# taz.de -- Kalender des Künstlers Thomas Demand: Einen Tag pralle Blüte | |
> Jeden Tag Blumen bringt der Abreißkalender von Thomas Demand. Er zeigt, | |
> dass das Pflanzenmotiv nicht abgedroschen ist und politisch sein kann. | |
Bild: Löchrige Schönheit: Der 2020-Kalender von Thomas Demand | |
Heute genügt der Blick auf das Display eines Smartphones, um zu prüfen, | |
welchen Tag oder welche Stunde es geschlagen hat. Die übrige Agenda | |
organisiert eine digitale Kalender-App. Die Anzeige des Datums durch den | |
Blick auf einen Wand- oder Tischkalender zu erkunden dürfte folglich als | |
anachronistisch gelten. | |
Aber das Geschäft mit gedruckten Kalendern lebt zwischen den Jahren allen | |
Unkenrufen zum Trotz regelmäßig wieder auf. Neben dem klassischen | |
Abreißkalender erfreut sich auch der Bildkalender noch immer großer | |
Beliebtheit. | |
Die nobelste Variante unter den Bildkalendern stellt der Kunstkalender dar. | |
Er präsentiert in der Regel in zwölf Blättern einen Überblick über eine | |
Epoche, Stilrichtung oder ein künstlerisches Werk. Im letzteren Fall | |
spricht man von einem Künstlerkalender. | |
Der aber wurde nicht, wie man vermuten könnte, von einem Künstler oder | |
einer Künstlerin gestaltet, sondern ist schlicht monografisch angelegt. | |
Warum aber haben Künstler, die sich dem Buch, dem Plakat oder der | |
[1][Postkarte] widmen, den Kalender als Medium weitgehend links liegen | |
lassen? Wieso gibt es keine oder nur äußerst wenige originäre | |
Künstlerkalender? | |
Jetzt ist Thomas Demand in diese Bresche gesprungen. Unter dem Titel „Daily | |
Flower Report“ hat er gemeinsam mit der vielfach preisgekrönten Amsterdamer | |
Typografin Irma Boom einen Wandkalender gestaltet, der seinesgleichen | |
sucht. | |
## Übung in Augenmerk und Achtsamkeit | |
Thema des 732 Seiten umfassenden Abreißkalenders im DIN-A4-Format sind | |
fotografische Aufnahmen von Blumen und Blüten, die dem seit Jahren in Los | |
Angeles lebenden Künstler bei Spaziergängen begegnet sind. Die hohe | |
Seitenzahl setzt sich aus zweimal 366 (das Jahr 2020 ist ein Schaltjahr) | |
zusammen. Jede Seite ist beidseitig bedruckt. | |
Nach der Devise „Jeden Tag ein Bild“ hat sich Demand den Pflanzen am | |
Wegesrand, demnach vorwiegend in Nachbars Garten zugewandt. Auf diese Weise | |
ist seit 2017 eine prachtvolle Blütenlese oder, lateinisch, ein Florilegium | |
entstanden, das fortlaufend zunächst im Onlinemagazin „kvadrat interwoven“ | |
publiziert worden ist. Da es in Kalifornien keinen typischen | |
Jahreszeitenwechsel gibt, steht dort ständig irgendeine Staude, ein Strauch | |
oder Baum in Blüte. | |
Man muss sich also nicht sonderlich bemühen, Tag für Tag und übers Jahr | |
auffällige Pflanzen zu entdecken. Und Demand ist ein meisterlicher | |
Beobachter. Dass ihn das scheinbar abgedroschene Motiv der Blüte gepackt | |
hat, mag allerdings verwundern. In seinen Großformaten befasst er sich | |
vorwiegend mit öffentlichen Angelegenheiten, das heißt sozialen und | |
politischen Belangen. | |
Daher wird man Blumen, Blätter und Blüten als Motive bei Demand bestenfalls | |
als Beiwerk erwarten. Allerdings hat bereits die 2008 begonnene Serie der | |
„Dailies“ ihren Ausgangspunkt in Alltagsbeobachtungen gefunden – | |
unbedeutende, aber augenfällige Dinge, die im Handumdrehen fotografiert und | |
dann im Studio aus Papier, Karton und Pappe en détail nachgebaut und | |
anschließend zurück in ein farbintensives fotografisches Tableau höherer | |
Ordnung verwandelt werden. | |
Eine Übung in Augenmerk und [2][Achtsamkeit] und fast ein Manöver in Sachen | |
Naturandacht, wie sie vor allem die Lyrik des 18. Jahrhunderts | |
charakterisiert. Die Natur mit der Kunst zu verschwistern, lautete damals | |
das poetische Konzept. | |
## Schon „Blumenbrueghel“ wusste um die Schönheit der Natur | |
Eine solche „Verschwesterung“ scheint es zu sein, die auch Demand | |
interessiert. Denn er weiß selbstverständlich, wie eng am Kitsch die | |
Farbaufnahme einer Blüte rangiert und wie sehr Blumenbild-Kalender | |
abgestanden wirken können. Andererseits aber kann auch den abgehärtetsten | |
Zeitgenossen die atemberaubend kreative Vielfalt der „Natur“ hin und wieder | |
noch bestechen. | |
Und auch der Kalender selbst, der den Charakter eines Künstlerbuches | |
besitzt, kann nach Konzept und Ausstattung als „schön“ bezeichnet werden. | |
Nimmt man den ca. 6 Zentimeter starken Buchblock in die Hand und blättert | |
ihn wie ein Daumenkino durch, so durchstreift man ein exquisit-exotisches | |
floristisches Panorama. | |
Im Tagesrhythmus werden auf den jeweils zwei Seiten eines Blattes insgesamt | |
732 Blüten in üppiger Farbenpracht gezeigt. Den unteren Abschnitt der | |
Blätter bildet das Kalendarium mit dem Tagesdatum. Die Fotografien sind | |
ohne Rand in Dreiviertelseiten-Größe reproduziert. Sämtliche Blätter sind | |
von rund vierzig variiert angeordneten Stanzlöchern in Konfettigröße | |
perforiert. | |
Durch diese Leerstellen hindurch kommt jeweils das darunterliegende Blatt | |
zum Vorschein und mischt sich in die Bildwirkung der vorgeschalteten | |
Darstellung ein. Hier und da ergibt sich der Eindruck, es handele sich bei | |
diesen Medaillons um helle oder dunkle Früchte am gezeigten Strauch. Oder | |
nüchterner, um Opfer eines Büro-Lochers. Oder um Parasitenbefall. | |
Die Perforierung lässt die Blätter „atmen“, durchlüftet sie und formt sie | |
zu nahezu plastischen Objekten um. Zugleich entstehen | |
Pflanzenhybrid-Ansichten, welche die Abbilder der Natur in eine Kunstform | |
überführen. | |
Da jedes Bild und Blatt (!) dem Gesetz des Kalenders zufolge nur für einen | |
Tag sichtbar ist, handelt es sich um Ephemera. Auch Pflanzen, die ihre | |
Blüte just für einen Tag zeigen, sind botanisch „ephemer“. So hat auch | |
jedes Kalenderblatt seine strikt regulierte Lebensdauer im Rahmen dieser | |
sich selbst verschlingenden Zeitmaschine, die, nachdem man sie an einen | |
kräftigen Nagel gehängt hat, alle 24 Stunden unerbittlich „Abreißen!“ ru… | |
bis am Ende nur ein Gerippe übrig ist. | |
Wie aber rechtfertigt man einen kunterbunten Blütenkalender, wenn heute, | |
mit Brecht gefragt, „ein Gespräch über Bäume fast (wieder) ein Verbrechen | |
ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“? Zum einen | |
durch den Hinweis darauf, dass das „Blumenstück“ in der bildenden Kunst | |
eine Tradition besitzt, die bis in die Zeit um 1600 zurückreicht. | |
Es stellt einen Sonderfall des Stilllebens dar, ein Fach, in welchem Jan | |
Brueghel der Ältere, genannt Blumenbrueghel, ein großer Meister war. An | |
einen seiner Gönner schrieb er am 14. April 1606, er habe für ihn „ein | |
bestimmtes Bukett mit allerlei verschiedenen Blumen begonnen, die gut | |
gelungen sind: sowohl wegen ihrer Natürlichkeit als auch wegen ihrer | |
Schönheit und der Seltenheit verschiedener Blumen, die hier unbekannt sind | |
und noch nie gesehen wurden“. | |
## Mao, Hippies, Helmut Kohl | |
Die Natur als Vorbild zu wählen und sie in Sachen Schönheit zugleich noch | |
zu überbieten war neben manchem Sinnbildlichen, darunter die Idee der | |
Vergänglichkeit, ein wichtiger Aspekt, der diesen Wettstreit bestimmte. So | |
könnte ein kunsthistorischer Rekurs beginnen, der über Rubens und Manet bis | |
zu Rhoades, Fischli/Weiss, Simon, Rehberger oder Hito Steyerl und damit bis | |
in die Gegenwart verlängert werden könnte. | |
Es gibt noch einen anderen, einen politischen Umweg, der die Blüte als | |
künstlerischen Gegenstand legitimieren kann. Und zwar die Idee eines | |
Paradieses auf Erden, das in sehr unterschiedlichen politischen Kontexten | |
bemüht wurde: „Lasst hundert Blumen blühen“, hieß es bei Mao Zedong im | |
China der 1950er Jahre. | |
Bei den Hippies sprach man später von „Flower Power“, „blühende | |
Landschaften“ versprach Helmut Kohl. In allen Exempeln war mit der | |
Blumenmetapher ein politischer Gedanke verbunden. Bei Demand geht es um die | |
politische Schönheit der Natur, die bis heute die bildende Kunst unter | |
Druck setzt, indem sie in ihrer fortwährenden „Klagrede“ verlangt, endlich | |
die Maßstäbe unserer zwanghaft überbordenden Ansprüche zu überprüfen. | |
So beeindruckend das Demand’sche Diarium für sich genommen bereits ist, so | |
wenig entlässt es uns aus der zitierten Verantwortung. Dies beides zugleich | |
im Blick zu haben kennzeichnet den Kalender und zeichnet ihn aus. Jeden Tag | |
neu. | |
12 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Michael Diers | |
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