen ein besseres Land zu hinterlassen“, sagt sie. | |
| Die Proteste am Plaza Italia sind friedlich, man spürt einen starken | |
| Zusammenhalt und Aufbruchstimmung. Gleichzeitig aber auch eine starke | |
| Anspannung, denn immer wieder versuchen Polizei und Militär die | |
| Menschenmenge mit Tränengas und Wasserwerfern auseinanderzutreiben. | |
| Militärhubschrauber kreisen über der Menge. | |
| Menschenrechtsbeobachter in Chile sind besorgt wegen der Gewalt, mit der | |
| Polizisten und Militärs gegen die Demonstrierenden vorgehen. In den | |
| sozialen Netzwerken zirkulieren immer mehr Videos von Jugendlichen mit | |
| Schusswunden. Mehrere Menschen wurden von Panzerwagen überfahren. | |
| Laut Zahlen des Nationalen Instituts für Menschenrechte gibt es | |
| mittlerweile 13 Tote, 84 Verletzte durch Schusswaffen von Polizei und | |
| Militär und 1.420 Festnahmen. Bei über 100 der Festgenommenen handelt es | |
| sich um Minderjährige. Das Institut hat außerdem zwölf Anklagen wegen | |
| Folter registriert und zahlreiche Fälle von Frauen, die gezwungen wurden, | |
| sich auszuziehen und die sexuell belästigt wurden. | |
| ## „Kein Krieg, denn nur eine Seite ist bewaffnet“ | |
| Die Regierung von Sebastián Piñera versucht hingegen weiterhin, die | |
| Demonstrierenden als gefährliche Feinde darzustellen. Es handele sich um | |
| eine „kleine Gruppe Krimineller“, die sehr gut organisiert seien. Die | |
| chilenischen Fernsehsender helfen dabei, sie zeigen fast ausschließlich | |
| Bilder von Verwüstung, Bränden und Plünderungen von Supermärkten. Am | |
| Sonntag sagte Piñera im Fernsehen: „Wir befinden uns im Krieg gegen einen | |
| mächtigen Feind.“ | |
| Der 20-jährige Nicolás hat wie viele Demonstrierende eine Maske dabei, um | |
| sich vor dem Tränengas zu schützen. Er wurde bereits einmal festgenommen. | |
| „Die Soldaten haben ihre Waffen auf mich gerichtet. Ich habe gesehen, wie | |
| sie aus kurzer Distanz auf andere Jungen geschossen haben. Heute haben hier | |
| in der Nähe Menschenrechtsbeobachter den Leuten mit Schusswunden geholfen | |
| und die Militärs haben sie mit Tränengas angegriffen, ein paar Meter neben | |
| dem Krankenwagen“, berichtet er. „Als der Präsident gesagt hat, dass wir | |
| uns im Krieg befinden, hat er vergessen, dass hier bewaffnete Soldaten und | |
| Polizisten auf den Straßen sind, die wirklich glauben, dass sie im Krieg | |
| sind. Und es ist kein Krieg, denn nur eine Seite ist bewaffnet.“ | |
| Die chilenischen Medien berichten jedoch nicht von der Gewalt durch Polizei | |
| und Militär. Die sozialen Netzwerke haben sich deshalb zur wichtigsten | |
| Informationsquelle entwickelt, aber auch zum fruchtbaren Boden für Fake | |
| News. Immer wieder werden Dokumente geteilt, die vor Lebensmittelknappheit | |
| warnen und davor, dass Strom und Wasser abgestellt werden. Auch im | |
| Fernsehen werden Bilder von langen Schlangen an Supermärkten gezeigt, die | |
| an die 70er Jahre erinnern. | |
| Viele Demonstrierende meinen, dass dahinter eine Strategie der Regierung | |
| steckt. So auch die 35-jährige Carolina. „Warum verhindern die Polizisten | |
| nicht, dass Supermärkte geplündert werden? Sie wollen für Chaos sorgen. Sie | |
| wollen, dass die Leute Angst haben und gegeneinander kämpfen. Und dann | |
| sagen sie uns, dass wir Polizei und Militärs brauchen, die für Ordnung | |
| sorgen. Die Regierung sagt, dass wir die Kriminellen sind, aber die | |
| eigentlichen Kriminellen sind die Polizisten und die Militärs.“ | |
| ## „No tenemos miedo“ – wir haben keine Angst! | |
| Carolina kommt aus dem Stadtviertel Peñalolén und protestiert mit einem | |
| Plakat, auf dem steht: „No Más Doctrina del Shock“, Schluss mit der | |
| Schock-Doktrin. Der Begriff wurde von der Kanadierin Naomi Klein geprägt in | |
| ihrem Buch „Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des | |
| Katastrophen-Kapitalismus“. | |
| Darin erklärt sie am Beispiel Chiles unter Pinochet, wie | |
| Ausnahmesituationen, militärische Niederlagen oder Naturkatastrophen dazu | |
| genutzt werden, breite Privatisierungsmaßnahmen und den Abbau | |
| sozialstaatlicher Mechanismen durchzusetzen. | |
| Klein hat über ihren Twitter-Account Solidarität mit den Protestierenden in | |
| Chile geäußert. „Meine Mutter und meine Tante haben Angst und sagen mir, | |
| ich soll auf mich aufpassen. Aber wir sind nicht die selben von 1973. Wir | |
| müssen auf die Straße gehen und kämpfen“, sagt Carolina. | |
| „No Tenemos Miedo“ – Wir haben keine Angst – steht auf vielen Plakaten … | |
| Protestierenden am Plaza Italia. „Die Zeit ist gekommen, dass wir | |
| zusammenhalten und Bewusstsein schaffen für das System, das uns alle | |
| unterdrückt“, sagt die 23-jährige Damaris Reyes, die ebenfalls hier | |
| protestiert. „Wir bleiben auf der Straße und wir werden weitermachen, bis | |
| Piñera zurücktritt.“ | |
| ## „Die Regierung muss wissen: Wir vergessen nicht!“ | |
| Während die Regierung weiterhin kein Verständnis für die Forderungen der | |
| Bevölkerung zeigt, breiten sich die Proteste immer weiter aus. Sie haben | |
| das ganze Land und die gesamte Gesellschaft erfasst. Selbst in den | |
| Reichenvierteln wird protestiert. | |
| Die Gewerkschaften haben zum Nationalstreik aufgerufen, Schüler- und | |
| Studentenorganisationen wollen die Schulen und Universitäten besetzen. In | |
| immer mehr Stadtvierteln organisieren sich die Menschen in Versammlungen. | |
| Am Sonntag etwa trafen sich mehr als 30 soziale und politische | |
| Organisationen im ehemaligen Folterzentrum Londres 38, um ihre Position | |
| gegenüber den Protesten zu äußern und zum Streik aufzurufen. Die 65-jährige | |
| Beatriz Bataszew wurde während der Pinochet-Diktatur verhaftet und | |
| gefoltert und setzt sich jetzt in der Organisation Memoria de Rebeldías | |
| Feministas für feministische Erinnerungskultur ein. | |
| „Die Regierung muss wissen: Wir vergessen nicht, wir verzeihen nicht und | |
| wir versöhnen uns nicht. Die Militärs in den Straßen zeigen, dass ihre | |
| einzige Funktion ist, die Interessen des Kapitals zu verteidigen und ein | |
| System aufrecht zu erhalten, von dem einige wenige profitieren und viele | |
| ihr Leben und ihre Würde opfern müssen“, sagt sie. Das Treffen wird immer | |
| wieder unterbrochen von Tränengasbomben, die die Polizei draußen auf die | |
| Straße wirft, wo sich Menschen versammelt haben. | |
| 22 Oct 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophia Boddenberg | |
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