# taz.de -- Resümee der Frankfurter Buchmesse: Schafft Orte für Worte! | |
> Norwegens Lesekultur, Meinungs- und Pressefreiheit, Handke und jede Menge | |
> Preise: Die Frankfurter Buchmesse 2019 im Überblick. | |
Bild: Ist das Kunst – oder kann das weg? Pavillon des Ehrengast-Landes Norweg… | |
## Norwegische Begegnungsorte | |
„Velkome“ steht in großen Lettern am Eingang über dem Messeforum | |
geschrieben; dort, wo der [1][Ehrengast Norwegen] seinen Pavillon hat. Den | |
Begriff Literaturlandschaft nimmt das Gastland wörtlich: Die 23 | |
Büchertische mit den vielen norwegischen Titeln, die in der weitläufigen | |
Halle verstreut sind, wirken mit ihren geschwungenen Gestellen wie | |
Skulpturen, je nach Betrachterauge kann man Sinuskurven, Quader oder | |
Tierfiguren darin entdecken. Oder eben Gestelle. | |
Begrenzt ist der Raum an beiden Seiten von großen, flirrenden Spiegeln. | |
Großformatige, feingliedrige Schwarz-Weiß-Fotografien von Wäldern am | |
skandinavischen Polarkreis hängen an den Wänden, es sind Aufnahmen des | |
norwegischen Fotografen Per Berntsen, die hier zu sehen sind. „Metsä“ hei�… | |
die Serie, das ist das finnische Wort für Wald. Mischwälder also im | |
Hintergrund, und Mischkulturen auch auf den Büchertischen im Raum, wo von | |
Erika Fatland über Erik Fosnes Hansen bis Karl Ove Knausgård, vom | |
Munch-Bildband bis zur Kinder-Graphic-Novel alles ausliegt. | |
Die Lesekultur Norwegens folgt einem sehr einfachen Prinzip: Schafft | |
Leseorte, schafft Begegnungsorte! „In die Bibliothek in Oslo kann man zum | |
Beispiel auch noch spät abends gehen, wenn kein Personal mehr da ist“, | |
erzählt Margit Walsø, die den Gastlandauftritt des Landes managt, „es ist | |
ein öffentlicher Ort im besten Sinne.“ Sie berichtet auch, dass in Norwegen | |
in den ersten Schuljahren fast alles auf die Lesefähigkeit ausgerichtet | |
ist. | |
Kein Wunder, dass Norwegerinnen und Norweger im Schnitt 15,5 Bücher im Jahr | |
lesen, wie eine Studie gezeigt hat. 510 Titel haben die Norweger in | |
Frankfurt vorgestellt, die im Rahmen des Gastlandprogramms ins Deutsche | |
übersetzt wurden, 5 Millionen Euro hat das Land sich den Spaß in Frankfurt | |
kosten lassen. Takk, Norge! | |
## Meinungs- und Pressefreiheit | |
Eines der Schwerpunktthemen in Frankfurt war Meinungs- und Pressefreiheit. | |
Norwegen liegt seit Jahren in Pressefreiheit-Rankings und | |
Demokratie-Indizes vorn. Warum Deutschland keine Topplätze belegt? Der | |
[2][Fall Ragıp Zarakolu] könnte symptomatisch dafür sein. Der türkische | |
Verleger und Menschenrechtler konnte zur Buchmesse nicht nach Deutschland | |
einreisen. Gegen Zarakolu laufen in seiner Heimat Verfahren, er lebt im | |
schwedischen Exil. Das Bundeskriminalamt konnte ihm – im Gegensatz zum | |
Vorjahr – nicht garantieren, dass er nicht festgenommen werde. Zum Schämen, | |
die Kooperation mit dem Despotenregime in Ankara. | |
Einer, der dem Despoten entkommen ist, ist der Journalist Deniz Yücel, der | |
sein Buch über die Zeit in türkischer Haft („Agentterrorist“) vorstellte | |
und auf etlichen Podien saß. Er attackierte die deutschen | |
Wirtschaftskonzerne, die während seiner Haftzeit auf Anfrage seines | |
Unterstützerkreises nichts getan hätten, um auf seine Freilassung | |
hinzuwirken – mit Ausnahme der Deutschen Bank. „Die Unternehmen hätten | |
ihren großen Einfluss geltend machen und Druck auf die türkische Regierung | |
ausüben können“, sagte Yücel. Getan hätten sie: nichts. | |
Das Podium war im Übrigen von der Allianz Kulturstiftung organisiert – | |
Yücel merkte an, dass sich auch die Allianz in vornehmes Schweigen gehüllt | |
habe, als sie gefragt worden sei. Der Hauptgeschäftsführer des | |
Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Alexander Skipis, hob hervor, dass | |
„Menschenrechte immer ausgeblendet werden, wenn es um wirtschaftliches | |
Interesse geht“. Die Unternehmen sollten vielleicht mal darüber nachdenken, | |
so Skipis, dass „ihr freies Unternehmertum auf der Freiheit unserer | |
Gesellschaft basiert“. | |
Wie Norwegen die Freiheit des Wortes verteidigt, konnte man von der | |
norwegische Außenministerin Ine Eriksen Søreide (von der konservativen | |
Høyre-Partei) im Gastlandpavillon in einem kurzen Gespräch erfahren. „Es | |
gibt bei uns die Tradition einer offenen und inklusiven Debattenkultur“, | |
sagte sie. Dass etwa Autorin Erika Fatland die norwegische | |
Ministerpräsidentin Erna Solberg bei der Eröffnungsfeier scharf dafür | |
kritisiert hatte, wie diese eine politische Theaterproduktion öffentlich | |
kommentiert hat, sei ein Beispiel dafür. „In vielen anderen Ländern würde | |
so etwas nicht passieren, für uns ist das normal. Die Ministerpräsidentin | |
kann ja jetzt zurückschießen.“ Mit Worten, natürlich. | |
## Handke | |
Ein Problem in der [3][Debatte um den Literaturnobelpreis für Peter | |
Handke], die die gesamte Messe überlagerte, war es, dass in Frankfurt zwar | |
eine Buchmesse stattfand, bei dieser aber eher wenig gelesen wird, und | |
schon gar nicht intensiv. Eher spricht man darüber, was man gelesen hat | |
oder glaubt an Gelesenem zu erinnern, was man gehört hat oder glaubt an | |
Gehörtem zu erinnern. Spätestens jetzt wäre es aber eher an der Zeit für | |
tiefe germanistische Analysen als für wildes Sampling aus Handke-O-Tönen | |
und Handke-Zitaten, die der jeweiligen These dienen. | |
Ein sehr interessanter Punkt dabei dürfte die Sprachkritik Handkes sein, | |
die sich durch sein Werk zieht. „Handke ist ein radikal unpolitischer | |
Autor, was sich am deutlichsten am Motiv der Sprachkritik belegen lässt“, | |
verteidigte Henrik Petersen, externes Mitglied des Nobelpreiskomitee für | |
Literatur, die Entscheidung für den österreichischen Autor im Spiegel, und | |
weiter: „Handkes Werk prägt eine ideologiekritische, ethisch fragende | |
Haltung, ein politisches Programm wird dabei nicht propagiert.“ | |
Zu prüfen, ob letztere Behauptung wirklich auch für seine literarischen | |
Serbien-Texte haltbar ist, sollte ein Bestandteil der Analyse sein. Und | |
während der frühe Handke Sprach- und Erzählkritik ja durchaus im | |
aufklärerischen Sinne nutzte, um die Art und Weise, wie Geschichten gemacht | |
werden, umzubürsten (man denke an den Einstieg von „Wunschloses Unglück“ | |
mit der Zeitungsmeldung zum Tod seiner Mutter oder die sprachlichen | |
Dekonstruktionen in „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“), ist man | |
sich beim späten Handke (den ich aber nicht gut genug kenne) nicht so | |
sicher. | |
Da gilt es zu fragen, ob seine Sprachkritik nicht in Teilen in einer | |
Alles-Lüge-Haltung aufgeht, die uns an den heutigen Populismus erinnert. | |
Wenn man die Satzung des Nobelpreises ernst nimmt (ausgezeichnet wird, wer | |
„das Vorzüglichste in idealer Richtung geschaffen“ hat), dürfte es aber | |
nach allem, was man weiß, schwer sein, seine Serbien-Texte mit diesem | |
Passus in Einklang zu bringen. | |
## Preise | |
Von Handke ist man schnell bei Wim Wenders, für dessen „Der Himmel über | |
Berlin“ Handke das Drehbuch schrieb. Wim Wenders war auch der Laudator bei | |
der Vergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am Sonntag. | |
Geehrt wurde der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado, über den | |
Wenders den Film „Das Salz der Erde“ (2014) gedreht hat. Zu Salgado ist | |
schon sehr viel gesagt worden; die religiös inszenierten Bilder von Mensch | |
und Natur müssen bei aufgeklärten Geistern nicht unbedingt zu | |
Begeisterungsstürmen führen. | |
Wim Wenders erinnerte in seiner Rede zum einen daran, dass der dem Preis | |
eingeschriebene „Frieden“ heute „zur Worthülse verkommen“ sei, und er | |
würdigte Salgado für seinen empathischen fotografischen Blick. „Das | |
Fotografieren des Sebastião Salgado ist nie nur Schauen, sondern immer auch | |
Teilen und Mit-Teilen, hat das Zuhören, Mitgehen, Zeugnis geben, | |
Sich-Einlassen immer als seinen Impetus enthalten“, sagte Wenders. „Nur | |
der, (…) der sich einlässt, der zuhört, der Zeit verbringt, der ist | |
menschen-freundlich, fried-fertig, friedens-fähig.“ | |
Der nicht existierende Preis für den besten Messestand wird hiermit an Kein | |
& Aber vergeben. Die Züricher hatten eine begehbare Box mit einer | |
audiovisuellen Installation aufgebaut, in der Bücher wie Elif Shafaks | |
„Unerhörte Stimmen“ oder Saskia Lukas’ „Tag für Tag“ als | |
3D-Graphic-Novel-Video illustriert wurden. Sehr kurzweilig. | |
Eine tolle Atmosphäre herrschte bei der Vergabe des Deutschen | |
Verlagspreises an unabhängige Verlage, den Kulturstaatsministerin Monika | |
Grütters am Freitag erstmals verlieh. Insgesamt wurden 67 Verlage | |
ausgezeichnet, davon erhielten 60 Betriebe 15.000 Euro Förderung. | |
Für die drei Hauptpreise hätte man unterschiedlichere Verlage kaum | |
auswählen können: Der Hädecke Verlag ist ein seit 100 Jahren existierendes | |
baden-württembergisches Familienunternehmen, das Bücher zu Ernährung und | |
Esskultur veröffentlicht; der Leipziger Verlag Specter Books macht | |
aufwendige Kunst- und Grafikbücher, und der Berliner Verlag kookbooks | |
veröffentlicht seit mehr als 15 Jahren schicke Lyrikbändchen. Sie alle | |
erhalten 60.000 Euro, und allen Preisträgerinnen und Preisträgern war ins | |
Gesicht eingeschrieben, wie sehr sie sich über diese Anerkennung freuten. | |
20 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Gastland-Norwegen-auf-der-Buchmesse/!5632428 | |
[2] https://gazete.taz.de/article/?article=!5634600&searchterm=Rag%C4%B1p+Z… | |
[3] /Kritik-an-Nobelpreis-fuer-Peter-Handke/!5631663 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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