| # taz.de -- Ehrung zur Frankfurter Buchmesse: Nachbelichtete Himmel | |
| > Sebastião Salgado ist der vielleicht einflussreichste Fotograf. Nun wird | |
| > ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. | |
| Bild: Zwischen Aktivismus und Fotografie: Sebastião Salgado | |
| Man hat sich also gequält, mehr als 150 Seiten lang, das Buch ist bald zu | |
| Ende, da kommt sie dann doch noch endlich, die große Enthüllung: Die Glatze | |
| ist gar nicht echt. Das markante Profil, mit dem Sebastião Salgado zur | |
| Marke wurde, hat keine biologischen, nicht einmal ästhetische, sondern bloß | |
| profane praktische Gründe. Der mittlerweile 75-jährige Fotograf verliert | |
| nicht etwa seine Haare, sondern rasiert sich schon seit 1994 den Schädel. | |
| Der Grund: „Zu der Zeit, als ich lange Haare und Bart trug, hatte ich | |
| unterwegs zu viele Parasiten aufgesammelt.“ | |
| Sich Ungeziefer einzufangen, dazu hatte Sebastião Salgado tatsächlich | |
| ausreichend Gelegenheit. Berühmt geworden ist der Brasilianer mit | |
| Fotoreportagen aus den entferntesten Ecken des Planeten und den elendsten | |
| Winkeln der menschlichen Existenz. | |
| Diese Bilder sind preisgekrönt, aber doch umstritten: Kritisiert wird die | |
| Ästhetisierung des Leids, gelobt ihre politische und gesellschaftliche | |
| Wirkkraft. Tatsächlich kann man Salgado sehen als den bedeutendsten | |
| Fotografen aller Zeiten. Denn zwar mag sein Einfluss auf die Fotografie | |
| beschränkt sein, seine Wirkung auf den Zeitgeist aber ist enorm. | |
| Kommende Woche bekommt Salgado den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
| verliehen, als zweiter Nichtliterat nach Anselm Kiefer. Es war vor allem | |
| eine politische Entscheidung, denn Salgado hat die Bilder gemacht, die jene | |
| vor Augen haben, die jeden Freitag für die Zukunft demonstrieren. Salgado | |
| ist, wenn man so will, die Greta Thunberg der Fotografie, er hat gezeigt, | |
| was der Mensch der Erde antut – unmissverständlich und drastisch, | |
| sicherlich pathetisch und populistisch, aber eben auch mit sehr großer | |
| Reichweite. In Salgados Werk verwischen die Grenzen zwischen Kunst und | |
| Politik, zwischen Leben und Aktivismus. | |
| ## Aktivist oder Fotograf | |
| Da interessiert es natürlich, was dieser Mann zu sagen hat. In „De ma terre | |
| à la Terre“ erzählte Salgado, aufgeschrieben von der französischen | |
| Journalistin Isabelle Francq, schon 2013 aus seinem Leben. Ein Leben, das | |
| nicht ganz einfach zu kategorisieren ist. Denn, was ist Sebastião Salgado | |
| eigentlich? „Manche behaupten, ich sei Fotojournalist. Das ist nicht wahr. | |
| Andere, ich sei Aktivist. Das ist auch nicht wahr. Wahr ist nur, dass die | |
| Fotografie mein Leben ist.“ | |
| Nun erscheint das Buch unter dem Titel „Mein Land, meine Erde“ erstmals auf | |
| Deutsch. Eine Autobiografie ist es nicht, obwohl es sich chronologisch am | |
| Leben des Fotografen entlanghangelt. Eher schon ein Pamphlet, aber auch | |
| kein richtiges, denn sein Urheber hat zwar ein Anliegen, aber kein | |
| Programm. Sondern nur simple Wahrheiten im Angebot: Die Lösung der | |
| Probleme, die der Mensch geschaffen hat, sei es, so Salgado kurz bevor sich | |
| die Buchdeckel schließen, „sich wieder der Natur zuzuwenden“. | |
| Die Eckdaten seines Lebens sind aber natürlich auch im Buch zu finden. 1944 | |
| wird Salgado geboren, er wächst auf der Farm seiner Familie auf, studiert | |
| Wirtschaftswissenschaften, engagiert sich politisch und muss deshalb mit | |
| seiner Frau Brasilien verlassen, arbeitet in der Entwicklungshilfe. In | |
| Diensten der Internationalen Kaffeeorganisation reist er nach Afrika, | |
| beginnt dort zu fotografieren. Die Technik bringt er sich selbst bei und | |
| wirft 1973 seinen gut bezahlten Job bei der Weltbank hin, um nur noch | |
| Fotograf zu sein. | |
| ## Ein Autodidakt | |
| Der Autodidakt arbeitet für die renommiertesten Fotoagenturen der Welt, für | |
| Sygma, Gamma und Magnum, er ist dabei beim Attentat auf Ronald Reagan. | |
| Spätestens mit Fotos aus einer Goldmine in Brasilien, die schon in | |
| „Koyaanisqatsi“ einen großen Auftritt hatte, wird er weltberühmt. Die | |
| apokalyptischen Bilder von den Arbeitern, die ameisengleich den Abraum über | |
| wacklige Leitern aus einem gewaltigen Erdschlund herausschaffen, erinnern | |
| an die Brueghel’schen Höllendarstellungen – und befördern Salgado zum | |
| Fotografen-Star. Vier Seiten am Ende des Buchs füllen die Preise, | |
| Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden. | |
| Salgado reist um die Welt, er fotografiert im Niger und in Ecuador, Mexiko | |
| und Mali, Sibirien und Sumatra. Mehr als 120 Länder hat er schon besucht, | |
| erzählt er im Buch. Sein Prinzip ist stets dasselbe: Er bleibt lange vor | |
| Ort, sucht die Nähe zu seinen Protagonisten, baut über Wochen Vertrauen | |
| auf, bevor er schließlich fotografiert. | |
| Immer wieder fotografiert er in Afrika, mehrere Monate begleitet er mit | |
| seiner Kamera den Völkermord in Ruanda. Es wird ein Wendepunkt in seinem | |
| Leben: Salgado wird krank, der leidenschaftliche Humanist glaubt nicht mehr | |
| an das Gute im Menschen und zieht sich zurück. Er und seine Frau beginnen | |
| das Land seiner Familie in Brasilien wieder aufzuforsten, sie lassen | |
| Millionen Bäume pflanzen. Anschließend fotografiert er für „Genesis“ nah… | |
| ein Jahrzehnt lang die unberührte Natur und ursprüngliches Leben. | |
| Wim Wenders dreht einen Dokumentarfilm über ihn. „Das Salz der Erde“ macht | |
| Salgado noch populärer. Auch weil der Fotograf in dem Film die Geschichten | |
| hinter seinen berühmten Bildern erzählt, weil er sich als einfühlsamer, | |
| unterhaltsamer Erzähler entpuppt. Von dieser Eigenschaft ist im Buch leider | |
| nichts zu spüren. | |
| ## Anders als seine Figuren auf den Fotos | |
| Dem fehlen einerseits kohärente Struktur und Spannungsbogen, andererseits | |
| ein einnehmender Plauderton. Ansatzlos und ohne logischen Zusammenhang | |
| wechselt Salgado von einem Exkurs, warum er als Brasilianer nie Probleme | |
| hatte, in China oder der Sowjetunion arbeiten zu dürfen, in einen | |
| Schlachthof in Dakota, in dem er tagelang kotzen musste. Und die wenigen | |
| Protagonisten, denen Salgado neben sich Raum gibt, bleiben – im Gegensatz | |
| zu den Figuren auf seinen Fotos – fahl, ja leblos. | |
| Schuld daran ist auch die formelhafte Sprache. Immer wieder ist Salgado | |
| „zutiefst besorgt“ oder „tief erschüttert“, „bewegt“ oder „depri… | |
| erlebt „unvergessliche Momente“ und „tiefe Freuden“. Von den Schüssen … | |
| Reagan erzählt er so aufregend wie von einem weiteren Tag im Büro: „Alle | |
| meine Fotos wurden verkauft!“ Sogar wenn Saldago das Grauen in Ruanda | |
| beschreibt, erscheint er seltsam unberührt: „Inmitten dieser Katastrophe | |
| machte ich mich sogleich an die Arbeit.“ | |
| Ohne selbstironischen Sicherheitsabstand verkommt der ernste, humorlose | |
| Tonfall schnell zum grimmigen Brummen einer andauernden Selbstüberhöhung. | |
| Lebendig wird der Mensch Salgado nur manchmal. Zu selten darf man | |
| teilnehmen an einem Leben, das eben nicht nur aus lebensbedrohlichen | |
| Reportagereisen, weltpolitischen Umwälzungen und existentiellen Krisen | |
| bestand, sondern auch aus profanen, menschlichen Details. | |
| ## Mit 600 Filmen reisen | |
| Denn auch ein Fotografenstar ist erst einmal ein Fotograf, der sich | |
| sentimental jahrelang gegen die Digitalisierung der Fotografie wehrt. Der | |
| lieber mit 600 Filmen reiste, die sich zu stolzen 28 Kilo summierten, die | |
| aber im Handgepäck transportiert werden mussten, weil sie nicht | |
| durchleuchtet werden durften, und der deshalb oft Flüge verpasste. Solche | |
| Geschichten aus dem Berufsalltag gibt es leider viel zu selten. | |
| Nahezu ebenso standhaft ignoriert Salgado die Kritik, die es immer auch an | |
| ihm gab. Seine Fotos seien monumentaler Kitsch, sie würden das Leid | |
| überhöhen und das Elend ästhetisieren. Tatsächlich wendet Salgado gern ein | |
| paar simple fotografische Tricks an, um die Dramatik seiner stets in | |
| effektheischendem Schwarz-Weiß fotografierten Bilder zu erhöhen. | |
| Wenn sich im nachbelichteten Himmel die Wolken türmen, dann erscheint der | |
| geschundene Mensch im Vordergrund natürlich noch niedergedrückter, wenn die | |
| Kontraste im Labor besonders hart herausgearbeitet werden, die Szenerie | |
| umso theatralischer. Doch die Einwände, seine Fotografie sei voyeuristisch, | |
| wischt er in zwei dürren Sätzen vom Tisch: „Und dass mir nur einer mit | |
| Voyeurismus kommt! Die Voyeure sind die Politiker, die es haben geschehen | |
| lassen, und die Militärs, die die Repression in Ruanda ermöglicht haben.“ | |
| Dabei ist diese Kritik natürlich berechtigt. Salgado hat viel erreicht mit | |
| seinen Bildern, er hat Bewusstsein geschaffen, auf Probleme aufmerksam | |
| gemacht, vielleicht hat er die Welt sogar ein klein wenig besser gemacht. | |
| Aber so wie er das entbehrungsreiche Leben der Nenzen in Sibirien oder der | |
| Nomaden in der äthiopischen Hochebene als hart, aber vermeintlich | |
| ursprünglich in seinen Reiseberichten romantisiert, so überhöht er diese | |
| kargen Existenzen auch in seinen Bildern zur allein seligmachenden Symbiose | |
| zwischen Mensch und Natur. | |
| ## Die Welt verändern | |
| Denn schlussendlich ist er eben doch vor allem ein Aktivist, der mit seinen | |
| Fotografien die Welt verändern will: „Bilder sind ein Medium, das den | |
| Betrachter dafür empfänglich macht, dass wir alle dazu fähig sind, das | |
| Schicksal der Menschheit zu beeinflussen.“ | |
| Fotos, alle Fotos und erst recht die von Salgado, zeigen immer mehr als nur | |
| das, was ist – erst recht, wenn der Fotograf eine Agenda hat und in der | |
| Dunkelkammer fröhlich abwedelt. Da kann man sich schon mal fragen: Was ist | |
| Realität? Wo endet die Reportage? Wo beginnt die Kunst? Was ist Wahrheit, | |
| was wahrhaftig? Und: Rechtfertigt der gute Zweck die Manipulation der | |
| Wirklichkeit? Nur einer, Salgado selbst, das legt die Lektüre von „Mein | |
| Land, meine Erde“ nahe, will sich diese Fragen nicht stellen. | |
| Deshalb hätten Salgado, seine Ghostwriterin und auch seine Fans, die auf | |
| dieses Buch gewartet haben, wohl auf den einzigen echten Salgado-Experten | |
| hören sollen – auf Salgado selbst. „Die Fotografie ist meine Sprache“, | |
| erzählt er. „In welcher Situation auch immer – der Fotograf hat den Mund zu | |
| halten. Er ist dazu da, zu sehen und zu fotografieren.“ Ja, hätte er sich | |
| nur daran gehalten. Denn die Geschichten, die Sebastião Salgado zu erzählen | |
| hat, die erzählen bereits seine Bilder. | |
| 14 Oct 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Winkler | |
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